Ein neuer Ansatz der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts

Peter Sprengel legt eine unkonventionelle Darstellung der deutschsprachigen Literatur zwischen 1830 und 1870 vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der C.H. Beck Verlag hat seine auf zwölf Bände angelegte Geschichte der deutschsprachigen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart fortgesetzt – mit Band VIII, der den Zeitraum von der Juli-Revolution 1830 bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 beleuchtet. Im Zentrum der von scharfen Gegensätzen geprägten Epoche steht die gescheiterte Revolution von 1848/49 als Höhepunkt der gesellschaftlichen Politisierung. Die Ära vor 1848 (meist ab 1815) wird seit dem frühen 20. Jahrhundert als „Vormärz“ bezeichnet. Mit dieser politischen Zäsur enden meist andere mehrbändige Literaturgeschichten und die Autoren lassen dann einen neuen Band beginnen. Peter Sprengel, der bis zu seiner Emeritierung 2016 als ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin lehrte, hatte zunächst auch eine herkömmliche Zweiteilung des Aufbaus – vor und nach der Märzrevolution – erwogen, doch schließlich darauf verzichtet, was manche Kontinuitäten und Diskontinuitäten besser sichtbar werden lässt. Außerdem gestattet der Verzicht eine stärkere Berücksichtigung des sogenannten „Frührealismus“ vor 1848. Durch Fokussierung auf den nachmärzlichen Realismus ist in Vergessenheit geraten, dass sich bestimmte realistische Schreibweisen und Darstellungen schon in den 1830er und 1840er Jahren ausprägten oder zumindest vorbereiteten. 

Die Literaturgeschichte beginnt mit einem kleineren Kapitel, in dem Sprengel anhand von vier exemplarischen Schriftstellerlebensläufen – Fritz Reuter, Ida von Hahn, Carolus Magnus Postl und Friedrich Hebbel – den epochentypischen Gegensatz von Enge und Weite, von Statik und Dynamik vergegenwärtigt. Gemeint ist der Gegensatz, der um die Begriffe „Biedermeier“, „Junges Deutschland“ und „Vormärz“ kreist. So war die Literatur der Epoche auch geprägt von Denkmalskult, Literaturskandalen, Zensur, Ideenschmuggel und Nationalmythen (Nibelungen). 

Im Anschluss verbindet Sprengel dann in einem Epochenporträt Politik, Öffentlichkeit und Literatur und breitet hier Ereignisse und Debatten aus, die in diesen vier Jahrzehnten das politische, soziale und literarische Geschehen in Deutschland bestimmt haben. Das Hambacher Fest, der Hessische Landbote, die „Göttinger Sieben“ oder der Weberaufstand 1844 waren solche richtungsweisenden Ereignisse im Vorfeld der Märzrevolution, während die Jahre danach von den politischen Erfolgen Napoleons III., dem militärischen Konflikt um die Herzogtümer Schleswig und Holstein (1864) sowie dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 geprägt waren. Vor dem Hintergrund dieser politischen Spannungen wurden die teils mehrtägigen Schiller-Feierlichkeiten (1859) zum 100. Geburtstag des Dichters als nationale Projektionsfläche genutzt und vereinnahmt. „Die Diskrepanz zwischen den allgemeinen Hoffnungen auf eine nationale Revanche für 1848–1850 und dem tatsächlichen Kriegsgeschehen und -resultat wurde durch symbolische Ersatzhandlungen geschlossen“, so Sprengel in seiner Einschätzung. 

Der zweite Teil beleuchtet dann die Literaturgeschichte nach Gattungen (Epik, Dramatik, Lyrik und Nichtfiktionale Prosa). In der deutschen Literatur entwickelte sich der Roman in dieser Zeit erst zu einer neuen Prosaform, der dann viele Ausdrucksformen fand – vom historischen Roman bis zu Kriminalerzählungen. Stifter, Keller, Ludwig, Freytag oder Raabe waren hier die bekanntesten Vertreter. Eine Lanze bricht Sprengel für den vergessenen Karl Gutzkow, den er als Romancier überaus schätzt, und den es wiederzuentdecken gilt. 

Die Dramatik der Epoche wurde weitgehend vom Geschichtsdrama bestimmt – von den Nibelungen-Zyklen Wagners und Hebbels oder den Dramen Grillparzers und Grabbes. Letzterer hatte mit seinem genialen Jugendstreich Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung auch eine bedeutende Literatursatire verfasst. Das Aufblühen der Posse nach 1830 signalisierte außerdem den Beginn einer volkstümlich-progressiven Literatur. Die Lyrik wurde im 19. Jahrhundert zum massenhaft verbreiteten literarischen Reflexionsmedium – von der romantischen Liebeslyrik bis zur sozialkritisch-politischen Gebrauchslyrik, deren Aufkommen eines der markantesten Ereignisse der deutschen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts darstellt. Eine Wiederbelebung erfuhr auch die Naturlyrik, die um neue Motive (Meer, Heide und Hochgebirge) erweitert wurde.

Eine Lieblingslektüre des erstarkenden Bürgertums war auch die Biografie, wobei die nationalpolitische Fokussierung eine erhebliche Einschränkung für die Entwicklung der Gattung war. Der enorme Anstieg der Mobilität brachte ebenfalls ein verstärktes Interesse an Reiseliteratur mit sich – von Heines Reisebildern über Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg bis zu Reiseberichten mit „kolonialistischen und/oder darwinistischen Einsprengseln“.

Die gelungene Darstellung mit einer Fülle originaler Einsichten und einer sehr aktuellen Bibliografie, die bis ins Jahr 2019 reicht, ist als Handbuch und Nachschlagewerk geeignet und sowohl für Germanisten als auch für den interessierten Laien eine Fundgrube und dankbare Hilfe, um sich in der enormen Literaturproduktion des 19. Jahrhunderts zurechtzufinden. Auf das Beziehungsgefüge von Zeitgeschichte, gesellschaftlicher Entwicklung und Literatur weist Sprengel immer wieder hin, sodass gleichzeitig ein facettenreiches Panorama einer Epoche entsteht, die die Literatur häufig als ein nationales Unternehmen begriff.

Titelbild

Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1830-1870. Vormärz – Nachmärz.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
XVII, 781 Seiten , 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783406007293

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