Projekt Dracula

Im Corpus Draculianum versammeln Thomas Bohn, Adrian Gheorghe, Christof Paulus und Albert Weber die Quellen zu Vlad dem Pfähler

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es dürfte keine Übertreibung sein, zu behaupten, Dracula sei eine der bekanntesten Ikonen der Popkultur. Die Metamorphosen des Dracula-Stoffs seit 1897, dem Erscheinen des berühmten Romans von Bram Stoker, zu überblicken, ist schier unmöglich: Allein rund zwei Dutzend Verfilmungen und darüber hinausgehend Musicals, Theaterstücke, Spiele sowie Musikstücke zeugen von dem Faszinosum, das von der Gestalt der Romanfigur ausgeht. Kaum ein Reisebericht über Siebenbürgen kommt ohne die Verbindung „Transsilvanien – Dracula“ aus und das, obwohl die Annahme Siebenbürgens als Geburtsstätte des walachischen Fürsten Vlad III. Drăculea (1431-1476), auf den der Dracula-Mythos zurückgeht, mehr als umstritten ist.

Wer jedoch dem historischen Kern der sich um den Fürsten rankenden Legenden und Mythen auf den Grund gehen will, musste bislang vor allem auf an entlegenen Orten und in wenigen (westeuropäischen) Bibliotheken vorhandene Quellenausgaben zurückgreifen. Doch wer weiß schon von der Existenz des Urkundenbuchs zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen oder kennt die Reihe Documenta Romaniae Historica, in welchen unter anderem verstreut Quellen zum Leben und Wirken sowie der posthumen Rezeption Vlad III. erschienen sind? Es dürften vor allem Osteuropahistoriker sein, die mit diesen verdienstvollen Quellenpublikationen etwas anfangen konnten. Doch auch sie waren vielfach an ihre sprachlichen Grenzen gestoßen, falls sie sich umfassend mit dem Thema beschäftigten, denn die Überlieferungen zum mehrfachen Fürsten der Walachei liegen nicht nur in Latein vor, sondern in vielen weiteren Sprachen (Ungarisch, Kirchenslawisch, Osmanisch, Arabisch, Persisch) und sind in den Archiven vieler Länder verstreut. Viele einschlägige Quellen sind zudem im 19. oder gar dem 18. Jahrhundert publiziert worden und mittlerweile verschollen oder kaum mehr zugänglich.

Umso stärker zu begrüßen ist daher das Editionsprojekt Corpus Draculianum, herausgegeben von Thomas M. Bohn, Adrian Gheorghe, Christof Paulus und Albert Weber, das in der internationalen Dracula-Forschung in mehrfacher Hinsicht neue Maßstäbe setzt. Das ursprünglich in München angesiedelte Forschungsprojekt wird mittlerweile von Gießen aus koordiniert und seit 2016 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die bislang erschienenen drei Bände (Band I/1, I/2 und III) sowie ein aus einer Konferenz im Jahre 2014 hervorgegangener Sammelband (erschienen 2017) verdeutlichen, dass künftig kein Forscher an der Arbeit dieses Teams wird vorbeigehen können. Die Sammlung ist nach jetzigem Stand insgesamt auf bis zu fünf Bände angelegt, es finden sich hierzu unterschiedliche Angaben im Internet. Der noch ausstehende Band II soll 2020 erscheinen und westeuropäische Quellen zu Vlad dem Pfähler beinhalten. Die Quellenpublikation strebt die Erfassung aller Quellen zwischen 1448 und 1650 an, die sich auf den walachischen Fürsten, seine Taten und seine Politik beziehen. Dabei geht es um die Publikation der privaten, diplomatischen und geschäftlichen Korrespondenz, um Protokolle und Verwaltungsdokumente, aber auch um erzählende Quellen, Inschriften, Münzen und Siegel. Die Bedeutung dieser Edition verdeutlichen die Hinweise der Herausgeber auf die Sprachen, in denen die ermittelten Quellen, zumeist von einem Mitglied des Teams erneut in den Archiven konsultiert und auf ihre Beschaffenheit hin beschrieben, abgefasst wurden – es handelt sich um 17 europäische (unter anderem „Kirchenslawisch mit bulgarischem Einschlag“) und orientalische (Osmanisch, Arabisch, Persisch) Sprachen. Sie wurden von Chronisten, Beamten und Politikern sowie Machthabern von Britannien bis zum Moskauer Reich oder Persien hinterlassen.

Das inhaltliche Konzept des Projekts sieht eine Anordnung der Quellen nach Ausstellergruppen vor: Der Autor oder Aussteller einer Quelle über Vlad dem Pfähler wird einer Überlieferungsgruppe zugeordnet, da man davon ausgeht, dass die Autoren eines solchen Überlieferungskreises im Zusammenhang eines Netzwerks beziehungsweise eines Entstehungskontexts standen. Das lässt sich besonders gut am ersten Teilband des ersten Quellenbandes verdeutlichen. Er enthält die Überlieferung aus der Walachei, insgesamt 61 Textdokumente aus walachischen Kanzleien (darunter Urkunden und Briefe aus Vlads Kanzlei und weitere aus Kanzleien anderer walachischer Woiwoden bzw. Bojaren), und Fotografien sowie Nachzeichnungen von Siegeln, Inschriften (an Glocken oder Grabsteinen) und Münzen. Diese Gruppe nennen die Herausgeber den Überlieferungskreis I. Bei den Dokumenten aus der Kanzlei Vlads des Pfählers handelt es sich um Benachrichtigungen an siebenbürgische Städte (Kronstadt, Hermannstadt usw.) in Handels- oder Kriegsangelegenheiten, um Bestätigungs- und Kredenzschreiben für Personen, Empfangsbescheinigungen und Bestätigungsurkunden für Eigentumsverhältnisse. In mehreren Quellen, ausgestellt von Vlad dem Pfähler nachfolgenden Woiwoden wird etwa der Kronstädter Rat gemahnt, sich an die Strafexpeditionen Vlad des Pfählers zu erinnern. In einer Reihe von Ergänzungsquellen taucht der Name des walachischen Fürsten nur am Rande auf. Die letzten beiden Quellen sind Dokumente mit umstrittener Zuordnung aus den Jahren 1447 und 1462.

Dabei ist die letzte Quelle in zweierlei Hinsicht besonders aufschlussreich. Inhaltlich handelt es sich um einen Brief Vlads an Sultan Mehmed II., in dem er diesem seine erneute Unterwerfung übermitteln lässt und ihm seine Unterstützung bei der Eroberung Siebenbürgens beziehungsweise Ungarns anbietet. Selbst wenn es sich um eine Fälschung handelt, ist die Quelle vielsagend, denn sie lässt sich als ein Propagandabild von Vlad dem Pfähler lesen, dem man offenbar eine solche Handlung (Vorgehen gegen seinen vormaligen Unterstützer, den ungarischen Herrscher) zutraute. Zugleich soll die Edition dieser Quelle (Nr.61) pars pro toto beispielhaft für die Vorbildlichkeit dieses Editionsprojekts herangezogen werden. Die wissenschaftlich kaum überbietbare Qualität der Quellensammlung offenbart sich nämlich im Begleitapparat, der den Quellen beigegeben wurde. Das fängt bereits mit einer Einführung in die editorischen Prinzipien ein, der in diesem Band die Abkürzungsverzeichnisse und Literaturhinweise folgen. In einer Einleitung zum Teilband stellen die Herausgeber sodann dessen Konzept und die Besonderheiten der Quellenlage und -überlieferung vor. Auch gehen sie auf die walachische Diplomatik im Spätmittelalter ein. Im Quellenteil lassen sie dann nicht, wie es vor allem in manchen osteuropäischen Quelleneditionen nur allzu häufig der Fall ist, die Quellen „für sich sprechen“. Die Herausgeber stellen ihnen vielmehr ein Regest voran, das den wesentlichen Inhalt kurz zusammenfasst. Eine „Diplomatik“, sie umfasst im Falle der obigen Quelle Nr. 61zwei Seiten und ist damit viermal länger als die eigentliche Quelle, untersucht formale Besonderheiten des Quellentextes, wie zum Beispiel Aufbau, fehlende oder ungewöhnliche Bestandteile, problematische Zuschreibung oder in der Forschung umstrittene Detailfragen.

Der Abschnitt „Kontextualisierung“ bettet eine jede Quelle in den historischen und chronologischen Kontext ein und bietet dem Leser eine erste Lesart. In der „Beschreibung“ geht es um die materielle Beschaffenheit, die Größe und das Format des Dokuments, die derzeitige (und mitunter um die vermutete damalige) Farbe der Tinte sowie den Aufbewahrungsort. Schließlich werden bisherige Fundorte, Übersetzungen und die relevante Fachliteratur angegeben. Erst nach dieser umfassenden Heranführung des Lesers erfolgt der Abdruck der jeweiligen Quelle, indem gewöhnlich in der linken Spalte das Original und der rechten die deutsche Übersetzung geboten wird. Die Herausgeber weisen hierbei explizit darauf hin, dass sich der Leser trotz der Übersetzung an das Original halten soll. Dabei erfolgen in Fußnoten, allein in diesem ersten Teilband sind es derer 421, weitere Anmerkungen zu Deutungen der Einzelaussagen des Textes oder zu umstrittenen Lesarten der konsultierten Handschriften.

Im Teilband I/2 haben die Herausgeber die Überlieferung aus Ungarn, Mitteleuropa und dem Mittelmeerraum versammelt, das heißt aus dem Ungarischen Königreich, dem Osmanischen Reich, dem Fürstentum Moldau und der genuesischen Kolonie Kaffa (Überlieferungskreis II, vertreten mit 42 Dokumenten). Im zweiten Teil dieses Teilbandes (Überlieferungskreis III, 73 Dokumente) befinden sich überwiegend Dokumente aus Italien (Korrespondenz des Venezianers Pietro di Tommasi und Briefe des Großen Rats der Stadt Venedig) und dem Osmanischen Reich (Konstantinopel). Von mehreren Quellen, zum Beispiel einem Eroberungsbericht des Sultans Mehmed II. über einen Feldzug in die Walachei 1462, werden Faksimiles oder Fotografien abgedruckt, um der Bedeutung des jeweiligen Dokuments  gerecht zu werden. Im Falle dieses Berichts handelt es sich etwa um eine bislang unedierte Quelle. Hier ist zu erwähnen, dass die Herausgeber mehrere, bisher unbekannte Quellen zutage gefördert haben. Die abgedruckten Dokumente aus dem ungarischen Herrschaftsbereich stammen zu einem großen Teil von János Hunyadi, dem Gubernator Ungarns, dem berühmten Renaissancekönig Matthias Corvinus oder auch von lokalen Würdenträgern ungarischer Herrschaft in Siebenbürgen. Sie thematisieren Vor- und Nachbereitungen von Feldzügen, den Umgang mit Vlad dem Pfähler oder seinen Anhängern oder auch politische und Verwaltungsakte. Die Dokumente mit Italienbezug im dritten Überlieferungskreis sind der gemeinsamen Bedrohung Ungarns und italienischer Städte, vor allem Venedigs, durch das Osmanische Reich geschuldet. Der venezianische Gesandte in Ungarn, Pietro (di) Tommasi berichtete daher an den Großen Rat Venedigs zumeist über Kriegsvorbereitungen oder empfing Anordnungen des Großen Rats. Selbstredend war der walachische Fürst und insbesondere Vlad der Pfähler immer wieder Gegenstand der Berichte. Die im Teilband I,2 abgedruckten Quellen, vor allem jene aus Italien, lassen sich also zusammenfassend als „zeitgenössischer Blick von außen“ ansehen, deren Wert durch die riesigen Verluste walachischer und ungarischer Quellenbestände im Laufe der Jahrhunderte durch Brand, Kriege und Zerstörungen noch gesteigert wird.

Der dritte Band des Corpus Draculianum präsentiert die Überlieferung aus dem Osmanischen Reich. Dazu gehören zunächst Schriften postbyzantinischer Autoren, deren Namen in erster Linie Byzantinisten und Südosteuropahistorikern geläufig sind: Laonikos Chalkokondylēs, Kritovoulos Imbriotēs, Michael Doukas oder Anonymus Zoras wären hier zu nennen. Manche standen in Diensten des Sultans Kritovoulos, andere wie Doukas schrieben eher für sich ihre Memoiren, was sich auf ihre Erzählperspektive auswirkte. Den Großteil des Bandes machen jedoch osmanische Autoren aus, deren Werke in „Primär-“, „Sekundär-“ und sogar „Tertiärquellen“ eingeteilt sind. Die Einteilung beschreibt den Grad der zeitlichen Nähe der Autoren zur Person und der Zeit Vlad des Pfählers bzw. den Grad der Abhängigkeit von früheren Autoren und deren Werken. Vor allem diese Bezüge der osmanischen Autoren zu- und aufeinander werden in einer Begleitstudie minutiös analysiert, die unter anderem die Frage einer möglichen Urquelle diskutiert (und vorsichtig bejaht). Die gemeinsamen Erzählelemente der abgedruckten Texte werden unter Heranziehung der Diskursanalyse statistisch quantitativ und qualitativ erfasst, ausgewertet und in mehreren Tabellen veranschaulicht. Dabei werden die Autoren sowohl in ihrer historiographischen Tradition verankert als auch die in ihren Erzählungen vermittelten Bilder des Pfählers – als Tyrann, Ungläubiger, Rebell – miteinander verglichen. Diese unterschiedlichen Lesarten fügen sich zudem in das Gesamtkonzept des Projekts ein, das die Herausgeber mehrfach betonen, wonach das in der rumänischen Historiographie vorherrschende nationalkommunistische Bild eines rumänischen Nationalhelden korrigiert und relativiert werden muss. Die Herausgeber führen auch in diesem Band in die Entstehungsgeschichte der Quellen ein, stellen die Autoren und das Werk vor und informieren über Besonderheiten, bisherige Editionen und Übersetzungen. Den Band beschließen eine Chronologie und  zwei Karten zu einem Streifzug Vlads und Mehmeds II. (1462) sowie zu einem berühmten und in den Quellen mehrfach thematisierten Nachtangriff Vlads im selben Jahr. Personen-, Personengruppen- und Ortsindizes erleichtern die Benutzung des Bandes.

Und das Heer des Sultans trifft auf ein Feld mit Pfählen, an Länge etwa siebzehn Stadien, an Breite sieben Stadien. Und es waren große Baumstämme, auf denen Männer und Frauen und Kinder aufgespießt waren, etwa 20.000, wie man sagte, ein Anblick für die Türken und für den Kaiser selbst! […] Die übrigen Türken aber, die eine solche Menge an gepfählten Menschen sahen, erschraken sehr. Es waren auch kleine Kinder darunter, die an ihren Müttern aufgespießt hingen, und Vögel hatten in ihren Eingeweiden Nester gebaut.  

Es waren diese Quellen, hier aus dem Werk von Chalkokondylēs, die den bis heute anhaltenden negativen Ruf Vlad des Pfählers begründeten. Ist ein Leser auf der Suche nach solchen und ähnlichen Textstellen als Kern des Draculamythos, wird er in dieser Edition in fast allen Bänden mehrfach fündig. Interessiert sich jemand hingegen für spätmittelalterliche Politik- und Diplomatiegeschichte in Südosteuropa, für die Ausdehnung des Osmanischen Reiches im 15. Jahrhundert, für vielseitige Beziehungsgeflechte zwischen Ungarn, den walachischen Fürstentümer, Venedig und dem Osmanischen Reich, für die Kriegsführung oder eben auch für historiographische Fragestellungen, Schreibtechniken und Perspektiven im Osmanischen Reich, so kommt er an den Bänden dieses Projekts ebenfalls nicht vorbei. Es lassen sich bei einem riesigen Projekt wie dem vorliegenden stets Kleinigkeiten bemängeln. Doch würden sie nichts am Charakter eines Paradigmenwechsels ändern, der durch diese Bände in der internationalen Dracula-Forschung eingeleitet wurde. Hier liegt, dies kann man nicht oft genug betonen, eine wissenschaftliche Quellenedition par excellence vor. Somit darf man sowohl auf die noch ausstehenden Bände des Projekts als auch auf die angekündigte Dracula-Biographie aus den Reihen des Editionsteams gespannt sein. Auch soll zuletzt der Hinweis nicht fehlen, dass eine Übersetzung der Bände ins Englische und Rumänische geplant ist und teilweise bereits in Angriff genommen wurde. Damit wird einmal mehr die internationale Relevanz geschichtlicher Grundlagenforschung in Deutschland offenkundig.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christoph Paulus / Thomas M. Bohn / Adrian Gheorghe / Albert Weber (Hg.): Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad der Pfähler 1448–1650.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2018.
361 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783447106283

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas M. Bohn / Adrian Gheorghe / Christoph Paulus / Albert Weber (Hg.): Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad dem Pfähler 1448-1650. Band 1. Briefe und Urkunden.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2017.
265 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783447102124

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas M. Bohn / Adrian Gheorghe / Albert Weber (Hg.): Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad dem Pfähler 1448-1650. Band 3. Die Überlieferung aus dem Osmanischen Reich.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2013.
419 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783447069892

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch