Die Gesellschaft der Bilder – Bilder der Gesellschaft

Hubert Burdas „In medias res“ versammelt „Zehn Kapitel zum Iconic Turn“

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wo immer sich Kommunikation verändert, verändern sich Fundamente der Gesellschaft.“ Mit der Erfindung des Buchdrucks wird der „Semantic Turn“ eingeleitet. Gegenwärtig spricht man vom „Iconic Turn“. Dies wird einerseits durch den Buchdruck, andererseits durch das Fernsehen und in weiterer Folge durch den Computer und das Internet nachempfunden. Wie es zu dieser Verschiebung kam und dass die Bilder die Sprache noch nicht verdrängt haben, in der Gegenwart jedoch die visuelle Kultur überwiegt, zeigt „In medias res. Zehn Kapitel zum Iconic Turn“.

Im Jahr 2002 fand eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe unter dem Titel „Das Neue Bild der Welt“ an der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt. Die zunehmende Wichtigkeit von Bildern in den letzten Jahrzehnten und damit verbundene visuelle Kommunikation wurde im Zusammenhang mit Text diskutiert. Das daraus entstandene Buch vereint Gespräche zwischen Herausgeber Hubert Burda und Friedrich Kittler, Peter Sloterdijk, Bazon Brock, Horst Bredekamp, Hans Belting sowie Wolfgang Ullrich.

Bilder, welche ursprünglich ortsgebunden waren, wie zum Beispiel Michelangelos Malereien in der Sixtinischen Kapelle, sind heutzutage zunehmend transportabel geworden. Als die Schrift im 15. Jahrhundert den gleichen Charakterzug durch die Erfindung des Buchdrucks aufweist, erkennt Luther die Sprengkraft der Entwicklung und lässt seine Thesen in ganz Europa kursieren. Die breite Masse hat somit erstmals Zugang zur Schriftkultur. Hinsichtlich der visuellen Kultur kann man hier einige Parallelen ziehen. Historisch gesehen hat das Fernsehen den Blick aus dem Fenster ersetzt. Nach Burda ist nun der Bildschirm das Fenster, zuvor waren es Bilder von Malern wie beispielsweise dem Niederländer Jan van Eyck durch detailgetreue Darstellungen von Bildhintergründen und -tiefen. In Zuge dessen wird zwischen „effigies“, dem Abbild, und dem „image“, was dem Begriff des heutigen Image ähnelt, unterschieden.

Burda skizziert eine Mediengeschichte des Bildes. Für die Malerei im 15. Jahrhundert wurden verschiedene Hilfsmittel gefunden. Von helfenden Spiegeln und Linsen über die Camera obscura kam man bis zum fixierten Bild, schließlich der Erfindung von Joseph Nicéphore Nièpce: dem Fotoapparat. Die Gebrüder Lumière brachten die Bilder in Bewegung. Auf den Kinematografen folgte das Fernsehen, welches das Leben als Blick aus dem Fenster ersetzt und alles möglich werden lässt.

Das Internet ermöglicht neue soziale Netze mittels individueller Mediennutzen wie E-Mail oder Facebook. Somit sind Bilderspektakel nicht mehr nur durch das Fernsehen zu sehen, wie zum Beispiel das Formel 1 Rennen in Bahrain oder Abu Dhabi, sondern auch eigene Bilderwelten können durch Facebook erschaffen werden.

Des Weiteren verweist der Band auf die Software Windows, welche zur gleichen Zeit entwickelt wurde als Roger Sperry für die Entdeckung der Funktionsweisen der beiden Hirnhälften den Nobelpreis überreicht bekam. Hinzu kommt, dass der „Iconic Turn“ den „Semantic Turn“ nicht ablöst – Bild und Text können eine Einheit bilden. Wichtig dabei ist, in welchem Rahmen das Bild gezeigt wird. Schließlich ist der Kontext für die Bedeutung bestimmend. Diesen Umstand haben auch moderne Künstler erkannt. Indem sie Kunst ständig durch deframing in einen neuen Kontext setzen, erlangt sie eine neue Bedeutung. Erst wenn Bilder keinen Bezugsrahmen aufweisen, kann man von Bilderflut sprechen. Das gleiche gilt jedoch auch für Text. So setzen im Fernsehen die verschiedenen TV-Sender den Bezugsrahmen, bei Nachrichten etwa Zeitungen wie zum Beispiel „Die Zeit“. In allen Medien können also Bilder auftauchen. Aber „im Gedächtnis bleibt nur eine Vergangenheit, die in einem Bezugsrahmen rekonstruiert werden kann“. Die Kultur der Bilder umgibt uns zur Zeit nahezu in jeder Sekunde. Ihr Machtpotential gleicht dem der Schrift beziehungsweise der Verbreitung derselben durch die Erfindung des Buchdrucks. Burda zeichnet die Kraft der Bilder mit den Münzen des Kaisers Augustus nach, welche sein Porträt unter die Menschen brachten, um somit sein Bild in der Öffentlichkeit zu bilden und ihn bekannt zu machen.

Durch die technologischen Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts ist individuelle Kommunikation möglich. Die Herstellung von Bildern ist nicht mehr an Dunkellabors gebunden, sondern sie können von jedem Einzelnen schnell angefertigt und versendet werden. Die Verbreitung von Bildern ist mehr als je mit Macht verbunden. Schließlich entscheidet der Bekanntheitsgrad des Gesichts über Werbeaufträge und Berufsaussichten. Prominente sind von den Bildern, also dem Image, welche sie kreieren, abhängig. Nun sind es nicht mehr Münzen, sondern Pressepräsenz oder Autogrammkarten.

In den Medien wechseln belastende Bilder nicht belastende ab. Entlastende Bilder können Berge, eine grüne Wiese oder Meeresbucht zeigen. Im Gegensatz dazu ein Kriegsschauplatz, Häuser die brennen, Naturkatastrophen et cetera. Viele Medien machen sich die Abwechslung jener charakteristischen Merkmale zu eigen. Je nachdem welcher Eindruck beim Zuseher entstehen soll, verwendet man entsprechende Bilder. Soll der Rezipient geschockt sein, werden diesem belastende Bilder gezeigt, soll er beruhigt und unbesorgt sein, wird er entlastende Bilder sehen. Edmund Burke sieht das Erhabene als wesentliches Merkmal unserer Wahrnehmung an. Dies finde man in belastenden Bildern des Schreckens und Grauens sowie in entlastenden Bildern des Überwältigenden. Das Erhabene ist der Grund, dass wir uns erinnern können. In Museen sind viele Räume so eingerichtet, dass man sich erhaben fühlt. Das Schöne (wie auch das Furchtbare) ist bereits längst zum Umsatzträger geworden.

Auch „die Mächtigen einer Gesellschaft, ob aus Wirtschaft, Politik, Kultur oder Entertainment, lassen sich heute gern vor einem Kunstwerk abbilden. Ob bei Angela Merkel vor einem Kokoschka oder Gerd Schröder mit einem Baselitz oder Immendorff. Es heißt, dass es trotz des Siegeszugs der Fotografie nach wie vor nicht schlecht ist, ein Stück Kunst im Hintergrund zu haben: wie ein Zitat vergangener Zeiten, in denen das gemalte Porträt die einzige Form der Überlieferung war.“

Genauso wird Macht durch Architektur demonstriert, wie zum Beispiel in der wirtschaftlichen Weltmacht in China durch das Koolhaasgebäude in Peking. Dabei ist das Bild immer mental. Man muss aber über den Rahmen entscheiden, in welchem das Bild transportiert werden soll. „Unser Körper ist ein Medium, um innere Bilder zu erzeugen oder um äußere Bilder zu empfangen. Dies ist der Unterschied von ‚eidos‘ und imago‘“

Im ersten Gespräch mit Friedrich Kittler stellt sich heraus, dass die Bilder aus dem Inneren kommen und durch die eigene Vorstellung zu existieren beginnen. Facebook ist keine Fortführung einer digitalen Ästhetik, sondern hauptsächlich in den U.S.A. eher eine verzweifelte Reaktion der politisch ohnmächtigen Bürger. Hier fehlt eine Erläuterung, warum sich in den U.S.A. dieser Umgang mit Facebook im wesentlichen von Nutzern anderer Länder unterscheidet. Zusätzliche stellt sich die Frage welche Rolle die Bilder oder bildhaften Darstellungen haben. Kittler steht dem Begriff „neue Medien“ kritisch gegenüber und bevorzugt „Computerisierung“. Im Zuge dessen fragt Burda nach dem ästhetisch neuen Blick von oben, wie etwa bei Google Street View. Beide scheinen keinen Unterschied zwischen Google Street View und Google Earth, mit dem man „wolkenlos“ auf die Erde zoomen kann, zu machen. Kittler betont hier den Drang der Überwachung; alles zu sehen, alles zu können, alles wahrzunehmen, wie Götter.

Im nächsten Dialog betont Peter Sloterdijk, dass es die „kleinen Dinge“ sind, welche Medienumbrüche generieren. Als Beispiel führt er die Entwicklung der Konsonantenschrift etwa 100 Jahre vor Plato durch die griechische vokalalphabetische Schrift an. Die Erfindung des Buchdrucks könnte einmal ebenso „klein“ gesehen werden. Heutzutage leben wir in einer postskriptualen Gesellschaft und in der Zeit des „Iconic Turns“. Die Welt der Bilder hat von uns schon längst Besitz ergriffen. Nach Sloterdijk umfasst uns die Medienwelt mit ihren Bildern therapeutisch. Ob jedoch umfassend von der Medienkultur gesagt werden kann, dass sie einer Therapie gleicht, bleibt dennoch fraglich. Zumindest müsste man an dieser Stelle die produktive Aneignung der Mediennutzer thematisierten, welche durch die Unterstellung einer Therapie der Loser (Peter Sloterdijk) fragwürdig erscheint. Die Rezipienten der Massenkultur sind nach Sloterdijk passiv. Was ist mit dem produktiven Potential jedes Einzelnen?

„Auf der alltagstauglichen Ebene meint,Iconic Turn‘: vom Weltbild zur Bilderwelt.“ So lautet die Definition von Bazon Brock. „Die allgemeine Zustimmung zum Gegenstand der Mitteilung wird durch das Bild und nicht mehr durch Begriffe organisiert.“ Herodot ist derjenige, der einführte, dass man etwas mit eigenen Augen gesehen haben muss, um darüber sprechen zu können. Durch Bilder kann man schneller und leichter kommunizieren. Einerseits ist dies ein Vorteil, andererseits kann dies allerdings auch zum Nachteil werden, da Bilder leichter irreführen. Platon kritisierte zu seiner Zeit, dass der Mensch sich von der Wahrnehmung deshalb leichter täuschen lässt, da unser Augensinn meist Wahrheit suggeriert. Die bildliche Wahrnehmung und Erinnerung müssen durch Sprache und Kritik erst vollbracht werden.

Horst Bredekamp erklärt, dass es wichtig ist, immer einen Rahmen für Bilder zu haben. Erst wenn keine Rahmen existieren, kann man von Bilderflut sprechen. Durch Technologien wie Facebook werden Rezipienten „im vergleichenden Sehen“ geschult und Rahmen werden vorgegeben. Darüber hinaus entsteht für die Bilder ein soziales Umfeld. Entgegen der Auffassung von WalterBenjamin transportiere jede Kopie die Aura mit. Zwischen Original und Reproduktion gibt es keinen Unterschied, so Bredekamp. Aus der Reproduktion der Bilder kann ein Kult entstehen, welcher die Aura weder mindere noch zerstöre. So auch das Zusammenkommen bei einer Fußball-Weltmeisterschaft vor einer Leinwand, als wäre man am „originalen Ort“ des Geschehens.

Im Gespräch mit Hans Belting steht im Vordergrund, dass der Zugriff auf die Bilder sich durch den Betrachter vollzieht. Konträr zu Sloterdijk sind für ihn die Rezipienten aktiv und für die Interpretation verantwortlich. Bilder sind mehr und mehr mobil und veränderbar geworden. Der Betrachter kann eingreifen, wodurch die Differenz zwischen beiden aufgehoben wird. Die Produktion sowie die Inhalte sind jedoch kulturell codiert. Das Leinwandbild war zum Beispiel eine europäische Erfindung, welche in Japan Probleme verursachte. Durch den Screen werden heute zwar Bilder globalisiert, doch es bleibt spannend, ob die Technik auch überall gleich genutzt wird. Heutzutage ersetzt den Blick aus dem Fenster eine doppelseitige Programmzeitschrift beziehungsweise das Fernsehen. In Japan wiederum, gibt es gewöhnlich keine Fenster, sondern nur Schiebetüren, um mit dem Außen im Fluss verbunden zu sein.

In einem Dialog mit Wolfgang Ullrich erklärt Hubert Burda seinen biografischen Zugang zur Kunst und seinen Beginn als Verleger. „Die meisten Fehler entstehen, wenn man glaubt, dass in einem neuen Medium mehr oder minder so weitergemacht werden kann wie bisher.“ So kann man im Internet nicht ein zweites Mal seinen Inhalt auf einer Seite füllen und dort Werbung machen. Unsicher wird, ob die Leute für Nachrichten überhaupt noch zahlen wollen. Das Internet ist somit ein ganz anderes System, auf das man sich einstellen muss, es ist ein neuer Rahmen. Und dieser Rahmen muss nach seinen charakteristischen Eigenschaften behandelt werden, erst dann hat man auch die Möglichkeit in diesem neuen Medium auf lange Sicht zu überleben.

„In medias res“ kommt, dem Titel gerecht, ohne Umschweife zur Sache und veranschaulicht mit verschiedenen Bildern den theoretischen Teil. Dem Beginn des „Iconic Turns“ ist die Schrift beziehungsweise eine Seite der Gutenberg-Bibel vorangestellt. Dadurch gelingt es dem Herausgeber Parallelen zwischen der schriftlichen und ikonischen Wende darzustellen. Er zeigt dadurch die nebeneinander laufenden Paradigmenwechsel. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Gesellschaft durch die Kommunikation verändert. Das Buch stellt eine Übersicht des „Iconic Turns“ dar, welcher noch lange nicht abgeschlossen sein wird.

Titelbild

Hubert Burda / Friedrich A. Kittler / Peter Sloterdijk / Horst Bredekamp / Hans Belting: In medias res. Zehn Kapitel zum Iconic Turn.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2010.
202 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783770551255

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