Die Chiffre der planetarischen Technik
Keine Stunde Null in Todtnauberg: Soziologische Studien helfen dabei, die antisemitischen Symbole der ‚Seyns‘-Philosophie Martin Heideggers zu entschlüsseln
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSpitzenleistungen der aktuellen Heidegger-Apologetik
In Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“ (1985) formuliert es der Protagonist klipp und klar: „Die Heideggerepisode ist aber doch als Beispiel für den Philosophenkult der Deutschen aufschlußreich. Sie klammern sich immer nur an die falschen, sagte Reger, an die ihnen entsprechenden, an die stupiden und dubiosen.“
Die erregte Debatte um Heideggers posthum edierte „Schwarzen Hefte“ belegt, dass literarische Karikaturen mehr Wahrheit vermitteln können als jede wissenschaftliche Studie. Wer verfolgt, mit welchen Argumenten die Zunft der Heideggerianer an ihrem Idol festhält, reibt sich verwundert die Augen: Es ist, als hätten sich die Fachleute vorgenommen, Bernhards Heidegger-Satire so weit wie möglich zu übertreffen.
Die Krone gebührt dem Literaturwissenschaftler Silvio Vietta, der in seiner Verteidigungsschrift mit dem blumigen Titel „,Etwas rast um den Erdball…‘. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik“ ebenfalls mit einigen Zitaten aus „Alte Meister“ einsteigt. Allerdings vergisst Vietta nicht, textkundig darauf hinzuweisen, dass Bernhards Protagonist, der ewige Grantler und Alleskritisierer Reger, einräumt, mit Heidegger verwandt zu sein: „Alles ist Komödie, auch in Sachen Heidegger“, freut sich Vietta über diese literarische Ironie, „niemand ist draußen“.
Vietta selbst ist zwar nicht direkt mit Heidegger verwandt, aber seine Mutter Dorothea ging nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Philosophen fremd. Familienanbindung bestand also schon, und wer Viettas Buch liest, dem vergeht das Lachen darüber schnell. Das engagierte Pamphlet soll dem Leser mit seinen permanenten Kursivierungen und massiven Redundanzen einhämmern, wie schief gewickelt alle jene derzeitigen Heidegger-Kritiker seien, die den Antisemitismus und den Nationalsozialismus des Verfassers der „Schwarzen Hefte“ anprangern.
Geradezu obsessiv wiederholt Vietta ein angeblich entlastendes Zitat Heideggers aus einem Brief an seine Frau Elfride, in dem der Marburger Extraordinarius 1928 über seine Studenten notiert: „Freilich: die Besten sind – Juden“. Nicht nur, dass die Phrase, die Vietta als Leitmotiv seines Buchs immer wieder triumphierend präsentiert, an den typischen Satz vieler Antisemiten erinnert, sie hätten nichts gegen Juden, einige ihrer besten Freunde seien Juden. Vietta entgeht zudem, dass die Mehrdeutigkeit des Bindestriches in dem Zitat einer überzeugten Antisemitin wie Elfride Heidegger nahelegen konnte, die Mitteilung im Sinne einer zynischen Verspottung des dekadenten Bildungsstandes der Marburger Studierenden zu lesen.
Die begeisterte Identifikation Viettas mit Heidegger geht sogar so weit, dass er dessen Antisemitismus dort, wo er nicht mehr zu leugnen ist, als legitime „Juden-Kritik“ verteidigt. Vietta scheint anzunehmen, dass es ein internationales Judentum gebe, dessen ‚berechtigte‘ Anklage man Heidegger nicht vorwerfen könne. So wiederholt er ständig das briefliche Lamento Heideggers aus dem Jahr 1920, in seiner oberschwäbischen Geburtsstadt Meßkirch werde mit Vieh und Agrargut spekuliert, wobei die Gegend mit Juden und Schiebern „überschwemmt“ sei. Vietta sekundiert gutgläubig: „Offenbar standen die Juden in Deutschland in diesem Geschäft an vorderster Front.“
Heideggers Beobachtungen sind für Vietta Zeugnisse einer „Kulturkritik“ an den „Funktionen“ der Juden in der sich modernisierenden deutschen Gesellschaft. Er moniert lediglich, Heidegger sei entgangen, dass die „Juden kulturgeschichtlich in solche Rechner-Berufe gedrängt wurden“, weil ihnen klassische Handwerkstätigkeiten verwehrt geblieben seien. Dass ‚die Juden‘ als gewiefte „Rechner“ aber tatsächlich Anteil an jener „Machenschaft“ hatten, als die Heidegger eine Entwicklung geißelt, die Vietta wiederum als diejenige der heutigen Globalisierung begreift, wird von dem Verteidiger keineswegs in Zweifel gezogen. So könne uns Heidegger „mit seiner Kritik an der überbordenden Herrschaft“ des ‚rechnenden Denkens‘ ein „guter Weggefährte und auch ein Wegweiser“ sein.
Die Aufregung um den expliziten Judenhass in den „Schwarzen Heften“, die Vietta als ein „in Tinte gegossenes Trost-Buch“ einstuft, kann der glühende Verehrer daher nicht nachvollziehen: „Genau besehen“ seien die „Schwarzen Hefte“ ebenso wie „die frühere Juden-Kritik“ Heideggers „ein Stück Kulturkritik“, wie er zu betonen nicht müde wird, und eben „kein biologischer Antisemitismus“. Es sei unerträglich, dass in Deutschland „ein und derselbe Begriff des Antisemitismus die furchtbarste Form des Völkermords“ genauso bezeichnen solle wie Heideggers „legitime und lässliche Kritik an den Juden, die man ebenso muss äußern können wie eine Kritik an jeder anderen Volks- und Religionsgruppe“. Was wohl wirklich einmal gesagt werden musste: Deshalb sei Heidegger übrigens auch „nie ein Nationalsozialist“ gewesen, setzt Vietta hinzu.
Diese Behauptung ist angesichts von Heideggers Freiburger Rektorat im Jahr 1933 kühn. Er nannte es nach 1945 wiederholt einen „Irrtum“, wobei der Philosoph stets betonte, er habe 1933 daran gelaubt, „jetzt sei die Zeit, nicht mit Hitler, aber mit einer Erweckung des Volkes in seinem abendländischen Geschick anfänglich – geschichtlich zu werden“ (Schwarze Hefte 1942-1948, Anmerkungen I). Sein Versehen sollte also nicht etwa darin bestanden haben, für eine antisemitische Ideologie zu optieren: „Das war und bleibt eine Entscheidung, die wesentlicher war als alles Danebenstehen und Naserümpfen derer, die es von ihrer ‚christlichen‘ oder ‚liberalen‘ oder ‚konservativen‘ oder auch ‚sozialdemokratischen‘ Partei her ‚besser‘ wußten“, mault Heidegger. Sein „Irrtum von 1933“ sei es nur gewesen, zu dem Zeitpunkt nicht zu realisieren, wie „wenig vorbereitet die Käfte“ waren und dass seine eigene Vision dieser Revolution deshalb noch nicht „unmittelbar“ durchdringen konnte. Nach 1945 lenkt er sogar trotzig ein, „politisch im weltgeschichtlichen Sinne“ sei die Entscheidung „kein Irrtum“ gewesen (Anmerkungen II).
Wenn Vietta glaubt, er könne dennoch abstreiten, Heidegger sei Nationalsozialist gewesen, so versucht er dies durch eine genauere Definition des Begriffes zu untermauern: Da der Nationalsozialismus für einen ‚biopolitischen‘ Antisemitismus und Rassismus stehe und Heidegger angeblich kein Rassist gewesen sei, findet es Vietta abwegig, den Philosophen als Anhänger des „Dritten Reichs“ zu kritisieren. Man darf an der Stelle allerdings auf Per Leos vielfach gelobte Antisemitismus-Studie „Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940“ (2013) verweisen: Für die geistige, esoterisch gesonnene Elite der Zeit, zu der Heidegger zweifelsohne zählte, war der Nationalsozialismus gerade als Projektionsfläche für die eigene ‚Weltanschauung‘ reizvoll. Der Nationalsozialismus war demnach in seiner Ideologie keinesfalls monolithisch, sondern eröffnete einen vagen Kommunikationsraum, in dem insbesondere Akteure wie Heidegger einen „konkreten und kontextabhängigen Sinn“ ausfantasieren konnten, um „alle Dimensionen des Lebens, einschließlich der politischen, unter die gedankliche Einheit einer ‚Philosophie‘ zu fassen“, so Leo. Weitgehend immun gegenüber einer solchen „Weltanschauungskultur“ waren demnach zunächst genau jene Gruppen, von denen sich Heidegger in seinen „Anmerkungen“ so indigniert abwandte – Christen, Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten. Akuter anfällig für die Faszination des Nationalsozialismus waren hingegen diejenigen Kreise, die sich laut Leo eben „nicht an dezidiert liberalen, marxistischen oder katholischen Ideen orientieren wollten“.
Exemplarisch lässt sich die Wirkungsweise dieses in sich graduell offenen ideologischen Systems des Nationalsozialismus laut Leo an der Funktionsweise des Antisemitismus festmachen: „Gerade weil es keine Instanz gab, die allgemeinverbindlich klärte, was ein Jude sei und warum genau die Juden als schädlich erachtet wurden, konnte sich jeder das Seinige zu dieser Frage denken. Die inhaltliche Unschärfe des negativen Schlüsselsymbols ‚Jude‘ erlaubte es, situationsabhängig zu entscheiden, was genau man darunter verstehen wollte.“
Mit anderen Worten: An Gaskammern zur Beseitigung dieses ‚Problems‘ mochte man persönlich noch nicht gleich gedacht haben, aber wenn man davon erfuhr, zuckte man mit den Achseln oder integrierte den Massenmord sogar hähmisch in das eigene Gedankengebäude, wie Emmanuel Faye, Sidonie Kellerer und François Rastier in einem kritischen Artikel über Heideggers Gesamtausgabe der „Anmerkungen“ bereits kritisiert haben (in der taz vom 9. April 2015).
Man darf zudem nicht vergessen, auf welch unerträgliche Weise Heidegger nach 1945 eine beispiellose antisemitische Täter-Opfer-Umkehr betrieb, indem er den Holocaust relativierte: Weit schlimmer als die industrielle Judenvernichtung erscheint ihm nach Kriegsende, dass dem deutschen Volk nicht erlaubt werde, sein „Eigenes“, sein „Wesen“ und sein „Seyn“ zu finden. Schuld daran sind in diesen Aufzeichnungen, die vor stupiden NS-Metaphern für das ‚Weltjudentum‘ nur so strotzen, der „Terror des endgültigen Nihilismus“, der „noch unheimlicher“ sei als „alle Massivität der Henkerknechte und der KZ“. Heidegger attackiert die „planetarische Plattheit des Meinens und Redens und Schreibens“, das internationale „Literatentum“ und die „Weltpresse“. Das deutsche „ratlose Kriechen im Schatten“ der „Weltöffentlichkeit“ als „Organisation der Seynsvergessenheit“ kann für ihn schließlich nur eines heißen: „Ahnt ‚man‘, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es ‚die Welt‘ allerdings noch nie ,gesehen‘ hat“? In den „Anmerkungen II“ höhnt der Denker über die Situation nach 1945: „Daß die jetzt in Deutschland, im besetzten wohlgemerkt, in Gang gebrachte Tötungsmaschinerie etwas anderes leisten soll als die vollständige Vernichtung, das können nur noch liberale Demokraten und sogenannte Christen glauben machen wollen.“
Zur spezifischen Symbolik antisemitischer Kommunikation
Wie kann es sein, dass Heideggers offener Revisionismus, seine Relativierung des Holocaust, sein dadurch bereits seit Jahrzehnten – und nicht erst seit der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ – zu Tage tretender Antisemitismus und seine wahnhaften Vorstellungen eines ‚Weltmachenschaftsbetriebs‘ des Judentums von Interpreten wie Vietta noch heute kleingeredet oder sogar als ‚berechtigte Judenkritik‘ gutgeheißen werden? Offensichtlich ist es notwenig, hier grundsätzlicher zu werden und noch einmal genau zu erläutern, auf welcher kommunikativen Basis sich die Sprache der Heidegger’schen „Seynsphilosophie“ an dieser Stelle bewegt. Die permanente Veränderbarkeit sprachlicher Manifestationen des Antisemitismus setzt sich auch in unserer Gegenwart fort und hat offensichtlich bereits bewirkt, dass expliziter Judenhass gar nicht mehr als problematisch empfunden oder selbst von Professoren sogar offen verteidigt wird: Wir kennen dieses Phänomen von der ‚berechtigten Israelkritik‘ aus der Mitte der Gesellschaft, die oftmals nur als eine Chiffre dient, mit welcher der sogenannte sekundäre Antisemitismus mittels einer Umwegkommunikation kaschiert wird.
Ähnlich wie der ,sekundäre Antisemitismus’, der übrigens keineswegs so zweitrangig ist, wie sein Name nahelegen könnte, sind auch Heideggers Äußerungen von einer starken Kommunikationslatenz geprägt, die dazu führt, dass der Autor in veröffentlichten Texten nach 1945 nicht immer ganz explizit macht, worauf sich seine verschlüsselten Bemerkungen über die Weltlage offenbar stets mitbezogen. Gemeint war bei Heidegger ein halluziniertes internationales Judentum, das seiner Auffassung nach die Fäden bei der Vorantreibung eines verhängnisvollen technischen Fortschritts in den Händen halten sollte. Vietta beispielweise übersieht, dass diese „Juden-Kritik“ Heideggers, wie er sie sogar selbst für legitim hält, auf einer antisemitischen Grundanahme basiert. Dazu kann man sogar auf die leitende Definition der zuletzt so umstrittenen Berliner Studie „Antisemitismus als Problem und Symbol“ von Michael Kohlstruck und Peter Ullrich verweisen:
Antisemitische Phänomene sind dadurch gekennzeichnet, dass eine innere Homogenität des Judentums unterstellt wird und Juden als solchen bestimmte negativ bewertete Eigenschaften oder Verhaltensweisen zugerechnet werden. Ein negatives Verhältnis zu dieser Kategorie wird gegenüber einzelnen Personen, Gruppen, dem Eigentum oder Institutionen eingenommen, soweit sie aus antisemitischer Perspektive dem Judentum zugerechnet werden und insoweit als Repräsentanten gelten.
Heidegger vermeidet den im zweiten Teil dieser Definition beschriebenen Schritt, indem er die diffuse Adressierung eines zerstörerisch agierenden ‘Weltjudentums’ nur selten auf einzelne Personen zuspitzt, die er diesem willkürlich zuordnet. Wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, machte er dabei allerdings bei seinem Lehrer Edmund Husserl (1859-1938) an prominenter Stelle eine bemerkenswerte Ausnahme. Zudem kann man angesichts der zitierten Geschichtsklitterungen aus Heideggers „Anmerkungen II“ auf Studien der Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel verweisen, die in ihrem Aufsatz „Der Tatort Sprache in Deutschland. Antisemitismus im öffentlichen Kommunikationsraum“ klarstellt: „Verbaler Antisemitismus liegt vor, wenn historische Fakten, die die Judenvernichtung betreffen, verzerrt oder falsch dargestellt werden und die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust geleugnet oder relativiert wird“. Dies ist eine Definition, die genau das trifft, was Heidegger in seinen „Schwarzen Heften“ macht: „Die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr ist charakteristisch für den Antisemitismus nach 1945: Schuld und Schande für den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch werden abgewehrt bzw. verringert, indem auf jüdischer Seite Täterschaft konstruiert wird.“
Antisemiten verständigen sich mit Hilfe emotionalisierender Symbole. Diese Zeichensysteme sollen für die erfundenen Objekte ihres Hasses stehen und zugleich ohne große Worte für eine möglichst breite Masse von Adressaten verständlich sein. Das ist bei den zitierten Begrifflichkeiten des seinsphilosophischen Esoterikers Heidegger nicht anders. Im Mittelalter war es seit dem 13. Jahrhundert vor allem die „Judensau“, die in der christlichen Kultur in Form von Fresken und Reliefs an Kirchen, Klöstern und Domen modelliert wurde. Damit sollte die verspottete und verfolgte Glaubensgemeinschaft der Juden als unrein, gierig und lüstern dargestellt werden: Judenkarikaturen ritten in diesen Darstellungen auf Schweinen, küssten sie oder saugten an ihren Zitzen. Jüdische Menschen sollten so als niedere Wesen erscheinen, die sich gerne im Kot wälzten, intime Kontakte zu ‚unreinen‘, niederen Tieren pflegten, der Wollust und der Völlerei frönten und in ihrer Sündhaftigkeit mit dem Teufel im Bund waren.
Diese Symbolik der Gefräßigkeit, der Promiskuität und der Unsauberkeit, die Ekel, Empörung, Wut und Hass bei den Rezipienten erzeugen sollte, entwickelte in der wahnhaften Bilderwelt antisemitischer Komunikation unmittelbare Evidenz und wurde in vielfältigen Modifikationen bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen. So wurden ‚die Juden‘ schließlich selbst als Mischwesen mit hybriden Körpern, also mit Schweineohren, Paarhufen und Ringelschwanz dargestellt. Im 19. Jahrhundert tauchten sie bei dem Frühantisemiten Hartwig von Hundt-Radowski als „säuische Nation“ auf, zu einer Zeit, in der die „Judensau“-Karikaturen massenhaft und alltäglich auf Postkarten oder in Witz- und Familienzeitschriften wie „Kikeriki“ und „Fliegende Blätter“ neu aufgelegt wurden. Später wurde das Ostjudentum als Horde schmutziger Schweine imaginiert, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts diffamierte man den deutschen Außenminister Walther Rathenau vor seiner Ermordung durch nationalistische Freikorpssoldaten als „Judensau“.
Im „Dritten Reich“ wurde schließlich die besonders affektheischende Konnotation einer ‚schweinischen Sexualität‘ der Juden betont, die vor allem in der Zeitschrift „Der Stürmer“ propagiert wurde. Die nuancierten Verschiebungen solcher Symboliken sind bis heute zu beobachten: Als die „Süddeutsche Zeitung“ im Juli 2013 einen israelkritischen Artikel mit einer aus dem Zusammenhang gerissenen Karikatur des Zeichners Ernst Kahl illustrierte, die einen „gefräßigen Moloch“ zeige, wie die nur scheinbar neutrale Bildunterschrift der Redaktion den Staat Israel aus der Sicht von „Israels Feinden“ wahrgenommen sehen wollte, gab es zunächst vor allem von jüdischer Seite und aus der traditionell israelfreundlichen deutsche Presse Kritik. War damit doch erneut das Bild gierigier und gefräßiger Juden aufgerufen, das man nicht nur aus dem „Stürmer“ kannte, sondern das letztlich bis auf die mittelalterliche „Judensau“ zurückverwies.
Gerade diese geringfügigen Variationen der Symbolik sind typisch für die antisemitische Kommunikation. Sie erlaubt es aus Sicht der Diffamierer, zwischenzeitlich aufgekommene Tabus zu umgehen, um zugleich uralte Hassbilder wieder salonfähig zu machen. Man bringt dann zum Beispiel eine große, farbig illustrierte Karikatur in der „Süddeutschen Zeitung“, die in krasser Weise an den „Stürmer“ erinnert, und relativiert diese prominente und extrem emotionalisierende Aufmachung mit dem halbherzigen Hinweis, es seien bloß die ominösen „Feinde“ Israels, die den „Juden unter den Staaten“ (Leon Poliakov) so sähen. Wie scheinheilig dieses Feigenblatt ist, lässt sich damit erhellen, dass man sich vorstellt, die „Süddeutsche Zeitung“ würde Angela Merkel auf der Titelseite mit SS-Uniform und Hitler-Bärtchen zeigen, um darunter zu schreiben, dies sei die deutsche Kanzlerin, wie sie ihre ‚Feinde‘ sähen. Selbstverständlich würde eine derartige Illustration in solch einer Zeitung vom Medien-Mainstream sofort in weit gereizterem Maße als Provokation kritisiert, wie nicht zuletzt ein allerdings nur entfernt vergleichbarer Fall auf einem „Spiegel“-Cover zur deutschen Austeritätspolitik in Griechenland zeigte.
Die Liste der seit langer Zeit kursierenden perhorreszierenden Juden-Metaphern ließe sich fortsetzen und in vielfachen Abwandelungen weiter analysieren: So symbolisierte man die Juden als angst- und ekeleinflößende Riesenkraken, als Parasiten und Schädlinge, als Spinnen und Heuschrecken. Weil diese propagandistische Praxis der Denunziation der Verfolgten als Bazillen, Viren, Läuse, Seuchenträger und Insektenplage während der Zeit des „Dritten Reiches“ so wirksam war, dass man buchstäblich dazu überging, das gesamte europäische Judentum mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel zu „vergasen“, waren Symbole wie das der Heuschrecke nach 1945 lange tabu.
Monika Urban zeigt jedoch in ihrer soziologischen Studie „Von Ratten, Schmeißfliegen und Heuschrecken. Judenfeindliche Tiersymbolisierungen und postfaschistische Grenzen des Sagbaren“, wie der ehemalige Vorsitzende des SPD-Bundestagsfraktion Franz Müntefering das abstoßende Heuschrecken-Symbol im Kontext einer verkürzten Kapitalismuskritik seines Wahlkamps im Jahr 2005 wieder neu ins Gespräch brachte: Gemeint sein sollten damit nunmehr skrupellose „Finanzinvestoren“, die „wie Heuschrecken“ über deutsche Unternehmen herfielen, um massenhaft Arbeitsplätze zu vernichten.
Urbans Buch hat trotz seiner teils nur schwer erträglichen Auftürmungen theoretischer Versatzstücke mit gigantischen Fußnotengebirgen den Vorteil, die Geschichte solcher Symbolisierungen stets akribisch nachzuzeichnen, um ihre Tradierung mittels „kritischer Diskursanalysen“ bis in die Gegenwart hinein weiterzuverfolgen. Dabei gerät eine Rhetorik der Dehumanisierung in den Blick, deren Gefährlichkeit von vielen Zeitgenossen übersehen wird, die nicht realisieren, welche Eigendynamik die mediale Verbreitung derartiger Sprachbilder seit jeher zu entwickeln vermochte.
Auch wenn Müntefering mit seiner „Heuschrecken“-Kritik keine Juden angriff, nutzte er damit eine bildliche Form der Polemik, deren strukturelle Ähnlichkeit mit der nationalsozialistischen Rhetorik der Judenverfolgung auf der Hand liegt. Urban demonstriert an dem Beispiel, wie das Heuschrecken-Motiv in der Folge in den Massenmedien erneut zu einem „Kollektivsymbol“ avancierte, das mittlerweile wieder als allgemein legitimiert wahrgenommen wird, weil es gar nicht mehr als Fortschreibung der tabuisierten Ungeziefer-Symbolik des „Dritten Reichs“ erkannt und kritisiert wird. Die „Grenzen des Sagbaren“ haben sich im letzten Jahrzehnt erneut maßgeblich verschoben, und vereinzelte Hinweise auf diese zuvor noch geltende Grenze werden nur noch als moralistische Nörgeleien abgetan, um sie entnervt zur Disposition zu stellen.
So verwundert es nicht, dass sich Skandale wie der in der „Süddeutschen Zeitung“ seit geraumer Zeit in der internationalen Presse oder auch auf antiisraelischen Demonstrationen in auffälliger Weise häufen: Ganz selbstverständlich werden dort offen antisemitische Symbole wiederverwendet, die auch diejenigen Beteiligten, die jede Judenfeindschaft brüsk von sich weisen würden, als ebenso legitim und unproblematisch empfinden wie Münteferings „Heuschrecken“-Wahlkampf aus dem Jahr 2005.
Wenn man diesem erneuten Aufschwung des Antisemitismus entgegentreten möchte, muss man einen neuen kritischen „Sinn für das Symbolische“ wecken, wie es Michael Beetz in seinem Buch „Kraft der Symbole“ formuliert, das allerdings von ganz anderen Aspekten des Themas handelt: Symbole seien das „Markenzeichen“, die „Bildersprache“ und der „Stempel“ einer jeden Kultur, erinnert Beetz. „Gleichnisse dieser Art leben davon, das Wesen einer Sache an einem gängigen Beispiel verdeutlichen zu wollen. Das gewählte Bild wird damit zum Sinnbild. Das Einzelne verdeutlicht das Allgemeine. Es gibt der unbegreiflichen Fülle unmittelbarer Welterfahrung eine greifbare, vertraute Gestalt“.
Die Bedeutung solcher komplexitätsreduzierender „Markenzeichen“ wandelt sich mit ihren jeweiligen Kontexten und muss dekodiert werden, wenn man ihre genaue Wirkung analysieren möchte. Auch Beetz weist darauf hin, dass die „unhinterfragten Gewissheiten“, für die solche Symbole in der Öffentlichkeit gemeinhin stehen, kaum auf ihre kulturgeschichtlichen Hintergründe hin befragt werden: „Geistige Einflüsse dieser Art sind daher im Normalfall kaum reflexiv einholbar, sie lassen sich nur begrenzt kontrollieren. Es handelt sich zumeist um unscheinbare symbolische Nuancen, die wir allenfalls spüren, die uns aber kaum vollends bewusst werden.“
Monika Urban spricht im Sinne der Sprechakttheorie mit der Literaturwissenschaftlerin Nicoline Hortzitz von der persuasiven Funktion der antisemitischen Tiersymboliken: Sie sollen „überzeugen, den Wissensstand der Rezipienten verändern und einen Konsens schaffen“. Rhetorisch werde dies „über den Aufbau einer starken emotionalen Spannung erreicht“, die „imperativistische Handlungsappelle“ beinhalte. Wahlweise ist in der Soziologie im Blick auf die Wandlungsformen dieser antisemitischen Kommunikation von einem „amorphen Patchwork“ oder auch, noch vertrackter, von „Katachresen-Mäandern“ die Rede: Antisemitische Symbolketten weisen immer wieder Brüche auf, indem sie angeblich auf ganz verschiedene Phänomene hindeuten sollen, neue Logiken erzeugen und dennoch zugleich als Rationalisierungsmuster weiter intuitiv aufgenommen und verstanden werden können. Gleichzeitig bedeutet dies laut Monika Urban, dass die Denotationen (also die Grundbedeutungen) und Konnotationen (die möglichen Nebenbedeutungen) von „Kollektivsymbolen“ und ihrer „Äquivalenzketten“ nie ganz aufzuschlüsseln sind. Stehen sie doch zugleich für komplexe individuelle Konstruktionsprozesse des Eigenen durch das Fremde, die wie „Fähren ins Bewusstsein“ der Menschen wirken. Stets gib es ein mögliches Bedeutungs-Surplus solcher Symbole, das kritisch im Auge behalten werden muss.
Mit anderen Worten: Judenfeindliche Tiersymbole sind wandelbare Chiffren der Identitätskonstruktion jeder Gesellschaft, in der sie auftauchen. Die aktuelle Rede vom „Heuschrecken“-, „Turbo“- oder auch „Raubtierkapitalismus“ etwa, die kaum noch jemand als problematisch empfindet, analysiert Urban als Dämonisierung, die in ihrer vorgeblichen Kritik paradoxerweise gleichzeitig dafür steht, dass das aktuelle gesellschaftliche System zementiert werden soll. Der Kapitalismus selbst ist demnach also gar nicht das Problem, sondern nur seine raubtierhafte ‚Entartung‘, wie man sie im Nationalsozialismus genannt hätte: Mit derartigen semantischen Manövern, mit denen insbesondere jemand wie Heidegger als regelrechter Akrobat aufzutrumpfen wusste, exorziert man die offensichtliche Dysfunktionalität einer Ordnung schlicht als etwas ausgrenzbares Anderes, um sie nicht weiter reflektieren zu müssen. So gelingt es laut Urban aber auch politischen und ökonomischen Akteuren, „sich und ihre Handlungsrationalitäten als Lösung von Krisen zu präsentieren, die sie selbst verursachten“.
Die antisemitische ‚Kehre‘ in Heideggers Philosophie
Der Schritt zu der Behauptung, dieses Andere sei jüdisch konnotiert, ist im Rückblick auf die Geschichte des Antisemitismus nie weit und war vor allem für Heideggers Philosophie zentral, wie sie sich nun in den „Schwarzen Heften“ offener denn je präsentiert: Derjenige Denker, der sich hier als unabhängiger Entschlüsseler des apokalyptischen Weltgeschicks deutschen Seins inszenieren wollte, greift in Wahrheit auf Begriffe zurück, die sich nur graduell von denen in Propagandareden von Joseph Goebbels oder Adolf Hitler unterscheiden. Wer hier mit der komplexesten Existenzialphilosophie die Welt erklären wollte, hatte in Wahrheit nichts anderes parat als jener Nationalsozialismus, von dem er sich angeblich seit 1934 distanziert haben wollte: ‚Die Juden‘ waren bei Heidegger auch nach 1945 immer noch an allem schuld, weil sie so gewiefte Techniker und Rechner waren, und noch die Tatsache, dass das „Dritte Reich“ mit seinen eigenen Rüstungsexzessen unterging, sollte letztlich ebenso eine Folge dieser allumfassenden „Machenschaft“ des „Riesigen“ gewesen sein, mit der ‚die Juden‘ sich letztlich selbst vernichteten: „Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht“, heißt es in den „Anmerkungen I“; „gesetzt, daß das ‚Jüdische‘ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung ‚des Jüdischen‘ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.“
Heidegger ging bei der Planung der späteren Veröffentlichung seiner „Schwarzen Hefte“, die ja keinesfalls versteckt bleiben sollten, gewiss davon aus, dass man seine Andeutungen in diesem Kontext leicht werde entschlüsseln können: Alles, was an dem Weltverhängnis des Zweiten Weltkriegs und im Umkreis der Gräuel des Nationalsozialismus angeblich ‚geheim‘ geblieben sein sollte und auch nach 1945 weiter vertuscht wurde, sollte ganz einfach als jüdische „Machenschaft“ verstanden werden. Der Kommunikationsmodus ist hier der eines bedeutungsvollen Raunens, das jeder Antisemit sofort als Klartext versteht: „Anderes noch hat sich zugetragen. Aber dies bleibt verhüllt.“ (Anmerkungen I). Oder, in den „Anmerkungen II“, im Blick auf die angebliche antideutsche „Tötungsmaschinerie“ nach Ende des „Dritten Reiches“: „Daß diese Maschinerie nur die ‚Strafe‘ für den Nationalsozialismus sei, oder auch nur die bloße Ausgeburt einer Rachsucht, möge man noch eine Zeit lang einigen Törichten glauben machen. Man hat in Wahrheit die erwünschte Gelegenheit gefunden, nein, in den letzten zwölf Jahren mitorganisiert und zwar bewußt, um diese Verwüstung in Gang zu bringen.“ Ein Schelm, wer hierbei an den neueren Begriff der „Holocaust-Industrie“ denkt.
Er hatte es längst alles gesagt: Martin Heideggers antisemitische Chiffren im „Spiegel“-Interview von 1966
Dass eine solche judenfeindliche Rhetorik auch in der Philosophie wunderbar funktionieren kann und in ihren notdürftigen Verklausulierungen sogar weltweite Bewunderung für einen deutschen Denker auszulösen vermochte, dessen Sprache auf den ersten Blick mit höchster begrifflicher Abstraktion und Hermetik auftrumpft, ist nun schon seit über einem Jahr Gegenstand der Debatte um Martin Heideggers „Schwarze Hefte“. Zwar war Heideggers Antisemitismus für kritische Leser schon lange vorher offensichtlich, doch erst die Veröffentlichung expliziter judenfeindlicher Notate aus dem Nachlass des Philosophen hielt einer breiteren Öffentlichkeit deutlich vor Augen, was der „metaphysische Sturmtruppführer“ (Rüdiger Safranski) mit symbolischen Schlüsselbegriffen wie der „Machenschaft“, dem „Riesigen“, dem „Ge-Stell“ oder auch der „planetarisch bestimmten Technik“ stets mitmeinte – eine apokalyptische, einem gigantischen Selbstzerstörungsmechanismus gleichende ‚Weltverschwörung des Judentums‘, das insbesondere dem bodenständigen deutschen „Seyn“ mit y abhold sei und zudem gefährlich gut rechnen könne.
Insofern ist es schade, dass Lutz Hachmeisters schmissig geschriebenes und zugleich gut recherchiertes Buch „Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS“ im letzten Jahr etwas zu früh erschien, um die Kontroverse über die „Schwarzen Hefte“ noch mit aufgreifen zu können. Hachmeister rollt die gesamte Geschichte um Heideggers umstrittenes NS-Rektorat an der Freiburger Universität im Jahr 1933 neu auf. Der Medienforscher widerlegt die Legende, Heidegger habe sich nach dieser ‚kurzen‘ Phase eines verhängnisvollen ‚Irrtums‘ bereits 1934 wieder vom Nationalsozialismus abgewandt.
Zudem demaskiert Hachmeister die diesbezüglichen Schutzbehauptungen im berühmten „Spiegel“-Interview Heideggers aus dem Jahr 1966, dessen Analyse im Zentrum seines Buches steht, Punkt für Punkt: So etwa die großspurig vorgetragene Geschichte, Heidegger habe in der Freiburger Universität ein ominöses „Judenplakat“ verboten, woraufhin ein gewisser „SA-Gruppenführer Dr. Baumann“ ihn angerufen und mit der Schließung der Universität gedroht habe, woraufhin Heidegger dennoch mutig auf seiner Anweisung beharrt habe. Nach Hachmeisters Recherchen in allen verfügbaren Personenverzeichnissen des Reichs-SA-Hochschulamtes und der gesamten SA-Führung hat es einen solchen „Dr. Baumann“ nie gegeben. Silvio Vietta aber etwa greift in seinem zitierten Buch diese und andere zweifelhafte Anekdoten Heideggers mehrfach als angebliche Tatsachen erneut auf, um Heidegger von seiner NS-Schuld zu entlasten – und zwar, obwohl auch er Hachmeisters Buch erwähnt und in seiner Literaturliste aufführt, jedoch offenbar ohne es ganz gelesen zu haben.
Wie dem auch sei – mittlerweile ist umso deutlicher geworden, was Hachmeister vor der Publikation seines Buchs noch gar nicht so klar sehen konnte: Heideggers Schachzug, dieses berühmte „Spiegel“-Gespräch, das bei seinem Erscheinen planmäßig als verblüffende Verteidigungsrede und noble Rechtfertigung der zwielichtigen Rolle des Philosophen im „Dritten Reich“ inszeniert wurde, erst nach seinem Tode zur Veröffentlichung freizugeben und es somit als veritables „Testament“, als Vermächtnis eines großen Denkers zu sakralisieren, folgte einem Prinzip. Auch die lange posthume Zurückhaltung der „Schwarzen Hefte“, die Heidegger selbst als wohldurchdachte gedankliche Konzeption begriff, die dem Verständnis seines gesamten philosophischen Denkgebäudes dienen sollte, folgte dieser Strategie.
Mit diesem Wissen, das in Hachmeisters Kritik der verzögernden Editionspolitik von Hermann Heidegger am Ende seiner Studie erst ansatzweise aufscheint, hätte der Analytiker noch einmal eine ganz neue Ebene der Kritik in seine Interpretation des schalkhaften „Spiegel“-Interviews einbauen können, das erst 1976, also kurz nach dem Tod des Philosophen, erschien. Übrigens ist der Text nicht im Archiv von „Spiegel Online“ recherchierbar, weil der Nachlassverwalter die Rechte an dem Text einklagte: So ‚legendär‘ dieses Interview angeblich sein soll, so wenige Leser dürften es mittlerweile noch kennen. Was heute nicht online steht, wird bekanntlich von den meisten Leuten ohnehin gar nicht mehr rezipiert.
Hachmeister belegt zwar, was man bereits beim ersten Lesen des historischen Interviews vermutet, das aufgrund der skizzierten Rechtslage auch in seinem Buch nicht dokumentiert wird und welches man sich also nur noch auf dem guten, alten bibliothekarischen Wege beschaffen kann:[1] Sämtliche Behauptungen Heideggers über mannhaft erscheinende Akte der Resistenz gegen die Einmischungen der NS-Administration in die Hochschulpolitik zur Zeit seines Freiburger Universitätsrektorats, die der interviewende Ex-SS-Haupsturmführer und Leiter des „Spiegel“-Ressorts „Geisteswissenschaften“ Georg Wolff und der Ex-Wehrmachtsleutnant und „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein erstaunt als ‚schlagende‘ Neuigkeiten über Heideggers Unschuld begrüßten, sind entweder nicht zu verifizieren oder aber leicht als offensichtliche Lügen zu enttarnen.
So verdienstvoll diese Hinweise auch sind, entgeht Hachmeister dennoch ein weiterer Aspekt: Das „Spiegel“-Interview zeichnet sich durch eine forcierte Janusköpfigkeit seiner Botschaften aus, die zwischen Heideggers Behauptung seiner beinahe durchgängigen biografischen Distanz zur NS-Ideologie und deren ‚zeitweiser‘ Affirmation gerade an den Stellen changieren, wo die Verschwörungstheorie der antisemitischen Schrift der „Protokolle der Weisen von Zion“ durchscheint. Dass deren verzerrtes Weltbild für Heideggers Philosophie offenbar zentrale Bedeutung besaß, hatte sein Editor Peter Trawny letztes Jahr bereits einleuchtend beschrieben. Dass Heidegger die „Protokolle“ laut Vietta in seinem gesamten Werk angeblich niemals erwähnte, ist kein Gegenargument zu Trawnys These: Dieser Text hat seine einzigartige Wirkungsweise gerade dadurch erreicht, dass Versatzstücke seiner Fiktion durch Mund-zu-Mund-Propaganda in der ganzen Welt multipliziert wurden und auch ohne Kenntnis des Textes ein Eigenleben entwickelten.
Peter Trawnys apologetische Verteidigung der „an-archistischen“ Philosophie Heideggers
Seit seinem Buch über „Heidegger und den Mythos der Weltverschwörung“, für das Trawny unter anderem von dem Heidegger-Übersetzer François Fédier in der „Zeit“ scharf kritisiert worden war, scheint der Leiter des Wuppertaler Martin-Heidegger-Institutes und Mitherausgeber der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe jedoch ins Grübeln gekommen zu sein. Hat Trawny doch mit seinem 2014 nachgelegten Bändchen „Irrnisfuge. Heideggers An-Archie“ tief in die dialektische Trickkiste gegriffen, um das Werk des Kultphilosophen trotz der Antisemitismus-Diagnose, die der Autor nach wie vor für „unvermeidbar“ hält, weiter fruchtbar machen zu können: „Was, wenn die Philosophie auch in ihren Irrtümern, ja, in ihrem Wahn nicht aufhörte, Philosophie zu sein? Was, wenn wir die Philosophie auch im Zustand ihrer Irre bedenken müssten? Was, wenn wir auch in der Irre – philosophierten? Wäre nicht dann erst möglich zu fragen, welche Gefahr für das Denken im Antisemitismus wirklich steckt?“
Die Antwort auf diese rhetorischen Fragen ist klar: In Heideggers Philosophie, die Trawny mit einer Formulierung des notorisch ‚dichtenden‘ Schwarzwaldphilosophen als „Irrnisfuge“ neu in den Blick nehmen möchte, sei genau dieses Irren das produktive Prinzip, und man müsse dieses Irren philosophisch weiter befragen, anstatt Heideggers Lebenswerk einfach abzuschreiben: „Den Antisemitismus zu überwinden kann nur gelingen in der Annäherung an ihn“, dekretiert Trawny. „Der Antisemitismus ist zäh. Die Meinung, dass immer die anderen Antisemiten sind, ist eine Ausflucht. Der Antisemit – bin ‚ich‘.“
So wichtig wie eine solche Selbstkritik gerade für jeden reflektierten Antisemtismusforscher auch sein mag, so relativierend muss sie erscheinen, wenn man sie wie ein Warnschild vor jeder Beschäftigung mit Heideggers Antisemitismus aufstellt: Trawnys Schachzug erscheint wie eine philosophische Variante der scheinheiligen Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ Diese rhetorische Frage wird hierzulande immer dann gestellt, wenn es darum geht, die Schuld der NS-Generation aus der Kritik zu nehmen, um stattdessen zu suggerieren, es stehe Nachgeborenen, die ‚nicht dabei‘ waren, als die Shoah verbrochen wurde, gar nicht an, selbstgerecht über ihre Altvorderen zu urteilen. Stattdessen solle man endlich versuchen, zu verstehen, was diese Vorfahren im Kern angetrieben habe und in welchem Dilemma sie sich befunden hätten, sich ihnen identifikatorisch ‚annähern‘.
In diesem Sinne tritt Trawny, 1964 in Gelsenkirchen geboren, in seinem zugleich bei Matthes & Seitz Berlin und in französischer Übersetzung bei dem Verlag Indigène éditions erschienenen Heftchen als Nachahmer der Abwehrhaltung typischer ‚Anti-68er‘ auf. Also jener Intellektuellen, die sich gegen eine vermeintliche Diktatur der political correctness wehren oder, wie der Kulturwissenschaftler, Journalist und Leiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Ulrich Raulff (geboren 1950), selbstironisch von sich behaupten, sie seien Angehörige der ‚Flakhelfer-Generation der 68er‘ – eine Formulierung, die im Witz insinuiert, die ‚schuldlose‘ frühe Verstrickung in die Studentenrevolte und den auf sie folgenden Liberalisierungsschub der deutschen Gesellschaft sei mit der Situation junger Männer in den letzten Tagen des „Dritten Reiches“ gleichzusetzen.
Trawnys dezidiert ‚politisch unkorrektes‘ Festhalten an Heideggers Philosophie wird in seinem neuen Büchlein jedenfalls mit einem rhetorischen Fußnoten-Statement gegen Jürgen Habermas gewürzt, das aufhorchen lässt: „Könnte es sein, dass das corpus von Jürgen Habermas eines der ersten sein wird, in dem schlechthin überhaupt nichts Anstößiges mehr gefunden werden kann? Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Sartre, Arendt, Derrida, Nancy, Badiou, selbst Gadamer, überall stößt man noch auf Dissonanzen. Die Normalisierung greift. Die Philosophie der Zukunft – die vollendete Integration.“ Der Autor hätte auch gleich schreiben können: „der Untergang des Abendlands“.
Bei Trawny führt die Selbstdarstellung des Heidegger-Kritikers als gleichzeitiger Retter des angeblich letzten originellen, ‚unkorrekten‘ und „an-archischen“ Philosophen zu befremdlichen Formulierungen. So phantasiert Trawny über das „Verhören“ des Irrenden, der jede moralische Verantwortung „im Sinne einer Entsprechung zum Wort“ zurückweisen müsse: „Es ist ein Moment der an-archischen Freiheit, in der das Irren in keiner Hinsicht als schuldhaft gedeutet werden kann. Die an-archische Freiheit ist eine Freiheit von Verantwortung und Schuld. So wie Ödipus nicht schuldig sein kann, mit seiner Mutter geschlafen zu haben, ist der Irrende nicht schuldig, im Wechselspiel von Verborgenheit und Offenheit gescheitert zu sein. Im Ereignis der Wahrheit ist moralische Verantwortung nur ein Phantasma.“
Eine solche Entgegnung auf die Frage nach seiner Verantwortung im Nationalsozialismus wäre wohl nicht einmal Heidegger eingefallen: Das antike Drama von Sophokles, das Sigmund Freud zum Anlass seiner These nahm, es bilde das ontogenetische Drama der menschlichen Psyche schlechthin ab, das ein jeder in seiner Kindheit unweigerlich zu durchlaufen habe, ist schwerlich mit der Schuld eines Universitätsprofessors im „Dritten Reich“ gleichzusetzen. Mehr noch: Heideggers Rektorat könnte man in dieser relativierenden Interpretation zu einem beispielhaften Trauma stilisieren, aus dem, genauso wie aus dem Ödipus-Komplex, paradigmatische Neurosen der Menschheit resultierten. Heidegger wäre demnach nicht Täter, sondern ein Opfer einer unausweichlichen Erkrankung, der kein Mensch jemals zu entkommen vermochte. Mehr noch: So wie Sophokles oder auch William Shakespeare in seinem Drama „Hamlet“ hätte Heidegger aus dieser Urszene der menschlichen Psyche und aus ihren Folgen noch dazu ein Stück Weltliteratur gemacht – die „Schwarzen Hefte“ als philosophische Tragödie von altertümlicher Erhabenheit.
Was im „Spiegel“-Interview zu beobachten ist, geht aber sogar noch darüber hinaus. Heidegger vermochte es, sich im Gespräch mit Augstein und Wolff zugleich zu verteidigen und für geneigte Kenner durchblicken zu lassen, dass das letzte Wort über das wahre Verhängnis der Welt noch lange nicht gesprochen sei: „Nur noch ein Gott kann uns retten“, so lautete eine seiner apokalyptisch anmutenden Formulierungen, die schließlich zum Titel des vielfach retuschierten und von Heidegger selbst akribisch für den Druck mit überarbeiteten „Spiegel“-Interviews avancierte.
Wovor genau sollte nur dieser „Gott“ uns noch retten können? Woher plötzlich diese christliche Volte bei einem entschiedenen Katholizismuskritiker wie Heidegger? Der Philosoph räumt seine frühere Begeisterung für die „Größe und Herrlichkeit“ des nationalsozialistischen „Aufbruchs“ 1966 selbst im „Spiegel“-Interview erstaunlich deutlich ein: „Ja, ich war auch offen davon überzeugt“, bestätigt er den Journalisten: „Ich sah damals keine andere Alternative.“ Oder auch, ganz selbstbewusst: „Nicht, daß ich hier zum Schein gesprochen hätte, sondern ich sah diese eine Möglichkeit.“ Heidegger verteidigt schließlich sogar seine nationalsozialistische Rektoratsrede von 1933: „Aber wer von denen, die gegen diese Rede polemisieren, hat sie gründlich gelesen, durchdacht und aus der damaligen Situation heraus interpretiert?“
Was meint Heidegger mit der „damaligen Situation“? Sollte es etwa einen konkreten Anlass dafür gegeben haben, die antisemitische ‚Revolution‘ der ‚Machtergreifung‘ Hitlers als Philosoph für sinnvoll zu halten? Hier muss man in der Tat genau lesen: Auf die Frage der Interviewer, wie sich Heidegger die „Gerüchte“ über sein Fehlverhalten im „Dritten Reich“ erkläre, wenn er sich doch gar nichts Gravierendes zu Schulden habe kommen lassen, antwortet der Philosoph mit seinen typischen raunenden Andeutungen, wie sie nun auch in den „Schwarzen Heften“ wieder auftauchen. Zeitgenössische Antisemiten konnten diese Bemerkungen problemlos als Verweis auf die angebliche Pressehoheit jüdischer Verschwörer verstehen, wie sie in den „Protokollen der Weisen von Zion“ als Teil des Plan zur Übernahme der Weltmacht behauptet wird: Nach seiner „Kenntnis der Quellen“ möchte Heidegger im „Spiegel“-Interview eine gewisse „Böswilligkeit“ für den Grund vermeintlicher Verleumdungen seiner Person durchaus annehmen, die „Beweggründe“ lägen jedoch „tiefer“: „Die Übernahme des Rektorats ist vermutlich nur Anlaß, nicht der bestimmende Grund. Vermutlich wird deshalb die Polemik immer wieder aufflackern, wenn sich ein Anlaß bietet.“
Heidegger halluziniert schließlich sogar eine frühere (und laut Hachmeister selbstredend erfundene) „Sportpalastrede“ seines geschassten jüdischen Doktorvaters Edmund Husserl gegen ihn persönlich, so als ob der diskriminierte Philosoph ähnlich Joseph wie Goebbels, der am 10. Februar 1943 im Berliner Sportpalast bekanntlich den „totalen Krieg“ ausrief, Propaganda in großem Stil habe betreiben können, und zwar aus geheimnisvollen Gründen allein gegen Heidegger: „Was Husserl bewogen hat, sich in solcher Öffentlichkeit gegen mein Denken abzusetzen, konnte ich nicht erfahren.“
Derartige Andeutungen findet man auch in den „Schwarzen Heften 1942-1948“ zuhauf. Daran, dass Heideggers Rektorat so schnell scheiterte, scheint demnach vor allem ‚jüdische Gräuelpropaganda‘ Schuld gewesen zu sein, und Heideggers einziger „Irrtum“ war angeblich der, dass er diesen Gegner seinerzeit sträflich unterschätzt habe: „Der Irrtum von 1933/34: ich sah nicht, daß es so etwas wie Weltöffentlichkeit gibt, die im Aus- und Inland sich austobt.“
Nach dieser ‚Logik‘ rätselhafter Kampagnen gegen Heideggers Ruhm könnte man selbst noch die laufende Kontroverse um die offen antisemitischen „Schwarzen Hefte“ als Folge dieser ‚Machenschaften‘ deuten. Für seine unentwegten Jünger würde Heideggers geradezu prophetisch erscheinende Andeutung dubioser „tieferer Gründe“ für die Nachkriegs-Kritik an seiner NS-Verstrickung in der aktuellen Debatte lediglich abermals belegt und – wie vom Meister vorhergesagt – „erneut aufflackern“: Welche ‚Drahtzieher‘ mögen wohl diesmal wieder dahinter gesteckt haben?
Im zweiten Teil des „Spiegel“-Interviews kommen schließlich Heidegger’sche Antisemitismus-Chiffren zum Tragen, die im Sinne der von Monika Urban beschriebenen schillernden Qualität judenfeindlicher Symbole stets mehrdeutig lesbar bleiben: In einem Zitat aus einer Vorlesung von 1935, die erst 1953 als „Einführung in die Metaphysik“ erschien, charakterisiert Heidegger die „Größe“ der NS-„Bewegung“ nebulös mit der „Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen“. Im Interview vom „Spiegel“ damit konfrontiert, führt der Philosoph die Stelle weiter aus. Es handele sich um eine Vorform seiner späteren Auslegung des „Wesens der Technik als Ge-Stell“. Auf Nachfrage bringt Heidegger dieses Konstrukt zustimmend mit dem grassierenden Antikommunismus des Kalten Krieges im Jahr 1966 in Einklang, der offensichtlich auch der seine war: „Ja, unbedingt“, auch die kommunistische Bewegung sei „von der planetarischen Technik bestimmt“. „Auch der Amerikanismus?“, fragen Wolff und Augstein weiter, und Heidegger antwortet ungerührt: „Auch dieses würde ich sagen. Inzwischen dürfte in den vergangenen dreißig Jahren deutlicher geworden sein, daß die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren Geschichte-bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann. Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem technischen Zeitalter überhaupt ein – und welches – politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist.“
Später haken die Journalisten noch einmal nach, ob sie Heidegger richtig verstünden, wenn sie glaubten, dass er damit sagen wolle, dass es eine „Weltbewegung“ gebe, „die den absoluten technischen Staat entweder heraufführt oder schon heraufgeführt“ habe? Heideggers knappe Antwort lautet: „Ja!“ Letzte Zweifler mögen sich verdutzt die Augen reiben: Eine „Weltbewegung“, deren schier unüberwindliche Macht zugleich durch den Bolschewismus und den nordamerikanischen Kapitalismus forciert worden sein soll? Dies klingt weniger nach einer ,progressiven’ Globalisierungs- und Technikkritik, wie sie etwa Silvio Vietta in Heideggers Philosophie entdeckt haben will, als nach dem altbekannten Weltverschwörungs-Antisemitismus Adolf Hitlers.
An dieser Stelle greift aber auch Hachmeisters Analyse des Interviews, die ebenfalls auf diese Stellen eingeht, noch zu kurz, wenn sie Heideggers Technik-Kritik lediglich im Sinne einer zeittypischen Kybernetik-Diskussion deutet, die auch der Philosoph nur halb verstanden habe. Trawny wiederum versucht ähnlich wie Vietta, Heideggers Ablehnung des „Ge-Stells“ im Sinne heutiger Debatten über die Neuen Medien und die Gefahren des Internets fruchtbar zu machen: „Die Technik hat eine universale Topographie produziert, in der der Mensch atemlos erregt zirkuliert. Im Prinzip hochgestimmt und keineswegs ausgebrannt integriert er sich in die Topographie, ohne noch eine Idee zu kennen, die ihm die Integration verbieten könne.“ Es gebe schlicht „keine Möglichkeit mehr, ‚gegen die Technik‘ zu sein. Abgesehen davon, dass sie niemals nur die Summe der Geräte gewesen ist, bilden die Apparaturen inzwischen eine Präsenz der absoluten Immanenz“. Diese produktive Heidegger-Lesart mag nahe liegen, aber es ist eben nicht die einzig denkbare, weil sie den Antisemitismus ausblendet, der für Heidegger stets integral damit verbunden war – und sie wird schon gar nicht den positiven Möglichkeiten gerecht, die diese unausweichliche Technisierung in unserem Alltag immerhin auch eröffnet hat.
Frappierende Parallelen der „Spiegel“-Visionen Heideggers zum modernen Antisemitismus Wilhelm Marrs
Heideggers Geraune impliziert tatsächlich noch viel mehr als bloße Fortschrittskritik: Bis zur letztzitierten Stelle des „Spiegel“-Interviews sind im Gespräch zwischen Wolff, Augstein und Heidegger bereits alle typischen Versatzstücke des modernen Antisemitismus angedeutet worden, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert gängig waren – ohne dass auch nur einmal explizit auf die Juden und die Shoah eingegangen worden wäre. Das war auch gar nicht nötig: Man muss nur die verwendeten Symbole Heideggers mit seinen Erläuterungen in den „Schwarzen Heften“ korrelieren, um zu sehen, dass der Philosoph auch 1966 nichts weiter zu bieten hatte als einen verklausulierten Vulgärnationalsozialismus mit einem kirchentagstauglich klingenden Schuss Eschatologie. „Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.“
Hinter dieser pathetischen Passivität des Philosophen, der vorgibt, angesichts des dubiosen und umfassenden Verhängnisses einer „planetarischen Technik“ nur noch hoffend schweigen zu können, um sich auf den unausweichlichen Untergang vorzubereiten, verbirgt sich in der Tradition antisemitischer Kommunikation ein altbekannter, kodierter Weckruf: Die verschwörerische jüdische Minderheit habe, so etwa die alarmierende Diagnose in Wilhelm Marrs Pamphlet „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet“ (1879), die geheime Macht über die Mehrheitsgesellschaft in Wahrheit längst übernommen, so dass kaum noch ausdenkbar sei, wie man sie fortan überhaupt noch werde in Schach halten können.
Überhaupt frappieren verschiedene Parallelen zwischen Marr und seinem unheimlichen Nachfahren Heidegger: Schon Marr wurde seinerzeit, wie Heidegger bei Trawny, als Anarchist eingestuft und ‚resignierte‘ schließlich nach dem gescheiterten ‚Aufbruch‘ von 1848, weil er meinte, es sei nur noch der weltgeschichtliche „Triumph des Judentums“ zu konstatieren. Seit 1848 hätten die Juden einen „dreißigjährigen Krieg“ gegen die Deutschen geführt, behauptete Marr 1879, und das Germanentum besäße seiner Einschätzung nach zu wenige „geistige Widerstandskraft“, um sich vor der „Verjudung zu schützen“. Fehle ihm doch „notorisch bereits die physische und intellectuelle Kraft“. Deshalb bliebe dem „Germanenthum“ nur noch „die Vergangenheit und das Sterben“. Der „jüdische Geist“ und das „jüdische Bewusstsein“ habe sich „der Welt bemächtigt“. Kurz: „Finis Germaniae“.
Besonders verblüffend mutet an, dass bereits Wilhelm Marr in erstaunlicher rhetorischer Übereinstimmung mit Heidegger meinte, angesichts dieser Weltlage höchstens noch vage Hoffnungen auf einen „unbekannten Gott“ setzen zu können. Der Soziologe Werner Bergmann diskutiert die Frage, ob diese Resignation Marrs als verklausulierter Aufruf zur deutschen Gegenwehr zu interpretieren gewesen sei. Tatsächlich spekulierte Marr 1881 über die Möglichkeit eines hundertjährigen Kriegs gegen die Juden und meinte als ehemaliger 1848er nunmehr, die Deutschen könnten aufgrund ihrer mangelnden politischen Eigeninitiative nur auf Kommando oder eine Revolution ‚von oben‘ aktiv werden. Auch er hatte also bereits wie Heidegger explizite Zweifel daran, ob der ‚Weltherrschaft des Judentums‘ mit einer Demokratie überhaupt noch angemessen zu begegnen sei. Marr machte übrigens die Modernisierung und die Globalisierung als Grund für eine verhängnisvolle und unaufhaltsame Rassenmischung aus, als deren „Anstifter“ er vor allem die neuen technischen Transport- und Kommunikationsmittel (Dampfschiffe und Telefon) wahrnahm. Diesen Fortschritt aufzuhalten, hielt er kaum noch für möglich.[2] Dies alles stimmt in verblüffender Weise mit Heideggers Klage ein, die Silvio Vietta in seinem Buch ständig zitiert: Die „Macht der Machenschaft“ werde zu einer „vollständigen Entrassung der Völker“ führen, in Viettas befremdlicher Paraphrase Heideggers zu einem „zukünftigen globalisierten Völkermix“.
Dass auch Heidegger den „Spiegel“-Lesern in den 1960er-Jahren ganz Ähnliches mitzuteilen hatte, überrascht einerseits kaum, ist aber dennoch bemerkenswert. Allerdings spricht der Todtnauberger Künder eben ‚nur‘ noch metonymisch von der Gefahr einer ominösen Macht eines absoluten technischen Staats und vermeidet, das Judentum in diesem Kontext explizit zu erwähnen. Zumindest versteht man an der Stelle besser, warum Heidegger nach 1945 an anderer Stelle doch einmal deutlicher wurde, als er meinte, der Ackerbau sei jetzt „motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen und Gaskammern“. Für Hachmeister war das „schlicht die Substanz von Heideggers Technikphilosophie“. Das Wort „Antisemitismus“ fällt bei Hachmeister angesichts dieser drastischen Täter-Opfer-Umkehr und Relativierung von Auschwitz seltsamerweise jedoch nicht.
Die Emotionalisierungsstrategie ist jedenfalls bei Marr und auch bei Heidegger deutlich: Hinter der rhetorischen Zurücknahme und gespielten Ratlosigkeit des Antisemiten stand auch schon bei Marr und nicht zuletzt bei Richard Wagner in seiner Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“ (1850/1869) der implizite Aufruf, endlich alle nur erdenklichen gewaltsamen Maßnahmen gegen die ‚Verschwörung des Judentums‘ in Erwägung zu ziehen: Die Pose des Opfers mit den gefalteten Händen, wie sie im „Spiegel“-Interview durch ein eindrucksvolles Foto Heideggers mit seiner charakteristischen Schwarzwaldhaube auf der Todtnauberger Hütte illustriert wird, war, so gesehen, aus der Perspektive antisemitischer Rezipienten seit jeher als besonders stark emotionalisierender Appell zum gemeinsamen Aufbegehren, den „Aufbruch“ durch das Pogrom lesbar.
„Nein! Ich weiß keinen Weg zur unmittelbaren Veränderung des Weltzustandes, gesetzt, eine solche sei überhaupt menschenmöglich“, teilt Heidegger im „Spiegel“-Interview lakonisch mit. Er fügt sogar offen hinzu, dass selbst der Nationalsozialismus zu unreflektiert vorgegangen sei, um dieses ‚Problem‘ nachhaltig zu ‚lösen‘. Aus heutiger Sicht staunt man nicht schlecht, dass das damals tatsächlich so im „Spiegel“ gedruckt wurde: „Der Nationalsozialismus ist zwar in die Richtung gegangen; diese Leute aber waren viel zu unbedarft im Denken, um ein wirklich explizites Verhältnis zu dem zu gewinnen, was heute geschieht und seit drei Jahrhunderten unterwegs ist.“
Zur literarischen Rezeption des „Spiegel“-Interviews am Beispiel Thomas Bernhards
Warum wurden diese mehr als deutlichen Offenbarungen Heideggers bisher kaum wahrgenommen? Es ist jedenfalls anzunehmen, dass das vielfach in andere Sprachen übersetzte Interview Heideggers im „Spiegel“ mitsamt seiner effektsicheren fotografischen Illustration zu jenen Dokumenten gehörte, die das Bild des Philosophen in seiner Nachwelt am meisten geprägt haben. Dazu liefert Hachmeister manchen Beleg. Man könnte seine Beobachtungen jedoch auch im Blick auf die literarische Rezeption ausweiten und zum Beispiel auf Thomas Bernhards poetisch chiffrierte Heidegger-Kritik verweisen, die in seinem lange missverstandenen Theaterstück „Über allen Gipfeln ist Ruh. Ein deutscher Dichertag um 1980“ (1982) oder auch Romanen wie „Alte Meister“ (1985) und „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986) aufscheint. Vieles spricht dafür, dass Bernhard dazu nicht unbedingt selbst Heidegger gelesen, sondern vor allem das von Hachmeister nunmehr erneut in den Fokus gestellte „Spiegel“-Interview mitsamt seinen Illustrationen zur Kenntnis genommen hatte: Bernhards zunehmend polemische Auseinandersetzung mit den antisemitischen und nationalistischen Implikationen des Heidegger’schen Habitus und dessen „Jargon der Eigentlichkeit“ (Theodor W. Adorno) war damit in den frühen 1980er-Jahren bereits weiter, als die konvulsivischen Rechtfertigungsversuche heutiger Heidegger-Apologeten.[3]
Nur ein Beispiel: Heidegger benutzte die Überhöhung der Bedeutung einer genuin ‚deutschen‘ philosophischen Sprache am Ende des „Spiegel“-Interviews ganz offen dazu, um mit ihr bereits wieder eine Vormachtstellung des ‚deutschen Geistes‘ in der Philosophie zu behaupten – eines Sprach-Geistes, der als einziger direkt an die ursprüngliche Tradition der griechischen Antike anzuknüpfen vermöge: „Ich denke an die besondere innere Verwandtschaft der deutschen Sprache mit der Sprache der Griechen und deren Denken. Das bestätigen mir heute immer wieder die Franzosen. Wenn sie zu denken anfangen, sprechen sie deutsch; sie versichern, sie kämen mit ihrer Sprache nicht durch.“
Lutz Hachmeister schreibt im Blick auf diese Behauptung Heideggers von einer „gesteigerten Form von Sprachnationalismus“. Hachmeister konnte jedoch beim Abschluss seiner Studie noch nicht wissen, was die kurz nach seinem Buch veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ Heideggers enthüllten: Der Gedanke entstammte abermals diesen Konvoluten, die in engem Zusammenhang mit Heideggers Antisemitismus stehen. Laut Peter Trawny, der das Thema in seinem zitierten, teils erschreckend verworrenen Essay über Heideggers „Irrnisfuge“ ebenfalls erneut aufgreift, repräsentiere diese Idee Heideggers das „Verhältnis zum Deutschen“, sein „Denken des Deutschen“: „Der Deutsche allein“, schreibt Heidegger in den „Schwarzen Heften“, „kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen“.
Zwar konnte Thomas Bernhard diese Texte Heideggers noch gar nicht gelesen haben – wohl aber das „Spiegel“-Interview im Jahr 1976, in dem der Philosoph seine Überhöhung der angeblich so hegemonialen deutschen Sprache an prominenter Stelle und mit maximaler Publicity erneut aufgriff. In dem Zusammenhang fällt jedenfalls auf, dass Bernhards Hauptwerk „Auslöschung“ mit der exakten Gegenthese zu den sprachnationalistischen Überlegungen des Philosophen von 1938/39 beginnt – ganz so, als habe Bernhard an dieser zentralen Stelle seines Gesamtwerks vor allem gegen Heidegger polemisieren wollen:
Die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache, sagte ich zu Gambetti, und drücken in jedem Fall den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene. Das deutsche Denken wie das deutsche Sprechen erlahmen sehr schnell unter der menschenunwürdigen Last seiner Sprache, die alles Gedachte, noch bevor es überhaupt ausgesprochen wird, unterdrückt; unter der deutschen Sprache habe sich das deutsche Denken nur schwer entwickeln und niemals zur Gänze entfalten können im Gegensatz zum romanischen Denken unter den romanischen Sprachen, wie die Geschichte der jahrhundertelangen Bemühungen der Deutschen beweise.
Die Heidegger-Forschung könnte von solchen polemischen literarischen Antworten auf Heideggers antisemitische und nationalistische „Philosophie“ noch viel lernen. Vor allem aber müsste sie sich genauer über die Genese antisemitischer Symbole informieren, wie sie im Buch Monika Urbans entschlüsselt und in ihrer vertrackten Wirkunsgweise beschrieben werden. Damit könnten die typischen Missverständnisse und sträflichen Apologien der Heidegger-Adepten endlich ad acta gelegt werden.
Anmerkung der Redaktion: Ein Ausschnitt dieses Essays erschien bereits als Artikel in der „Jungle World“, Nr. 20/15, 13. Mai 2015.
[1] Siehe Martin Heidegger: „Nur noch Gott kann uns retten“. „Spiegel“-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966. In: Der Spiegel Nr. 23 (1976), S. 193-219.
[2] Siehe zu diesen Ausführungen über Marr den Aufsatz von Werner Bergmann: Ein „weltgeschichtliches ‚Fatum‘“. Wilhelm Marrs antisemitisches Geschichtsbild in seiner Schrift: „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“. In: Werner Bergmann / Ulrich Sieg (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder. Essen 2009, S. 61-82. Hier vor allem: S. 70-81.
[3] Vgl. dazu demnächst den ausführlichen Beitrag von Jan Süselbeck: Kehre, Holzschuh, Rucksack, Lichtung. Jargonkritik bei Thomas Bernhard und Arno Schmidt. In: Max Beck / Nicholas Coomann (Hrsg.): Sprachkritik als Ideologiekritik. Studien zu Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“. Würzburg 2015 (in Vorbereitung).
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