Endstation Meeresrauschen

Karl-Heinz Otts grandioser Roman über einen stillen und gleichwohl starken Neubeginn

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl-Heinz Ott ist ein musikalischer Erzähler, ein Autor, der seine Texte klug komponiert, ein Schriftsteller mit eigenem Ton, mit starken Sätzen, die nachklingen. Nach dem autobiografisch grundierten Debüt Ins Offene, einem Mutter-Sohn-Schuldroman, sind Otts Texte wie etwa Endlich Stille, ein psychologisch starkes Duett, oder der furiose innere Monolog Ob wir wollen oder nicht wie auch der Rousseau-Roman Wintzenried sowie der vorletzte Roman Die Auferstehung, eine meisterhafte Burleske über Doppelmoral, die gerade für das Fernsehen verfilmt wurde, meist Geschichten mit Helden, die zwischen rauschhaftem Mitteilungsdrang und der Sehnsucht nach Stille schwanken. Otts Protagonisten sind bis dahin oft Schwadroneure, die den kontrapunktischen Wunsch nach dem Verstummen traurig und tragisch-komisch zugleich wortreich ins Werk setzen. Sein jüngster Kurzroman Und jeden Morgen das Meer hebt sich davon ab und führt gleichwohl die Sehnsucht nach Ruhe, nach Stille konsequent weiter.

Nun wählt der bei Freiburg wohnende und vielfach ausgezeichnete Autor Karl-Heinz Ott, Jahrgang 1957, der als Musikdramaturg gearbeitet hat und als Essayist, Dramatiker und Übersetzer erfolgreich ist, erstmals eine Frau als Hauptfigur. Wie es ihm gelingt, die verletzliche und letztlich doch starke Seite der Protagonistin zu beschreiben, ist ein starkes Stück Literatur. Erinnerungen an ihre Kindheit an der Donau bei der Großmutter und im Nonnenkloster – wobei manches auch an sein Debüt Ins Offene erinnert – sowie an die Lehrzeit in der Schweiz und an die Berufsjahre am Bodensee, wechseln mit Beschreibungen der walisischen Gegenwart der Heldin.

Sonja Bräuning, 62, hat sich nach dem vermutlichen – so ganz eindeutig ist es nicht – Freitod ihres Mannes Bruno, mit dem sie 30 Jahre lang das Sternerestaurant „Lindenhof“ am Bodensee geführt hat, ins walisische Küstennest Abydyr zurückgezogen: Der „Lindenhof“ galt als „eines der ersten Häuser zwischen Bregenz und Basel“. Als „Prinzipalin“ beherrscht sie die Klaviatur des Umgangs, der von ihr verlangt wird. Ihr Mann Bruno versteht zwar als Spitzenkoch sein Handwerk bestens, doch ist er schüchtern und zurückhaltend – und ein Graus ist es für ihn, öffentlich aufzutreten:

Die Spüler, die Kellnerinnen, die Zimmermädchen, die Putzhilfen kamen zu niemand anderem als ihr, um sich über ihre Männer, ihre Frauen und Kinder auszuheulen oder über die Kollegen zu klagen. Ihr vertraute man. […] Sie beherrschte die gesamte Palette, vom Jovialen übers Gemütliche bis zum Strengen. Es machte Freude, die Register zu wechseln. Der „Lindenhof“ war ihre Bühne.

Berühmtheiten wie Derrick, Marianne Sägebrecht, Gert Fröbe und insbesondere „Kanzler Kohl mit Jacques Chirac“ verkehren gerne im „Lindenhof“. Dessen Abstieg ist paradoxerweise mit seinem Aufstieg, der Verleihung eines Michelin-Sternes, vorgezeichnet:

Mit einer normalen Kneipe ließ sich viel leichter Geld verdienen als mit einem Restaurant, das seine Ware direkt vom Pariser Fischmarkt bezog und in der Küche Leute brauchte, die nicht bloß Schnitzel klopfe konnten. Ihr Haus ächzte unter den gewaltigen Kosten, die täglich anfielen. […] Bruno fühlte sich durch den ganzen Sternerummel ohnehin überfordert. Schließlich musste man jeden Tag damit rechnen, dass irgendein Herr Siebeck im Restaurant saß, der ein winziges Haar in der Suppe fand und in seiner nächsten Gastrokolumne zum Vernichtungsschlag ausholte. Nichts durfte mehr schiefgehen, einen schlechten Tag durfte es nicht geben, jeder Teller, der die Küche verließ, musste so vollkommen sein wie alle andern auch. Locker ging es jedenfalls nicht mehr zu.

So kommt es, wie es fast zwangsläufig kommen muss. Das Familienhotel verliert seinen Stern, das Haus ist überschuldet. Bruno, der tagein, tagaus mit Sonja geschuftet und sich so gut wie keinen Urlaub, keine gesellschaftlichen Einladungen gegönnt hat, zieht sich noch mehr zurück. Überhaupt hat die Ehe und das Leben der beiden seit Langem „etwas Geschwisterliches.“ Ein Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff bringt ebenso wenig Abwechslung, wie ein plötzlich auftauchendes Interesse Brunos an Familiengenealogie. So kann auch eine Reise in die USA dem Leben der beiden keine andere Richtung geben.

Nachdem der Stern abhandengekommen ist, trinkt sich Bruno Abend für Abend in seinem Weinkeller und alsbald auch in der Grappa-Ecke langsam aus dem Leben, bis vermutlich am Ende auch noch Tabletten im Spiel sind. Sein Tod zieht Sonja den Boden unter den Füßen weg: Das Hotel hochverschuldet, ein Engagement in der Schweiz in ihrem Alter und als ehemalige Hotel-Chefin aussichtslos. Ein Vorstellungsgespräch endet denn auch im Fiasko.

Der Rückzug, die Flucht ans Meer, als Herrin der Kneipe „Ocean Bay“ mit der angeschlossenen, jedoch heruntergekommenen Pension von Mister Pettibones Onkel, erweist sich als Rettung für Sonja. Denn Brunos skrupelloser Bruder Arno, ein Anwalt, der nach ein paar Gläsern „den Möchtegern-Verführer“ gibt, jedoch „zu bieder für einen Casanova, zu teigig für einen Draufgänger“ ist, drängt sie aus dem Haus. Dabei vermittelt er Sonja das Gefühl, dass er ihr sogar einen Gefallen tun würde. Ein Koffer mit Kleidern ist alles, was Sonja bleibt. Damit macht sich die ehemalige „Prinzipalin“ nach Wales auf. Obwohl Mister Pettibone, der sommerliche Stammgast, der immer von der Pension seines Onkels geschwärmt hatte, nun nichts mehr von seiner Waliser Empfehlung wissen will. Im Gegenteil: War vorher der „Lindenhof“ Sonjas Bühne, so führt sie nun in dem meist gästeleeren Abydyr „ein Leben abseits jeder Arena“.

Es bleibt ihr jedoch die unendliche Weite des Meeres. Sein Rauschen, Wogen und Wallen, seine tosende Kraft wie auch seine Zeitlosigkeit, die Ruhe verströmende Bewegung des Wassers. „Am Ende bleibt einzig dieses Wallen und Wogen, Brausen und Fluten, in raumlosen Weiten“, heißt es an einer Stelle. Und gegen Schluss des kurzen, aber in Details verdichteten Lebens-Romans notiert der Erzähler: „Wenn einmal alles vorbei ist, bleibt keine Stille, es bleibt das Meer mit seinem Rauschen.“

Zur Ruhe gekommen, mit sich im Reinen, trotz mancher Erinnerungen und manchmal aufkommender Schuldgefühle, steht Sonja am Ende wie am Anfang des Textes jeden Morgen „auf den Klippen, bei jedem Wind und Wetter, und jedes Mal denkt sie, ich könnte springen. Denkt es, seit sie hier ist. Das Meer würde sie sofort verschlingen.“

Karl-Heinz Otts Und jeden Morgen das Meer ist ein stiller und nachdenklich machender Text, ein Kurzroman, dessen Sätze nachhallen, die gelungene Erzählung eines verletzlichen und gleichzeitig doch starken Frauenlebens.

Titelbild

Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446259959

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