Die schöne bunte Unterwasserwelt
Siegfried Lenz erzählt in „Florian, der Karpfen“ sensibel von Fischen
Von Thorsten Paprotny
Der Nachlass von Siegfried Lenz birgt weitere Kostbarkeiten für die Leserschaft. Die Naturverbundenheit des Erzählers bleibt zeitlebens sanft eingezeichnet in den literarischen Kosmos, stets jenseits romantischer Verklärung und sentimentalischer Emphase. Öffentlich geehrt und von der Leserschaft verehrt wird der 2014 verstorbene Schriftsteller, der nie zynisch, grimmig oder artifiziell ironisch seine Gestalten vorführt und ausliefert, bis heute. Er schreibt mit Sympathie und Mitgefühl. Von Fischen, nicht vom Fischen, berichtet Lenz in dieser Geschichte. Von ihnen könne man nur in „biblischem Tonfall“ sprechen, seien sie doch älter als die Menschen und erst recht älter als die Angler. In den Band eingefügt ist auch eines der wenigen Gedichte von Siegfried Lenz, das 1948 entstanden ist, wie im Vorwort berichtet wird, und „zwischen seinen Vorlesungsmitschriften zum Literatur- und Philosophiestudium“ wiederentdeckt wurde.
Jahre bevor er dem Karpfen Florian ein Märchen widmet, sinniert der Student Siegfried Lenz, ein wachsamer Träumer, über das „Silberspiel des Teiches“ und bekennt: „Du hast meinen Sinn verführt.“ Kurz nach dem Krieg, inmitten der Trümmerwelt und von innen her versehrt, wünscht sich dieses lyrische Ich, stellvertretend für viele, „Purpurflossen“ und möchte sich wie ein „stummer Fisch“ an der „bunten Wirklichkeit“ unter Wasser „gut und reichlich laben“:
Wie entlegen ist das Ufer!
Ja, ich bin ein Fabelrufer
mit verworrenem Geschick.
Wählt ihr einst zu einem Feste
unter kranken Menschen Gäste:
Fische, denkt an mich zurück.
Wenige Jahre später wünscht sich der Junge Karlchen so sehr eine „schöne, silberne Schwimmblase“, um wie die Fische schwimmen zu können. Er fragt seine Eltern, warum und woher Fische diese Schwimmblasen hätten. Niemand weiß es. Der „alte Haubentaucher Pablo“ aber kennt die Antwort. Karlchen mietet zwei junge, schnelle Haubentaucher, die ihn für zwanzig Pfennig auf einem Brett weit hinaus auf den See bringen, jedenfalls weit genug. Karlchen wollte „unter Wasser fahren und die Fische selbst fragen, woher sie ihre schönen, silbernen Schwimmblasen haben“. Die Fische sind aber ängstlich und verschwiegen, fürchten sich auch vor dem Tempo, mit dem Karlchen über das Wasser gleitet. Als er langsamer zu fahren beginnt, trifft er den Krebs Hans von Zwickau, der sich aufgeschlossen zeigt, aber die Antwort auf Karlchens Frage verweigert. Er begegnet dem freundlichen Brassenmädchen Rosa, die nicht anders reagiert als der Krebs. Karlchen bleibt auf der Suche:
Manchmal tauchte er auf, um Luft zu holen, und dabei dachte er: Wenn ich bloß erst eine Schwimmblase habe, dann ist das alles nicht mehr nötig. Unter Wasser ist es viel schöner als über Wasser, und es wäre ja gelacht, wenn ich keine Schwimmblase bekäme. Irgend jemand muss sie auch den Fischen geben.
Erst ein Maränenfräulein namens Blinkerchen, das an einer Angel hängt, verrät ihm nach ihrer Rettung durch Karlchen widerstrebend, wovon kein Fisch erzählen darf. So begegnet er dem „großen Künstler“ Florian, ein riesiger, fast bewegungsloser Karpfen, alt, taub und blind:
Mit seinen dicken, weichen, beweglichen Lippen konnte er die schönsten Luftblasen formen, die je geformt wurden. Er nannte sich darum auch Kunstluftblasenbildner. Manchmal hatten seine Luftblasen die Form von Pinguinen, manchmal von Tabakpfeifen; ein anderes Mal blies er welche, die sahen aus wie Herzen oder wie Rettungsringe. Es fielen ihm immer neue Sachen ein. Dieser alte und taube Karpfen Florian machte auch die schönen, silbernen Schwimmblasen.
Bewacht von dem strengen, hochgemuten Fisch Neunauge blies Florian also den Fischbabys die Schwimmblasen ein. Das Geheimnis sollte gehütet werden, damit niemand den alten Karpfen und seine Kunst für eigene Zwecke missbrauchen konnte. Da Neunauge aber auch bestechlich war, reihte sich Karlchen ein und erhielt eine Schwimmblase, die so groß war, dass er nach oben trieb und nicht tauchen konnte. Er suchte erneut, mit Unterstützung des korrupten Neunauge, die Hilfe des Karpfens. Doch das Geschenk eines Taschenspiegels führte dazu, dass Neunauge sich erblickte und in Wut geriet über die Hässlichkeit, die er bei sich selbst erkannte. Der Spiegel musste schuld sein. Aufgeregt agierte er. Der Karpfen erhielt einen harten Schlag mit einer Muschel, seufzte sehr, so sehr, „daß er die ganze Schwimmblase aus Karlchen mit herauszog, bis auf einen kleinen, winzigen, winzigen Rest“: „Diesen Rest nennt man heute Blinddarm.“ Ein märchenhaftes Ende der Geschichte? In jedem Fall blieb das Paradies der Unterwasserwelt für Menschen zumindest dauerhaft verschlossen, zu Gast sein durften sie weiterhin – doch ohne Schwimmblase.
Die Geschichte von Siegfried Lenz endet hier und geht doch weiter, denn der Karpfen wurde später zum „Fisch des Jahrhunderts“ gewählt – und der Schriftsteller hielt eine Lobrede anlässlich der Verleihung dieser „außerordentlichen Würde“, die eine Art „Nobelpreis“ sei für Fische, für die „beschuppten Freunde“. Liebevoll berichtet er von den vertrauten, hellhörigen Karpfen, die am See auf ihn und seine Frau sich zubewegten:
Ihr, meine Karpfen – so dachte ich –, wolltet seit jeher immer ihr selbst sein, gleichviel, in welch einem Gewässer ihr lebtet. […] Mit seiner oft bewiesenen Schläue, mit seinem Argwohn, mit seiner unvermuteten Kampfnatur stellt dieser ledermäulige Freund für jeden Angler eine Herausforderung dar.
Behutsamkeit und List seien erforderlich. Aber Lenz bekennt sich zu einer „persönlichen Sympathie“, die Karpfen seien ihm ans Herz gewachsen, wenn sie sich zutraulich näherten, ja sie führten auch „übermütig einige Schwimmkunststücke vor“. Fortan legte Siegfried Lenz die Angel für immer beiseite:
Wir haben unser Gewässer einen Gnadenteich genannt; Schonzeit ist also garantiert; lebenslang. Wer meine Karpfen erlebt hat, ihre Friedfertigkeit, ihre Lebensfreude, ihre Zutraulichkeit und nicht zuletzt ihre verblüffende Schönheit – wird gewiß Verständnis dafür haben.
Das erzählerische Werk von Siegfried Lenz, dem menschenfreundlichen Schriftsteller, birgt kostbare, heitere, ernste und traurige Geschichten. Er hat eine große Leserschaft mit Romanen, Novellen und kleinen Episoden erfreut. Wertgeschätzt wurde und wird die hohe Sensibilität und gütige Einfühlsamkeit, mit der er die bunten Eigenheiten von Mensch, Tier und Welt beschreibt. Auch die märchenhafte Erzählung über den Karpfen Florian berührt sehr, regt zugleich an, über die Natur nachzudenken und dankbar zu sein für die unbegreifliche Schönheit dieser Welt. Lenz spricht von seinem „Meditationsbänkchen“ am See. Wer diese Geschichte liest, sieht den Schriftsteller dort vielleicht von innen her am Ufer sitzen, ins Weite hinausschauend, ganz bei sich selbst und den befreundeten Lebewesen in der Unterwasserwelt herzlich zugetan. Dieses kleine, liebevoll gestaltete Buch schenkt vielen Leserinnen und Lesern heute eine große Freude.
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