Bertolt Brecht, Wertevermittlung durch Literatur und der Gegenstand der Literatur

Drei Studien, Florian Bär mit „Werteerziehung im Deutschunterricht“, Karoline Sprenger über „Bertolt Brechts Kinderlyrik“ und Florian Schultz-Pernices „Die Literatur der Literaturdidaktik“, zeigen verschiedene Tendenzen der literaturdidaktischen Forschung

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Jahr erscheinen zahlreiche Studien mit literaturdidaktischer Schwerpunktsetzung bzw. einschlägigen Untersuchungsgegenständen. Auffallend ist, dass sich darunter immer weniger Arbeiten befinden, gerade im Falle von Dissertationen und sonstigen Qualifikationsschriften, die nicht auf empirischen Methoden – quantitativen wie qualitativen – basieren. Dies korrespondiert sicherlich mit der psychometrischen Wende, die spätestens nach der ersten PISA-Studie, der Einführung nationaler Bildungsstandards sowie forschungsmethodischer Paradigmenwechsel sukzessive im deutschdidaktischen Feld vollzogen wurde. Der Pluralität von Forschungsdesigns und der Heterogenität der Zielgruppe bzw. der potentiellen Leserschaft geschuldet ist jedoch, dass auch weiterhin theoretische Arbeiten und philologische Studien einen festen Platz unter den didaktischen Neuerscheinungen haben. Mehr als 1000 Seiten didaktische Forschungen in drei Bänden mit dem Publikationsdatum 2019 gewähren einen Einblick in eine spezifische Perspektive deutschdidaktischer Fragestellungen. Werteerziehung, die Rolle von Brechts Kinderlyrik sowie die Frage nach einer literaturdidaktischen Objektkonstitution des Gegenstandes Literatur stehen im Fokus von drei interessanten und sorgfältig erarbeiteten Studien, die im Folgenden mit Blick auf ihre Konzeption und ihren Beitrag für die Weiterentwicklung von Deutschunterricht betrachtet werden sollen.  

Florian Bär hat in seinem Buch mit dem kompakten Titel Werteerziehung im Deutschunterricht eine klassische Idee aufgegriffen: Der in München arbeitende Pädagoge und Regierungsschulrat untersucht in seiner Dissertation, wie Werteorientierung zum Unterrichtsprinzip des Literaturunterrichts werden kann. Dabei knüpft er keineswegs an Konzepte von Gesinnungs- und Besinnungserziehung an, sondern folgt konsequent einem Pragmatismus in der Tradition John Deweys und einem diskursethischen Ansatz nach Jürgen Habermas. Für eine kulturwissenschaftlich gedachte Deutschdidaktik begreift Bär „Werte als Ideen und Orientierungen, welche das Individuum aus sich heraus und durch Anregungen von außen in Prozessen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz konstruiert“. Es geht ihm um eine detaillierte Analyse, worin das Potenzial narrativer Texte im Deutschunterricht bestehen kann, um über das reine Leseverstehen hinaus Wertefragen in Erzählungen als Potenzial für ethische Reflexion und Probehandeln von jungen Menschen zu nutzen. Zentral ist für Bär dabei die Wertreflexionskompetenz. Tragfähig für weitergehende Studien und Unterrichtskonzepte wirkt einerseits das konsequente Zusammendenken von ethischer Bildung und Literaturunterricht, was auf Theorien der Wertebildung im Subjekt, der Werteentstehung im Individuum und den Möglichkeiten der Integration psychologisch evaluierter Verfahren in den Deutschunterricht referiert.

Aber Bär nimmt andererseits in seiner Studie zugleich eine dezidiert praxisorientierte Perspektive ein, ihm geht es um aktive Werteerziehung, welche im Unterricht durch die Auseinandersetzung mit geeigneten Inhalten gelingen soll. So betont er an zentraler Stelle seiner Studie: „Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, auf welcher Erzählebene welche Wertfragen aufgeworfen werden (also inwiefern intentionale Wertaussagen auf Textseite getroffen werden), bevor im Anschluss daran eine moralische Wertung des Gelesenen, Gehörten oder Gesehenen erfolgen kann.“ Das dazu entwickelte Textanalysemodell liefert wichtige Impulse für den Einsatz epischer Texte im Deutschunterricht. Insgesamt zeigt die Studie differenziert und materialreich die Potenziale von Erzählungen für die Wertebildung junger Menschen. Mit Blick auf Demokratiebildung und Nachhaltigkeitsdebatten ist der Band vielfältig anknüpfungsfähig.

Wenngleich Karoline Sprengers Arbeit über Bertolt Brechts Kinderlyrik keine Dissertation ist, geht das im Rahmen der Schriftenreihe der Brecht-Forschungsstätte Augsburg publizierte Buch der Bedeutung und der literarischen Gestaltung von Brechts Kinderlyrik intensiv nach. Die Autorin belegt differenziert und materialreich, dass sich Brecht „deutlich vor 1920 […] mit der Gattung der Kinderlyrik“ befasst hat. Leitprinzip des Bandes ist dabei, fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven zu verknüpfen, indem auch dem konkreten Unterrichtseinsatz entsprechender Texte in der Grundschule breiter Raum eingeräumt wird. Insofern ist der Text mehrfachadressiert, da er sich nicht nur an Brecht-Spezialisten wendet, sondern auch wichtige Impulse und Anregungen für Lehrkräfte enthält.

Sprengers These lautet, dass bereits der junge, für die Augsburger Neuesten Nachrichten und die München-Augsburger Abendzeitung schreibende Schüler Brecht mehrdeutige und bisweilen literarisch vielschichtige Gedichte verfasst hat. Vielfach changierten die entsprechenden Gedichte „zwischen tendenzliterarischer Banalität und einer Mehrschichtigkeit, auf der Brecht Distanz schafft zu gesellschaftspolitischen Diskursen seiner Zeit“. Dazu nimmt sie „Brechts Anfänge“, seine ersten Schreibversuche und seine frühen Lebensjahrzehnte intensiv in den Blick, wodurch ihr ein lesenswerter Einblick in Brüche und Verwerfungen seiner Biographie gelingt, der zugleich eine deutliche Abkehr Brechts von herkömmlichen Erziehungs- und Moralvorstellungen herausstellt. Daran knüpfen detaillierte Analysen zu ausgewählten Kindergedichten Brechts von den Anfängen im Jahr 1917 bis zu seinem Spätwerk an. Präzise und versiert belegt die Autorin, dass die frühen kinderlyrischen Texte traditionelle Formen und Inhalte sowie einfache metrische Strukturen und märchenhafte Formeln aufgreifen, um mit dem Tradierten zu spielen und gegen das dadurch symbolisierte Modell einer heilen, moralisch reinen Kinderwelt zu protestieren. Diese Tendenz lasse sich bis zu den entsprechenden Gedichten Brechts, die in der DDR entstanden sind, nachweisen, wie die Wissenschaftlerin im Kapitel „Sand ins Getriebe“ pointiert erläutert. Besonders diese Doppelbödigkeit eröffne zudem die Chance, Brechts Kindergedichte bereits in der Grundschule einzusetzen: „Schon im Deutschunterricht der Grundschule hat die Lektüre dieser Gedichte konkreten Nutzen und Wert, sogar mehr und in anderer Weise als die vieler anderer zeitgenössischer Gedichte, die sich zwar in den aktuellen Lesebüchern finden, von denen aber ein großer Teil bald wieder vergessen sein wird“.

Man kann dieses Projekt als ambitioniert bezeichnen, da Brechts Gedichte auch jungen Leserinnen und Lesern einiges abverlangen, indem sie kritische Reflexion und Freiheit des Denkens erfordern und selten voraussetzungslos sind. Methodisch verknüpft Sprenger den Einsatz von Brechts Kinderlyrik mit der Unterrichtsmethode des Literarischen Gesprächs und skizziert dazu eine Unterrichtssequenz anhand des Gedichtes Ulm 1592. Die Mehrfachadressierung des Buches zeigt sich auch in einer präzisen, aber keineswegs zu akademisch elaborierten Sprache, die offensichtlich einen größeren Leserkreis erreichen möchte. Ob sich Sprengers Fazit, wonach es nur auf den ersten Blick vermessen sei, „die oft recht komplexen Gedichte dieses großen Dichters in die Grundschule zu tragen“ in der schulischen Realität niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. Ambitioniert ist das Anliegen allemal.

Ganz anders gelagert ist hingegen der Duktus und die Konzeption der dritten Studie: „Betrachtet man den aktuellen Diskurs der Literaturdidaktik Deutsch, so fällt auf, dass dieser geprägt ist von der Suche, ja dem durchaus kontroversen Ringen um eine disziplinäre Identität als Wissenschaft“, so der erste Satz der wissenschaftstheoretisch angelegten Studie. Florian Schultz-Pernice legt eine dezidierte Modellierung der Gegenstände der Literaturdidaktik einerseits und des Literaturunterrichts andererseits vor. Leitgedanke ist dabei, dass die entsprechenden „Gegenstände überhaupt erst einmal unter den Bedingungen ihrer eigendisziplinären Perspektive zu konstituieren“ seien, was seine Dissertation facettenreich und versiert anstrebt. Schultz-Pernice konstatiert zunächst Spannungen zwischen literaturwissenschaftlichen und didaktischen Anforderungen im Diskurs der Literaturdidaktik, was ihn zur Notwendigkeit einer eigenständigen „literaturdidaktischen Objektkonstitution“ führt, die er als genuine Literatur der Literaturdidaktik versteht.

Ausführlich setzt er sich mit verschiedenen Ansätzen auseinander, etwa dem radikalen Konstruktivismus im Diskurs der Literaturdidaktik oder der kompetenzorientierten Literaturdidaktik, um immer wieder Problembereiche einer theoretischen Modellierung des Konstrukts „literarische Kompetenz“ zu diagnostizieren. Der umfangreichste Teil der Studie widmet sich der „Grundlegung einer literaturdidaktischen Objektkonstitution“, welche Literatur systematisch unter der Perspektive von „Lehren und Lernen“ von, zur sowie durch Literatur analysiert. In einer komplexen Modellbildung zeigt Schultz-Pernice die Dialektik von Subjekt- und Objektbezug sowie Reflexivität des literarischen Verstehens und die Grenzen des Interpretierens, um im Schlussteil seiner Studie nach dem praktischen Nutzen seiner Forschung zu fragen: Einerseits betont er, „dass die vorliegende Untersuchung in ihrer gesamten Anlage ein Zeichen setzt, dass die Literaturdidaktik überhaupt einer eigenständigen Theoriebildung bedarf“. Andererseits geraten die Ausführungen immer dann besonders lesenswert, wenn es dem Autor gelingt, die Schülerinnen und Schüler als aktiv Lernende in den Blick zu nehmen. So erläutert er beispielsweise, „dass den Schülerinnen und Schülern die Generierung persönlicher und privater Sinnbildungsprozesse im Literaturunterricht zu ermöglichen wäre, um sie zu einem reflexiven literarischen Verstehen im Spannungsfeld von subjektiven und intersubjektivierbaren Interpretationen zu befähigen“. Konkrete Umsetzungsszenarien und Unterrichtsideen bietet der Band jedoch nur selten, dafür ist er zu konzeptionell angelegt.

Fazit: Wer sich für literatur- und wissenschaftstheoretische Fragestellungen zur Themen- bzw. Objektkonstitution von Deutschunterricht und Literaturdidaktik interessiert, wird Schultz-Pernices sachkundiges und substanziiertes Buch durchweg mit Gewinn lesen. Ein weniger versiertes Publikum kann es als Einstieg in die Thematik nutzen, wird sich aber nicht immer leicht tun mit der theoriegesättigten Diktion, die eher einschlägig Forschende adressiert.

Für alle drei Bände gilt abschließend, dass sie wissenschaftlich fundiert und mit hoher Fachexpertise verfasst worden sind. Sie ermöglichen vielfältige Einblicke in aktuelle Diskussionen um Deutschunterricht, literarisches Lernen und Querschnittsaufgaben von Unterricht. Ferner liefern sie vielfältige Anknüpfungspunkte, um zukünftig mit empirischen Studien relevante Teilaspekte zu erforschen.

Titelbild

Florian Schultz-Pernice: Die Literatur der Literaturdidaktik. Grundlegung und Entwurf einer literaturdidaktischen Objektkonstitution aus deutschdidaktischer Perspektive.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2019.
501 Seiten, 54,99 EUR.
ISBN-13: 9783476048653

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Karoline Sprenger: Bertolt Brechts Kinderlyrik. Hintergründe, Analysen und fachdidaktische Perspektiven.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
241 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826066306

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Florian Bär: Werteerziehung im Deutschunterricht. Didaktische Grundlagen und Konzeptionen.
Edition Ruprecht, Göttingen 2019.
313 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783846903285

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch