Auch in bewegten Zeiten Freude und Kurzweil zu bereiten

Seraina Plotke und Stefan Seeber stellen „Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch“ vor und lenken damit den Blick sowohl auf eine insgesamt unterschätzte literarische Form als auch auf die Umbruchphase von der Handschrift zum Druck

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Publikation gibt, so scheint es zumindest, durchaus das eine oder andere Rätsel auf. Zumindest eine inhaltliche Erwartungshaltung hinsichtlich des Begriffs ‚Schwank‘ wird insofern gebrochen, als es nicht nur um humoristisch-parodistische, bisweilen vielleicht auch blasphemische Kleinformen geht, sondern sich auch Beiträge finden lassen, die grundsätzlich eher an der Überlieferungssituation als am Inhalt orientiert sind. Die insgesamt 14 zusammengestellten Beiträge entspringen einer internationalen Tagung an der Universität Basel im März 2014. Dabei sind die entsprechenden einleitenden Erklärungen bereits gute Wegmarken, die eine Orientierung oder ‚Kanalisierung‘ der Erwartungshaltungen erleichtern helfen.

Die Herausgeberin, die im Jahre 2020 verstorbene Seraina Plotke, und der Herausgeber Stefan Seeber geben in ihrer Hinführung mit dem Titel Ko- und Kontexte. Kurzerzählungen zwischen Handschrift und Buchdruck sogenannte „Leitplanken“ vor, an denen die Beiträge des Bandes ausgerichtet sind. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass nicht allein die deutschsprachigen Texte und Textsammlungen, sondern auch Beispiele aus dem italienischen, französischen und angelsächsischen Sprach- und Literaturraum Berücksichtigung finden. Dass in der Betitelung der Terminus „Kurzerzählung“ Verwendung findet, deutet an, dass es, ungeachtetet des Überlieferungsraumes, eben nicht ausschließlich um das Phänomen ‚Schwank‘ geht – oder dieser Begriff zumindest sehr liberal gehandhabt wird. Es ist offenkundig weniger eine ausschließlich inhaltliche Beschäftigung mit den verschiedenen Texten als vielmehr die Frage nach der Art der Fixierung und Tradierung beziehungsweise auch der Rezeption, die hier im Fokus steht.

Vor diesem Hintergrund ist bereits der erste Beitrag von Margit Dahm-Kruse und Timo Felber (Lektüreangebote in der mittelalterlichen Manuskriptkultur. Formen der Retextualisierung und Kontextualisierung deutschsprachiger Versnovellen) zu lesen, der anhand zweier spätmittelalterlicher Textsammlungen (Cgm 714 und Cpg 314) respektive deren Systematik die kulturelle Funktion und die Sinnstiftung der Zusammenstellungen zu rekonstruieren versucht oder doch zumindest darauf verweist, dass nicht allein die einzelnen Texte selbst, sondern insbesondere deren Zusammenfassung zu den jeweiligen Konvoluten den kulturellen Aussagewert bedingen. Die Autorin und der Autor erkennen in den untersuchten Textsammlungen auch Clusterbildungen, aus denen heraus die einzelnen Texte eine neue (Rezeptions-)Dynamik entwickeln beziehungsweise anders und in gewissem Sinne ‚erweitert‘ gelesen werden können.

Johannes Keller begibt sich in seinem Beitrag auf Spuren frühneuzeitlicher Medialität in Heinrich Kaufringers Erzählen. Bemerkenswert ist die teils sehr detaillierte Beschreibung der Handschrift, die – wie übrigens auch im vorherigen Artikel – durch umfangreiche Abbildungen visualisiert wird. Dass im herangezogenen Kaufringer-Konvolut selbst (aber das ist bei Texten, die zumindest im weitesten Sinne mit religiösen Motiven verknüpft sind, gerade auch für das Mittelalter keineswegs so ungewöhnlich) mitunter recht verstörende und brutal wirkende Formen erkennbar sind, macht es nochmals deutlich, wie schwer es mitunter ist, Überlegungen der Vormoderne nachzuvollziehen oder gar zu akzeptieren.

Der Kerntext wird jeweils durch eine knappe Erzählung, Der Einsiedler und der Engel, ein- beziehungsweise ausgeleitet, in der ein Engel auftritt. Allerdings agiert dieser keineswegs so, wie sich (nicht nur) naive Gemüter das vorstellen würden: In der Einleitungsgeschichte erdrosselt der himmlische Bote etwa ein Kind in der Wiege, und dies ist nicht die einzige Mordtat. Diese verbrecherischen Handlungen werden dann im ausleitenden Text erklärt. So erfahren der Einsiedler und die Lesenden, dass die Ehe der Eltern des ermordeten Säuglings lange kinderlos blieb, auf ihr Beten und Flehen jedoch Gott sich erbarmt und ihnen den Kinderwunsch erfüllt habe. Nach diesem Gnadenakt aber geriet Gott in Vergessenheit, sodass die Ermordung des Nachwuchses dem Seelenheil der Eltern dienen sollte! Eine reichlich krude Ethik, die noch deutlich über das fatalistische „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobet sei der Name des Herrn“ hinausgeht und heute wohl selbst in sehr kirchennahen Kreisen kaum mehr auf Verständnis stoßen dürfte.

Allerdings ist dies nur ein faszinierendes Detail, das die Kernaussage des Artikels nur insofern berührt, als es Johannes Keller in erster Linie darum zu tun ist, anhand von nachgesetzten Randglossen oder auch Besitz- beziehungsweise Erwerbsvermerken nachzuweisen, dass die Art der Textzusammenstellung zum einen Rezeptionsgewohnheiten zu belegen vermag, diese aber zum anderen auch zu generieren vermochte. Hier sei also von einer Produktions-Rezeptions-Interdependenz auszugehen. ‚Das Einzelne im Ganzen‘ wäre wohl das passende Motto.

Auch Sabine Griese stellt mit Rosenplüt im Kontext einen einzelnen Verfasser ins Zentrum ihrer Überlegungen, und auch ihr geht es um die Frage nach der Korrelation zwischen Autorschaftskonzeption und Überlieferungszusammenhang. Dies ist besonders interessant, da Hans Rosenplüt zum einen vornehmlich als Dichter der entsprechenden Texte be- und genannt wird, daneben aber auch als Interpret und im weitesten Sinne sogar als Publikum anzusehen sein kann. Dabei ist, so die Autorin, angesichts des Überlieferungsumfangs der Rosenplüt-Texte nicht auszuschließen, dass diese in einigen Fällen lediglich Zuschreibungen gewesen sein mögen. Analog zu Stricker sieht Sabine Griese den Namen Rosenplüt im 15. Jahrhundert auch in der Funktion eines Marken- oder Gattungsnamens. Und „so präsentiert uns die Überlieferung in sehr vielfältiger Weise ein Erfolgsprodukt ‚Rosenplüt‘, das auf jeden Fall dem ‚Werkkomplex‘ dieses Nürnberger Büchsenmeisters und ‚Freizeitdichters‘ zuzuordnen ist“.

Eher wieder auf einer Metaebene betrachtet Johannes Klaus Kipf (Die humanistische Fazetiensammlung als Buchtyp. ‚Missing link‘ zwischen der spätmittelalterlichen Kleinepikhandschrift und dem gedruckten Schwankbuch?) den Wandel von Überlieferungstypen der kleinen literarischen Formen des Mittelalters. Dabei geht er davon aus, dass die spätmittelalterlichen Märensammlungen als mikrostrukturell aufgebaute Kleinstkorpora gegenüber den auch umfangreicheren gedruckten Schwanksammlungen deutlich inhomogener seien. Als Übergangstyp gewissermaßen erkennt Kipf die humanistische Fazetiensammlung, die Elemente beider literarischer wie epochaler Sammlungstypen aufweist und in der somit einerseits das Kommende prädestiniert ist, andererseits das Alte zumindest teilweise in die neue Traditionsbildung einfließen kann.

Mit Inszeniertes Erzählen – Thesauriertes Erzählen. Über das Verhältnis von Buchdruck und Erzählsituation begibt sich Klaus Grubmüller ebenfalls auf eine eher gattungs- bzw. überlieferungsbezogene Ebene der Betrachtung. Er problematisiert die Differenz zwischen deutschen gedruckten, gewissermaßen ‚linearen‘ Schwanksammlungen – etwa von Jörg Wickram, Jakob Frey oder Martin Montanus – und den komplexeren, ineinander verschachtelten Zyklen im Sinne des Decamerone oder daran orientierter Erzählkomplexe. Erstere sind nach seinem Dafürhalten eben jene Thesauri, in denen einzelne Schätze zur Unterhaltung betrachtet und problemlos wieder weggelegt werden können, während das inszenierende Erzählen das literarische Gesamtkunstwerk unabdingbar im Auge behalten muss. Gegenüber der – zumindest vorgeblich – archaischeren Form der Schwanksammlungen ist der inszenierte Erzählkomplex sicherlich moderner. Er bietet allerdings, so absonderlich das aus gegenwärtiger Sicht auch anmuten mag, weniger rezeptive Freiräume, sodass das Alte mitunter frischer und lebendiger daherkommen kann, als der Weg in die geordnete ‚literarische Zukunft‘ dies vermag.

Nora Viet – Der Parangon de nouvelles als Spiegel europäischer Novellenkunst. Zur Rezeptions- und Gattungsgeschichte der Novelle in der französischen Frührenaissance (1485–1531) – verlässt die deutschsprachige Basis zugunsten eines dezidierten Blicks auf die französische Literatur und Kultur vom Ende des 15. bis zum ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Ganz absolut ist das jedoch nicht, birgt doch der Parangon de nouvelles, angelegt als eine Textsammlung mit Modellcharakter, auch Texte italienischer und deutscher Provenienz und schließt somit zumindest indirekt die Überlieferungsverhältnisse diesseits des Rheins mit ein. Und auch hier geht die Verfasserin von der produktiven und wesentlichen Rolle derjenigen Person aus, die die Zusammenstellung besorgt hat. So folgt der Aufbau der Texte einer Anordnung, die eine spezifische Sinnstiftung befördert, die sich im Sinne einer ästhetischen Kontrastierung auswirkt. Nora Viet versucht damit, Rückschlüsse auf den französischen Novellenbegriff jener Tage zu ermöglichen. So „zeigt die französische Gattung der ‚nouvelle‘ mit der deutschen Schwankliteratur jener Zeit überraschend verwandte Züge“ – ein in der Vergangenheit verankertes Plädoyer für eine pan-europäische Kulturpolitik?

Mit Trésor des récréations, Enfer du Decameron. Die fazetienhafte Kurzerzählung und ihre moralische Bewertung verbleiben Dominique Brancher und Anne Réach-Ngô im französischen Überlieferungsraum, beziehen dabei jedoch, wenngleich erkennbar weniger prominent, auch die Tradierungs- und Rezeptionsverhältnisse in Italien mit ein. Untersucht wird der Gleichklang, um nicht zu sagen: Gleichschritt zwischen Edition und Zensur, wie anhand verschiedener Druckausgaben des Decamerone deutlich gemacht wird. Dabei ist der moralische Impetus das zumindest vordergründig tragende Motiv (oder modern ausgedrückt: der maßgebliche Trigger) für die entsprechenden Zensurmaßnahmen, die offenbar von Auslassungen über Veränderungen bis zu metatextorischen Erläuterungen gehen, mitunter allerdings das Gegenteil von dem erreichen, wofür sie vordergründig stehen. Denn: „Zwischen der Äußerung moralischer Lehrsätze und deren Umsetzung eröffnet sich ein polemischer Raum ihrer verlegerischen Interpretation.“

Neil Cartlidge führt mit Keine Neuigkeiten? Zur Gattung und Gestaltung des englischen Jest-Buchs A Hundred Merry Tales (1526) vom Kontinent auf die britischen Inseln. Bei diesem Buch handelt es sich um die älteste englischsprachige Drucküberlieferung eines Jest-Books, einer Sammlung kurzer und kurzweiliger Erzählungen, die explizit in Shakespeares Viel Lärm um nichts Erwähnung findet, allerdings in abwertender Form. Der Gegenpart zu Beatrice, der Heldin des Stücks, die durch geistreiche und schlagfertige Antworten charakterisiert ist, wirft ihr vor, diese rhetorischen Fähigkeiten ausschließlich aus den Hundred Merry Tales zu beziehen. Die damit implizit einhergehende Diskreditierung macht paradoxerweise explizit die breite Kenntnis sowie eben auch die Qualität der Merry Tales deutlich, deren Kenntnis – sofern wir geneigt sind, Shakespeare zu vertrauen – ausreicht, nicht nur unterhaltsame Konversation zu betreiben, sondern dabei auch ein abgehobenes intellektuelles Level zu halten. Abgesehen von der retrospektiven antagonistischen Wertschätzung hat diese Erzählungssammlung in den Folgejahrzehnten offenbar Vorbildcharakter gehabt, was viele epigonale Projekte belegen. Demnach hätte es, so Cartlidge, „immer klar sein müssen, dass die Hundred Merry Tales in ihrer eigenen Zeit viel neuartiger wirkten, als […] Shakespeare zugeben wollte“. Damit scheint die Bedeutung der Tales adäquat zusammengefasst.

Auf die Spuren der Vorgängerfiguren von Sherlock Holmes oder Hercule Poirot begibt sich Caroline Emmelius (Fallkontexte. Narrativität, Diskursivität und Kotextualität von Mordfällen in den Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts), indem sie drei Erzählungen von Kriminalfällen in den Blick nimmt, die Eingang in Zusammenstellungen verschiedener Erzähltexte gefunden haben. Wesentlich ist hier, dass diese Art von Sujet im Unterschied zu den bislang in den Blick genommenen Kurztexten keine ‚echten‘ Vorbilder hat, also tatsächlich etwas Neues darstellte. Gleichwohl entstanden die Darstellungen nicht im luftleeren Raum: Sie nahmen mithin Bezug auf gesellschaftliche Darstellungen und Erklärungsmuster – und bei der Motivierung zu den thematisierten Kapitalverbrechen hat zumeist der Teufel die Hände im Spiel, aber auch Elemente der Gottesurteilschaft spielen in diese Texte mit hinein.

In Martin Maiers Ein schöner Spruch von eynem kauffman geht es um einen Justizskandal. Ein Mord wird fälschlicherweise besagtem Kaufmann angelastet, dann aber doch noch aufgeklärt. Die brutalen Foltermethoden zur Geständniserpressung finden dann am wahren Mörder spiegelbildlich als Teil der Strafe und Sühne Anwendung. Johannes Paulis Schimpf und Ernst ist demgegenüber umfangreicher und bezieht über die Kaufmannsepisode hinaus mehrere Handlungsstränge als Gegenreferenz mit ein. Die Konstellation von fälschlich beschuldigtem Kaufmann und wahrem Täter – einem Henker – war so prominent, dass sogar noch Martin Luther darauf Bezug nahm. Daneben stallt die Autorin noch die im Elsass begangenen sogenannten Bärenwirt-Morde sowie den Schwangeren-Mord im Münstertal vor, die jeweils in zwei Beispieltexten vertreten sind. Wichtig ist, so die Autorin, dass die Übergänge zwischen neutral-pragmatischer sowie literarischer Beschreibung fließend waren und dabei auch nicht immer exakt zwischen Fakt und Fiktion unterschieden wurde. Aber, wenn wir ehrlich sind, ist das ja heutzutage – abhängig vom jeweiligen Medium – mitunter auch noch der Fall.

Paulis Schimpf und Ernst wird auch im folgenden Beitrag von Sebastian Coxon („Da lacht der babst“) unter dem Blickwinkel der komischen Erzählmotivik als Mittel der Kohärenzstiftung betrachtet. Dass dabei das Lachen des Papstes nicht nur als bloßes Verzierungselement, sondern als tragender Wegweiser eine zentrale Funktion erfüllt, mag als Hinweis auf die Stringenz kirchlicher Ordnungsrahmen einerseits, aber eben auch als Unterlaufen derselben angesehen werden. Und so lassen sich anhand der Argumentation des Verfassers beide Schlüsse ziehen. Allerdings deutet vieles darauf hin – und auch Coxon folgt dieser Sichtweise –, dass die unkonventionelle literarische ‚Performance‘ des Oberhaupts der westlichen Kirche von Pauli letztlich im Sinne einer Hinführung beziehungsweise eines Anstoßes auf moralisches und vor allem auch gottgefälliges Verhalten und Leben gedacht war.

Mario Zanucchi untersucht in Boccaccios und Petrarcas Griselda in deutschen Schwanksammlungen einen aus gegenwärtiger Perspektive nicht nur fragwürdigen, sondern höchst verwerflichen Stoff – geht es doch um nichts weniger, als dass sich die gehorsame Idealfrau Griselda trotz (oder womöglich wegen) ihrer Perfektion immer wieder grausamen Prüfungen ihres Ehemannes unterwerfen muss. Ein solches Motiv, das heutzutage im besten Fall bei der Eheberatung, vermutlich aber gleich vor dem Scheidungsgericht enden würde, scheint aber um die Wende zur Neuzeit auf ausgeprägtes Interesse gestoßen zu sein, was die vielen Adaptionen auch im deutschsprachigen Bereich belegen. Aber, und das sei zur Ehre sowohl derjenigen, die die Editionen besorgten, als auch des Publikums gesagt: Die Vergesellschaftung mit eher (derb) humoresken Texten deutet bereits darauf hin, dass das Ganze wohl doch im Bereich des absurden Erzählens angesiedelt gesehen wurde. Dennoch bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack, der vermutlich durch die Transkription der Griselda-Erzählung aus Dietrich Marolds 1608 verfassten Schmahl Vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN nicht unbedingt versüßt wird. So oder so gesehen, der Stoff und seine Adaptionen sind eben nicht nur Literatur-, sondern immer auch Sozialgeschichte.

Linus Möllenbrink widmet sich unter dem Titel Retextualisierung, historische und intertextuelle Anspielungen ebenfalls Marolds Schmahl Vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN, nimmt diesen aber als Gesamtwerk in den Blick und verharrt nicht bei der Einzelbetrachtung einer der dort aufgenommenen Erzählungen. Der Verfasser hebt hierbei neben den interessanten Verweisen auf Typologisierung und Brechung, die sich im Kasten finden lassen, insbesondere den absonderlichen Umstand hervor, dass die Marold’sche Textsammlung in einer Zeit zusammengetragen wurde, in der der Druck zum Literatur verbreitenden Standard geworden war, selbst allerdings nur handschriftlich vorliegt. Möllenbrink verweist in diesem Zusammenhang auf den Individualismus Marolds, ohne dieses Paradoxon jedoch wirklich auflösen zu können. So bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass das Werk trotz seiner „vielfältigen Lektüreangebote wohl nie von einem zeitgenössischen Leser rezipiert wurde“.

Auch der letzte Beitrag des Bandes – Marolds Kreuz. Zur Adaption des Buchtyps Schwanksammlung im Roldmarsch Kasten – widmet sich dem ambitionierten Schmalkalder Sammler und Autoren Dietrich Marold. Der Autor Michael Waltenberger geht dabei in erster Linie der Biographie Marolds nach und verknüpft den Kasten mit den wenigen anderen überlieferten Werken dieses offenkundig sehr eigensinnigen Mannes. Dabei werden Besonderheiten in den Blick genommen, die biographische Brüche wie auch Sozialkritik erkennen lassen. Und spätestens nach diesem dritten Beitrag scheinen der Roldmarsch Kasten und ebenso sein Verfasser einer besonderen Betrachtung wert zu sein.

Das vorliegende Buch ist mindestens so faszinierend wie sein Kernthema, die Sammlung von Schwänken, wobei die eingangs angesprochene Fragwürdigkeit des Absolutheitsanspruchs dieses Terminus bestehen bleibt. Es wäre sicherlich geschickter gewesen, von ‚Kurzprosa‘ zu schreiben, denn vieles von dem, was thematisiert wird, lässt sich nur sehr bedingt unter ‚Schwank‘ subsumieren.

Gleichwohl ist das Ganze eine spannende Angelegenheit und es braucht deutlich mehr Zeit, den Beiträgen gerecht zu werden, als dies auf den ersten Blick erscheint. Mintunter mag der Eindruck entstehen, dass mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden, aber wenn das nicht mit dem Begriff der Wissenschaft einhergeht, was dann? Die Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch haben sicherlich ihre Schwächen, die mitunter sogar recht prominent sind, denn die Komplexität des formulierten „Medienumbruchs“ wird nur bedingt adäquat angegangen, sodass gerade hinsichtlich dieses Aspekts der Eindruck des Plakativen nicht immer beseitigt werden kann. Aber die aufgenommenen Beiträge bieten so viel an (Frage-)Stoff, dass genügend Spielfläche bleibt, um sich dem angegangenen Themenkomplex konstruktiv zu nähern. Und nicht zuletzt macht bereits auch der erschwingliche Preis das Buch selbst und gerade für ‚Weiterdenkende‘ interessant.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Seraina Plotke / Stefan Seeber (Hg.): Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch. Transformationen eines sequentiellen Erzählparadigmas.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
334 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346546

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