Melancholien des Seins und der Kunst

Zur kritischen Ausgabe von Karl Philipp Moritz' Meisterwerk "Anton Reiser"

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Philipp Moritz hat in seinem großartigen Roman "Anton Reiser" einigen bis heute relevanten literarisch-psychologischen Themen wie Melancholieursachen, Zeitempfinden, Raumwahrnehmung und der Wirkung sozialer Mechanismen eine so prägnante Form gegeben, dass diese als Spur durch die Geschichte der seitherigen Literatur dienen kann. Das Hauptwerk des spätaufklärerischen und proto-romantischen Autors, 1785 bis 1790 in vier Büchern publiziert, beansprucht mittlerweile den Rang eines Klassikers und stellt einen der bemerkenswertesten deutschsprachigen Beiträge zu einer Anthropologie der Entstehungsgründe und Erscheinungsweisen der Melancholie dar. Ein literarisches Kunstwerk vor allem auch, weil es eine überzeugende neue Sprache für eine neue Idee fand, ein Roman, dessen Bilder und Metaphern für die Beschreibung der Melancholie und das Verstehen von Zeitempfindungen oder des Raumes noch heute von größter Anrührungskraft sind. Der Roman profiliert - unter anderem auch durch die autobiografische Anlage - neben pietistischer Introspektion als Ausgangspunkt der Hinwendung zum Ich und deren Kritik auch die Programmatik einer Verbindung von ästhetischer und die 'Seele' zergliedernder Formensprache. Sie weist weit nach vorne und formuliert soziale und psychologische Themen des 19. und 20. Jahrhunderts bereits in einer Weise, die später nur von wenigen Ansätzen (Sozialkritik, Psychoanalyse, et cetera) eingeholt wurden.

Mit der Darstellung der Autobiografie verknüpft ist die Hervorhebung der Kindheit und Jugend als formierender Lebensphasen für alle später auftretenden Deformationen und Abweichungen von idealen Entwürfen, deren Berechtigung Moritz zugleich in Frage stellt. Bereits als Kind erlittene Demütigungen, Armut, Verachtung und Ausbeutung treten im Roman als Agens des Melancholie verursachenden 'Schicksals' auf. Reisers Biografie ist die der Melancholie und des Wunsches nach ihrer Überwindung durch Anerkennung und soziale Sicherheit.

Moritz' literarischer Blick auf die Psychopathologien seines eigenen Charakters ist deshalb so außerordentlich, da er sowohl schonungslos aufdeckend und zugleich differenzierend analysierend die Facetten der Melancholie als soziale Erscheinung innerhalb der Erzählung auch in ihrer Genese zu erklären sucht - in Übereinstimmung mit seinen parallelen Bemühungen, eine methodisch angeleitete und überprüfbare vergleichende Analyse der menschlichen Psychologie zu etablieren. Das von dem Psychologen und Schriftsteller in dieser Absicht entworfene "Magazin zur Erfahrungsseelenlehre" (1783-1793) sammelte Fälle und Erklärungen menschlicher Besonderheiten - und Moritz wurde nicht müde zu betonen, dass solche Beispiele einen erheblichen Beitrag zur 'moralischen Medizin' darstellten, von der ein größeres wissenschaftliches Verständnis der individuellen Schicksale und Biografien sowie ihrer gesellschaftlichen Kohäsion zu erwarten sei. Das Panorama der Phänomene, die der "Anton Reiser" als Buch und sein Held als Gestalt abschreiten, entfaltet sich zwischen Spannungsbögen wie Religion und Individualität, Sprache und Denken, Sozialität und Deformation, Sucht und Vertrauen. Allein die Aufmerksamkeit für diese Aspekte sichert dem Buch seine ungebrochene Bedeutung auch für eine heutige Leserschaft. Nicht zuletzt eröffnet der Roman einen Blick auf eine norddeutsche Landschaft des Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in der die weiteren Themen unter anderem der Theatromanie, der Religiosität, des Bildungswesens, den Hintergrund zur Folie der psychologischen Thematik abgeben.

Wie mit der Herausgabe seiner Schrift über die antiken römischen Festtage (siehe literaturkritik.de Nr. 10/2006 ) ist nun mit der etwas verspäteten Edition des "Anton Reiser" (sie war für Oktober 2006 angekündigt, wurde aber erst im Frühsommer 2007 ausgeliefert) im Rahmen der Kritischen Moritz-Ausgabe (KMA) ein weiterer außerordentlicher Beitrag zum Verständnis dieses aufregenden Autors der Epoche zwischen Spätaufklärung und Romantik geleistet worden. Der nach den Erstdrucken präsentierte komplette Text wird von einem 700-seitigen Kommentarband ergänzt, der auf zahlreichen Gebieten sowohl die bisher erforschten Hintergrundkenntnisse bereitstellt, aber über diese hinaus entscheidende neue Materialien herbeibringt, die vor allem den historischen Kontext von Teilen der Moritz'schen Biografie erstmals an das Licht der Öffentlichkeit treten lässt.

Der Herausgeber des Bandes, Christof Wingertszahn, Mitherausgeber der KMA und Leiter der Berliner Arbeitsstelle, hat insbesondere zur die Kindheit und Jugend Moritz' entscheidend prägenden quietistisch-separatistischen Umgebung der Familie Dokumente und Briefzeugnisse gefunden, die angesichts der biografischen Anlage des Romans eine erhellende Wirkung auf die Neulektüre ausüben. Nicht nur zur ausbeuterischen und traumatisierenden Behandlung des jungen Lehrlings bei dem Braunschweiger Hutmacher Lobenstein, sondern auch zu zahlreichen anderen Details hat Wingertszahn in norddeutschen Bibliotheken und Schweizer Archiven Entdeckungen zu den Hintergründen des Romans und der Biografie des Autors machen können. Im Überblicks- und auch im Stellenkommentar werden einige der eher marginal auftretenden Figuren wie der alte Tischer oder der Quietisten-Führer von Fleischbein plastisch als historische Gestalten präsentiert, die real auf Karl Philipp Moritz einwirkten.

Darüber hinaus bietet der Überblickskommentar Quellen zur Gattung der Autobiografie im späten 18. Jahrhundert (Jung-Stilling, Adam Bernd) sowie Hinweise zur Entstehungsgeschichte der vier Bände, plausible Skizzen der philologischen Einordnung des autobiografischen psychologischen Romans sowie zur veränderten Konzeption des 4. Bandes des unvollendet gebliebenen Romans. Erwähnt seien als bemerkenswerte Ergänzungen unserer Kenntnisse über die Rezeption des Romans weiterhin die Abdrucke der in dieser Breite noch unbekannten zeitgenössischen Rezensionen sowie seine literarische Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart. Die wachsende Moritz-Leserschaft kann nur beglückwünscht werden zu dieser erfreulichen Bereicherung und Kontextualisierung des einzigartigen "Anton Reiser".

Die beiden Bände einer traditionellen kritischen Ausgabe haben ihren Preis; billigere Ausgaben des Romans sind erhältlich, aber wer von dem Reichtum der Forschung profitieren will, wird auf diese beiden Bände und damit wohl meist auch auf eine gute Bibliothek angewiesen bleiben. Wird das Ergebnis der historischen und kritischen Forschung in Buchform vorgelegt, so ermutigen die Beispiele anderer medialer Träger nicht unbedingt zu einem möglichen Medienwechsel. Eine Hörausgabe des "Anton Reiser" jedenfalls aus dem Verlag Hoffmann und Campe hinterlässt einige Fragezeichen. Zunächst dauert es einige Zeit, bis der Leser Martin Wuttke - ein ausgezeichneter Schauspieler - einen Ton findet, der die anfänglich allzu gesuchte Einfachheit der Betonung hinter sich lässt, um dann hin und wieder trotz der Moritz'schen Variierung der Satzzeichen und der Verschachtelung der Nebensätze dennoch etwas monoton zu geraten. Zum anderen wissen wir nicht, welchen Text er liest: es gibt Lese- und Aussprachevarianten, längere Textpassagen werden ausgelassen. Jedenfalls informiert uns das kleine 8-seitige Begleitheft, das immerhin die Vorreden zu den vier Bänden abdruckt, nicht über die Kriterien der Auswahl, noch sagt es uns überhaupt, dass hier nur Ausschnitte des "Anton Reiser" gelesen werden (dies ist nur aus dem Hinweis des auf dem Schuber abgedruckten Impressums ersichtlich). Das Hörbuch mag zwar als eine vor 20 Jahren noch kaum vorstellbare Variante der Publikation erscheinen, dennoch bietet es in diesem Falle nur einen unbefriedigenden Torso des Textes.


Titelbild

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: Anton Reiser. 2 Bände, Text und Kommentar.
Herausgegeben von Christoph Wingertszahn.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.
1300 Seiten, 234,00 EUR.
ISBN-10: 3484157011
ISBN-13: 9783484157019

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. 6 CDs.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
35,00 EUR.
ISBN-13: 9783455304701

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