Von Brixen bis nach Marrakesch

Im achten Band seines Romanprojekts „Ortsumgehung“ nimmt Andreas Maier seine Leser mit auf Reisen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es nähert sich langsam seinem Ende. Seit einem Jahrzehnt arbeitet Andreas Maier (Jahrgang 1967) an seinem Romangroßprojekt Ortsumgehung. Sieben Bände sind schon in der Welt. Die Städte ist Nummer 8. Drei Bücher sollen noch folgen, das elfte den Abschluss bilden: finis operis. Ausgehend vom Zimmer seines Onkels in der Bad Nauheimer Uhlandstraße (Das Zimmer, 2010) konnten die Leser im Laufe der letzten Dekade Maiers Helden Andreas auf seinen autobiografischen Wegen folgen, die Mitglieder von dessen Familie kennenlernen (Die Familie, 2019), ihn auf seinen Karrierestufen von den Friedberger Schuljahren (Die Straße, 2013) über das Studium in Frankfurt am Main (Die Universität, 2018) begleiten und bei seinen ersten Liebes- und Schreibversuchen (Der Ort, 2015; Der Kreis, 2016) dabei sein. Was noch geplant ist, zielt – die Arbeitstitel Heimat, Der Teufel und Der liebe Gott deuten es an – ins Große, Metaphysische.

Ging es zunächst in sich ausweitenden konzentrischen Kreisen vom Zentrum eines ersten bewussten Zu-sich-Kommens aus – als hätte jemand einen Stein in ein Gewässer geworfen und verfolge nun die vom Einschlagspunkt des Wurfes ausgehende Wellenbewegung –, war diese den Arbeitstitel Ortsumgehung doppelt rechtfertigende Schreibrichtung im Band Die Universität nicht mehr zu halten. Auch Die Städte brechen in gewisser Weise aus diesem die ersten sechs Bände des Zyklus charakterisierenden Konzept aus. Denn Andreas Maier erzählt in diesem Buch vom Reisen. Und das, obwohl ihm nichts lieber ist, als bei sich und zuhause zu sein.

„Ich habe anlässlich dieses Buches darüber nachgedacht, dass ich 1995 meine letzte touristische Reise gemacht habe“, hat der Autor in einem Gespräch mit Andrea Gerk, nachhörbar beim Deutschlandfunk Kultur, bekannt.Lediglich um „in bestimmten Wirtschaften Bier zu trinken“, fahre er inzwischen noch gelegentlich nach Köln, Düsseldorf, Bamberg oder Salzburg, bekennt er seiner Gesprächspartnerin im Weiteren. Trotzdem sind in 53 Lebensjahren schon ein paar Touren zusammengekommen, über die das Buch nach einem kurzen Prolog in sechs Abschnitten – alle nach den Städten benannt, in die es – real, aber auch nur in Gedanken – ging, berichtet. Die ersten davon führen zu der Zeit, als das Kind sich noch nicht wehren kann – immerhin nimmt es sich schon vor, den Eltern ihren Urlaub gründlich zu verderben –, nach Brixen in Südtirol.  

Dort besitzt die Familie eine Ferienwohnung, in die man jeweils zu nachtschlafener Zeit im gerade aktuellen Dienst-Mercedes des für die Frankfurter Henninger-Brauerei arbeitenden Vaters über Nürnberg und den von Touristen verstopften Brenner aufbricht. Asterix-Hefte dienen der Unterhaltung des Kindes unterwegs. Auf späteren Reisen werden Andreas Georg Büchners Werke und Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser als geistige Begleiter zur Seite stehen.

Am Ziel angekommen, läuft dann Jahr für Jahr das gleiche touristische Programm ab. Mit dem Auto als „zentrale[m] Instrument der Leidensermöglichung“ geht es, nachdem man sich für die ersten Tage verproviantiert hat, Richtung Kalterer See und Seiser Alm sowie in die knapp eine Fahrstunde entfernt gelegenen Städte Bozen und Meran. Höhepunkt des In-die-Welt-Hinausmüssens namens Urlaub: der gemeinsame Tagesausflug der Eltern und Geschwister mit einem befreundeten älteren Ehepaar.

Mit 13 Jahren, anlässlich einer Studiosus-Rundreise durch Griechenland, verweigert sich Maiers Erzähl-Ich dem als störend empfundenen urlaubsbegleitenden Kulturprogramm dann schon konsequent: „Keine Lust auf all das.“ Dass er die Zeit, die er ohne seine die üblichen Sehenswürdigkeiten besuchenden Eltern verbringt, nutzt, um sich auf eine nähere Bekanntschaft mit dem griechischen Nationalgetränk Ouzo einzulassen, wird auch dadurch ermöglicht, dass er älter aussieht, als er wirklich ist.

Eine jugendliche Tramptour an die französische Atlantikküste, die gleichzeitig das Ende einer Freundschaft markiert, und ein mit dem Vorsatz, sich unterwegs das Leben zu nehmen, gefasster Trip ins piemontesische Oulx schließen sich an. Als diese Station erreicht wird,  schreibt man schon die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und außer dem sich als nicht sehr fest erweisenden Willen zum Suizid hat Maier bereits einen ganzen Karton voll mit Selbstgeschriebenem dabei, das ebenfalls nicht überleben soll. Allein beim Nachdenken darüber, welche Methode sich wohl am besten eignet, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen – „Im Grunde schien mein Selbstmord in zunehmender Konfusion zu versanden. Er blieb stets aufs neue in der Etappe stecken.“ –, entdeckt der Protagonist plötzlich die italienische Sprache für sich, erprobt sie an einer Kellnerin und kehrt schließlich, sowohl Leben wie auch Manuskripte behaltend, nach Hause zurück.

Vom Kind, das Verreisen mit Verstoßensein auf eine Stufe stellte, über den Studenten, der den Weg in die Welt hauptsächlich über seine Bücher sucht, bis zum gestandenen Schriftsteller, den eine Lesung aus seinem ersten Roman im August 2000 nach Thüringen und zu Goethe, dem „Kolosseum Weimars“, führt – Andreas Maier hat mit Die Städte ein Buch über die Reisen eines im Grunde Reiseunwilligen geschrieben, der sich nur aufmacht in fremde Städte und Gegenden, weil alle ihm das vormachen. Gerade einmal auf zwei Flugreisen kann er nach über 50 Lebensjahren zurückschauen, was seinen Blick weder zornig noch wehmütig werden lässt.

Denn letztlich steht hinter der Liste von Städten, die er als die „Eckpunkte“ der „Karte meiner Lebensbewegungen von den ersten Jahren bis zum Ende meiner Studienzeit“ preisgibt – „Hamburg, London, Biarritz, Barcelona, Neapel, Athen, Wien, Bautzen, Berlin“ – doch die von den meisten seiner bisherigen Bücher beglaubigte Erkenntnis: Nirgendwo erfährt man mehr über sich selbst als im unmittelbaren Umkreis von Heimat und Herkunft. Und wenn schon eine Ferne, dann eine, die nicht von dieser Welt ist und touristisch nicht erfahrbar.

Titelbild

Andreas Maier: Die Städte. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
190 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429938

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