Am Kaffeehaustisch mit Hermann Bahr und Peter Altenberg

Dirk Liesemer besucht die Boheme im „Café Größenwahn“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bücher zur Boheme im deutschen Sprachraum füllen schon seit längerem ganze Bibliotheken. Nun hat Dirk Liesemer ein weiteres hinzugefügt. Es richtet seinen Fokus auf drei einschlägige Szene-Cafés und beobachtet die „schillernde[n] oder berüchtigte[n] Paradiesvögel“, die in ihnen verkehrten. Jedes der Kaffeehäuser residierte in einer anderen Hochburg der deutschsprachigen Boheme: das Café Griensteidl in Wien, das Café Stefanie in München und das Café des Westens in Berlin. Mit ihnen habe jede der drei Metropolen ihr eigenes Café Größenwahn besessen, begründet der Autor den Titel seines Buches.

Zudem seien alle drei zu ihrer Zeit das gewesen, „was heute die virtuellen Foren in ihren besten Momenten sind: Räume des intelligenten Austausches und des klugen Meinungskampfes“, in denen „die klügsten und aufmüpfigsten Köpfe“ über die „permanente[n] Revolutionen im Denken, Fühlen und Empfinden“ debattierten, wie er etwas idealisierend formuliert. Nicht weniger beschönigend ist sein Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im deutschen Kaiserreich des frühen 20. Jahrhunderts insgesamt. „Nie ging es den Deutschen besser“, meint er. Denn es sei „leidenschaftlich geschlemmt und mehr Sekt getrunken [worden] als jemals zuvor“. So hätten „die Berliner flaschenweise Pommery [geschlürft]“ und dabei „ehrfürchtig die Witwe Clicquot, die Erfinderin des Champagners [gelobt]“. Vielleicht mag es in dem einen oder andren hochherrschaftlichen Haus so zugegangen sein. Dienstmädchen und Pferdekutscher dürften allerdings wohl ebenso wenig in den Genuss des Wohlstandsgetränks gekommen sein wie die übergroße Mehrzahl der Deutschen.

Über die genannte Kaffeehaus-Trias hinaus beehrt der Autor auch einige (Nachfolge-)Cafés wie etwa Kathi Kobus’ Simplicissimus oder das Café Central mit der ebenso ruhmreichen wie leicht anrüchigen Bezeichnung Café Größenwahn, die  nicht nur Spott, sondern auch eine gewisse Hochachtung ausdrückt.

Liesemer erzählt seine Boheme-Geschichte(n) chronologisch, wobei er zwischen den drei Städten und ihren Cafés hin und her springt. Auch lässt der Autor immer wieder ein bisschen europäische Geschichte einfließen, natürlich insbesondere die der Vorkriegs- und der Kriegszeit. Das Wiener Café Griensteidl war da zwar schon längst selbst Geschichte, denn es schloss bereits Anfang 1897, das Berliner Café des Westens hatte sich jedoch noch bis in den Herbst des Kriegsjahres 1915 hineingeschleppt, „wirkt[e]“ da allerdings schon längst „gezähmt und museal“.

Doch besucht Liesemer nicht nur diverse Cafés, er kehrt auch schon mal in ein Gasthaus oder eine Weinstube ein und lässt sich in dem einen oder anderen Kabarett unterhalten. Mehr noch als die Gast- und Vergnügungsstätten selbst interessieren ihn die Menschen, die sie frequentierten. Denn sie waren es, die ihnen das Leben der Boheme einhauchten. Der „selbsternannte[] Anarchist“ Erich Mühsam etwa, Felix Salten, der „am liebsten Frauen hinterher[schaute]“, „die alle den Kopf verdrehende Lou Andreas-Salomé“, die wie so viele stets klamme Franziska zu Reventlow oder Hugo von Hofmannsthal mit seinen „zutrauliche[n] braune[n] Mädchenaugen“. Pflegte auch die eine oder andere Autorin und Künstlerin gelegentlich einmal an einem der Kaffeehaustische zu sitzen, so handelte es sich doch alles in allem eher um „Männergesellschaft[en]“. So etwa das Café Central, wo kaum dem Jünglingsalter entwachsenen Literaten ihre Hahnenkämpfe austrugen. Arthur Schnitzler, der „ständig in Hurenkaffeehäusern verkehrt[e]“, während sich „in seiner Seele medizinische und poetische Weltanschauung miteinander prügelten“, zählte ebenso zu ihnen wie Karl Kraus, der sich schon als Gymnasiast „um nichts und niemanden außer um Sprache, Literatur und Feindschaften [kümmerte]“.

Kaffeehausgänger Liesemer lauscht seinen TischgenossInnen ihre innersten Gefühle und Gedanken ab. So weiß er beispielsweise ganz genau, wann sich Hermann Bahr „ein wenig dumm vor[kommt]“. Auch ist er sichtlich bemüht, durch seinen im Präsens gehaltenen Stil Unmittelbarkeit zu erzeugen. Etwa, wenn er Altenberg „so genussvoll wie sonst kein Mensch ägyptische Zigaretten“ rauchen lässt:

Zärtlich klemmt er sie zwischen zwei Finger ein, führt sie zum Mund, zieht ohne Hast, bis die Glut unscheinbar aufglimmt. Erst nach einer unendlichen Weile spitzt er seinen Mund und öffnet ihn sanft, um den Rauch wie einen Schmetterling ins Freie entschweben zu lassen.

Das ist zwar hübsch und fantasievoll ausgeschmückt, so dass es dem Autor gelingt, seinem Buch ein plastisches Bild der in einen „Hochnebel aus Tabakdünsten“ getauchten Kaffeehausatmosphäre entsteigen zu lassen. Dafür aber huscht er allzu leichtfüßig über Altenbergs pädokriminelle Neigungen hinweg. So schreibt Liesemer in Bezug auf ein neun- und ein zwölfjähriges Mädchen, denen Altenberg nachstellte, mit verharmlosendem Zungenschlag, dieser habe sich „seit jeher […] zu jungen Mädchen hingezogen [gefühlt], mindestens einmal wird er eines auf den Mund küssen. In seinem Hotelzimmer hängen zudem freizügige Bilder von Minderjährigen.“ Schlimmer noch, Liesemer schlägt sich stilistisch auch schon mal auf die Seite des Herren mit den pädokriminellen Anwandlungen, wenn er formuliert, „in München lernt Altenberg zwei entzückende Schülerinnen kennen“. Mehr ist bei Liesemer darüber nicht zu erfahren.

Auch vor einer anderen Größe der Boheme, dieses mal der Münchner, waren minderjährige Mädchen nicht sicher. Der zwar „scharfsinnig[e], aber zutiefst verdruckst[e]“ Student Ludwig Klages „nötigte […] die zwölfjährige Tochter seiner Zimmerwirtin, was die Mutter sogar duldete“. Mit dem Nachsatz exkulpiert Liesemer den praktizierenden Pädokriminellen zwar nicht gerade, doch relativiert und verringert er dessen Schuld, indem er sie auch der Mutter anlastet. Franziska zu Reventlow aber, die zusammen mir Bogdan von Suchocki und Franz Hessel dem „Lebenskommunismus“ gehuldigt habe, habe Klages „vor sich selbst und vor billigen Affären schützen“ wollen.

Mit dem „Jugendroman“ Ellen Olestjerne (1903) glaubt Liesemer einen „autobiographische[n] Roman“ der von Klages zur heidnischen Hetäre verklärten Autorin in Händen zu halten, bei dessen titelstiftender Protagonistin es sich um Reventlows „fiktive[s] Ich“ handele. Die Lektüre von Elena Boys Studie Inszenierungsspiele. Geschlecht, Autofiktion und Autorinnenschaft bei Franziska zu Reventlow (2021) hätte ihn vielleicht vor dieser plump-biographistischen Fehllektüre bewahren können. Auch scheint ihm entgangen zu sein, dass Reventlow in ihrem Roman Der Geldkomplex (1916) Otto Gross parodiert. Und Das gräfliche Milchgeschäft (1897) erzählt keineswegs, wie der Autor meint, Reventlows „vermasselte[n] Versuch, ein Milchgeschäft zu eröffnen“. Denn der titelstiftende Laden existierte zwar auf den Seiten einer Ausgabe der Zeitschrift Neuen Rundschau aus dem Jahr 1897, nicht aber in den Straßen Münchens. Überdies zieht Liesemer eine als grob verfälschend nachgewiesene Edition von Reventlows Tagebücher und längst überholte Sekundärliteratur wie Brigitta Kubitscheks in den 1990er Jahren sicher verdienstvolle Reventlow-Biographie heran, deren Autorin zudem mit der Herausgabe des im Rahmen der 2004 publizierten Werkausgabe Franziska zu Reventlows erschienenen Tagebuchbandes ihren Ruf als Reventlow-Forscherin ruiniert hat. Entsprechend unzuverlässig sind die Reventlow betreffenden Ausführungen des Autors denn auch. Immerhin aber verschweigt er nicht, wie sehr sie – entgegen aller Hetären-Ideologie – darunter litt, sich aus Not prostituieren zu müssen.

Nicht alle der Bohemiennes reüssierten als Autorinnen. Andere traten etwa als innovative Malerinnen oder das Publikum begeisternde Diseusen hervor, und eine von ihnen, Lotte Prizel war eine begnadete Puppenkünstlerin. Geradezu bewundernd schreibt Liesemer, dass sich „die [w]ortwitzige, die [e]rotische, die [g]raziöse“ Morphinistin „nicht um Moral schert!“ und charakterisiert sie, mit wie viel Recht auch immer, als „knabenhafte, großherzige und liebenswerte Amoralistin“.

Der bekennende Sexualimmoralist Otto Gross wiederum wird als „österreichischer Mediziner“ vorgestellt, der in seiner Kindheit „unter einem übermächtigen, autoritätsverliebten Vater [litt]“ (Zum Verhältnis von Vater und Sohn Gross siehe hier). Sigmund Freud zufolge sei Gross neben C. G. Jung „der Einzige, der etwas Eigenständiges zur Psychoanalyse beitragen könne“. Wie sehr Freud Andreas-Salomés Beitrag zur Psychoanalyse schätzte, verschweigt Liesemer hingegen. Dafür weiß er zu berichten, Gross habe „mehrmals Paare nach seiner psychologischen Überlegung zusammen[geführt] und sogar seine eigene Frau anderen Männern [überlassen]“; gerade so, als sei Frida Gross, die bei Liesemer im Übrigen namenlos bleibt, das Eigentum ihres Mannes gewesen.

Der Name der unglücklichen Sofie Benz wird von Liesemer zwar genannt, doch variiert ihr Vorname bei ihm auf ein und derselben Seite von Sofie zu Sophie. Mit ihr habe Gross auf dem Monte Verità „innigen Kontakt gepflegt“. Kein Wort hingegen davon, welche fatale Rolle er bei ihrem Tod spielte.

Doch nicht nur was Sexualgepflogenheiten und die Geschlechterbeziehungen betrifft sind Liesemers Ausführungen nicht immer ganz nachzuvollziehen. So darf etwa füglich bezweifelt werden, dass „kein Autor der Jahrhundertwende […] so sehr unter der Zensur [litt] wie Frank Wedekind“, der wegen einer satirischen Publikation zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war, „von denen er sechs Wochen in einer Haftanstalt absitzen musste, bevor er zur vergleichsweise lockeren Festungshaft nach Königstein kam“. Das ist zwar schlimm genug, doch weitaus übler spielten die deutschen Zensurbehörden Oskar Panizza mit, der von Liesemer allerdings nicht einmal erwähnt wird. 1895 verurteilte ihn ein Münchner Gericht wegen seines heute noch lesenswerten satirisch-grotesken Stücks Das Liebeskonzil – Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen (1894) wegen Blasphemie zu einem Jahr Einzelhaft. Er saß sie in Amberg ab, wo ihn Franziska zu Reventlow einige Male besuchte. Nach Verbüßung der Strafe floh er in die Schweiz, aus der er jedoch wegen des Besitzes von Nacktaufnahmen junger Mädchen ausgewiesen wurde. 1915 wurde er schließlich zwangsentmündigt und verbrachte die ihm bis zu seinem Tod verbleibenden 16 Jahre in – wie es damals hieß – ‚Irrenhäusern’.

Doch zurück zu Wedekind, von dessen Stück Die Büchse der Pandora (1902) Liesemer zu berichten weiß, dass sein Titel „nicht zufällig […] an die griechische Mythologie [erinnert]: „Einst öffnete die schöne Pandora eine unheilvolle Büchse [die allerdings keine Büchse war, sondern ein Pithos genannter Vorratskrug, RL], aus der alle Übel der Welt kamen. In Wedekinds Stück steht die Büchse der Pandora für die menschliche Vagina“. Das wäre freilich eine reichlich schiefe Metaphorik, denn aus der Vagina kommen keine Übel, eher schon werden welche in sie hineingesteckt – bei Vergewaltigungen etwa.

Nicht nur Wedekind, auch andere Angehörige des Münchner Kabaretts Die elf Scharfrichter hatten ebenso wie Satirezeitschriften wiederholt Ärger mit den Zensurbehörden. Liesemer gelten die Scharfrichter aus guten Gründen als das beste Kabarett der Wilhelminischen Zeit“. In einem Weinlokal mit dem Namen Zum Vesuv macht der Autor wiederum „das versteckteste und eigensinnigste Kabarett“ Berlins aus, während ihm ein anderes für die Boheme der Spree-Metropole zwar nicht eben zentrales, aber eben auch nicht marginales Weinlokal namens Zum schwarzen Ferkel unbekannt zu sein scheint. Jedenfalls erwähnt er es nicht.

Ähnliches Lob wie die Elf Scharfrichter erhält der Simplicissimus, in dem Liesemer„die böseste Satirezeitschrift des Deutschen Reichs“ ausmacht. Auch auf die beiden wichtigsten expressionistischen Periodika Der Sturm und Die Aktion geht der Autor kurz ein. Dass letztere eine „undogmatische linke Zeitschrift“ gewesen sei, charakterisiert sie allerdings nur unzureichend.

Liesemer erzählt seine Geschichten und Anekdoten aus der Boheme im unterhaltsamen Plauderton, den er mit gelegentlich aphoristischen Sentenzen zu würzen weiß. So etwa, wenn er über die in Kaffeehäusern erdachten Umsturzfantasien schreibt „die ganze Welt war in Bewegung, ohne dass sie vom Tisch aufstehen mussten“. Das ist zwar alles kurzweilig zu lesen, aber nicht immer ganz verlässlich.

Titelbild

Dirk Liesemer: Café Größenwahn. 1890-1915.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023.
386 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455016567

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