Erinnerungen, politische Schriften und Reden sowie Montagsgedichte

Drei Neuerscheinungen aus dem Atrium Verlag läuten das Erich Kästner-Jubiläum im nächsten Jahr ein

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jubiläen werfen manchmal lange Schatten voraus. So in diesem Jahr. Obwohl erst 2024 der 125. Geburtstag des Schriftstellers Erich Kästner (23. Februar) ist und ein knappes halbes Jahr später am 29. Juli sein 50. Todestag, nimmt der Züricher Atrium Verlag dieses Doppeljubiläen bereits ins Visier. So startete der Verlag, der die Weltrechte an sämtlichen Büchern des Schriftstellers hat, schon im August 2022 die dreibändige Reihe Erich Kästner und seine Stadt zu seinen wichtigsten Wirkungsstätten: Dresden, Berlin und München. Den Auftakt machte natürlich Kästners Geburtsstadt, wo er seine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte und die er erst im Herbst 1919 verließ, als er in Leipzig sein Studium begann. Doch in seine Heimatstadt kehrte er immer wieder besuchsweise zurück und bewahrte die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend stets in seinem Herzen. Die Neuerscheinung Vom Glück, in Dresden aufzuwachsen versammelt Gedichte und Texte des Autors, die Dresden aus seinem Blickwinkel zeigen und dabei ein wunderbar plastisches Bild der Stadt an der Elbe zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnen.

In seinem autobiografischen Buch für Kinder und Nichtkinder Als ich ein kleiner Junge war (1957) schwärmte später der fast Sechzigjährige:

Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte und trotzdem kein von sechshundertfünfzigtausend Dresdnern zufällig bewohntes Museum. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang. Eigentlich müsste es heißen: im Zweiklang. Und mit der Landschaft zusammen, mit der Elbe, den Brücken, den Hügelhängen, den Wäldern und mit den Gebirgen am Horizont, ergab sich sogar ein Dreiklang, Geschichte, Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal.

Wie lebendig diese Erinnerungen waren, beweist auch das Gedicht „Begegnung mit einem Trockenplatz“ aus dem Gedichtband Gesang zwischen den Stühlen (1932), das die Kindheitserfahrungen und die Erinnerung an die Mutter reflektierte.

Im Februar 1945 verfolgte Kästner von Berlin aus die schweren Luftangriffe auf seine Heimatstadt und notierte am 14. Februar in seinem literarischen Tagebuch Notabene 45: „Jahrelang schien es, als wolle der Gegner Dresden vergessen. Und nun, wie wenn er alles nachholen wolle: Bomberströme überm Elbstrom. Wann werde ich erfahren, wie es den beiden geht?“ Zwei Wochen später die erlösende Nachricht: „Und die Eltern leben! Trauer, Zorn und Dankbarkeit stoßen im Herzen zusammen. Wie Schnellzüge im Nebel.“

Nach dem Krieg besuchte Kästner im September 1946 Dresden das erste Mal wieder:

Das, was man früher unter Dresden verstand, existiert nicht mehr. Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorrha. […] Wie von einem Zyklon an Land geschleuderte Wracks riesenhafter Dampfer liegen zerborstene Kirchen umher. Die ausgebrannten Türme der Kreuz- und der Hofkirche, des Rathauses und des Schlosses sehen aus wie gekappte Masten.

Ostern 1949 weilte Kästner dann noch einmal für fünf Tage bei den Eltern in Dresden. Die Mutter lebte wegen ihrer zunehmenden Verwirrtheit schon seit 1947 in einer privaten Nervenklinik. Im Februar 1967 kam er schließlich ein letztes Mal in seine Geburtsstadt, zu einer Lesung in der Gemäldegalerie des Zwingers.

Zu der kleinen Auswahl an Gedichten und Texten steuert die Slawistin, Übersetzerin und Kästner-Expertin Sylvia List kompakte und erhellende Informationen bei. Man darf gespannt sein auf die beiden weiteren Bände der Reihe. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf: Warum wird Leipzig nicht berücksichtigt? Schließlich studierte Kästner hier und als Journalist und Theaterkritiker begann in der Messestadt seine schriftstellerische Karriere.

Die zweite Neuerscheinung Resignation ist kein Gesichtspunkt zeigt, dass Erich Kästner, der heute fast nur noch als Kinderbuchautor wahrgenommen wird, durchaus ein politischer Schriftsteller war. Nicht nur in seinen journalistischen Arbeiten, in beinahe allen Werken kommt sein politisches Engagement für Frieden und Gerechtigkeit zum Vorschein. Sein publizistisches Werk ist dabei unüberschaubar und dürfte schon vor 1933 mehrere tausend Artikel umfassen. Außerdem publizierte er in Zeitungen und Zeitschriften unter Pseudonymen oder Kürzeln. Noch heute tauchen Artikel auf, die ihm zugeschrieben werden.

Mit den Feuilletons und poltischen Reden, die der Herausgeber und Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek ausgewählt hat, will er eine Orientierung über das Repertoire von Kästners politischen Schriften ermöglichen. Die Auswahl von 43 Texten präsentiert in chronologischer Folge sowohl einige bekannte Beiträge wie auch Texte, die nach ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr nachgedruckt wurden.

Bereits in seinen frühen Artikeln in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, als Kästner Feuilletonredakteur der Neuen Leipziger Zeitung war, äußerte er sich kritisch zum Tagesgeschehen der Weimarer Republik – so in dem Artikel Diktatur von gestern, in dem er das „antiquierte Prinzip der Diktatur“ als „neue Zeitkrankheit“ entlarvte. Er stellte die Kriegsvergesslichkeit der Deutschen ebenso bloß wie die Verharmlosung des Krieges durch Kinderspielzeug oder politische Kartenspiele. Seine Kritik verpackte er dabei stets in kleine Geschichten – mitunter auch unter Verwendung des sächsischen Dialekts.

Nachdem sich Kästner entschlossen hatte, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zu bleiben, musste er Kompromisse eingehen. Als „verbrannter Autor“ schrieb er jetzt meist Unterhaltungsliteratur oder zwei Filmdrehbücher – darunter auch das Drehbuch zu dem umstrittenen Münchhausen-Film (1943) mit Hans Albers. Sein Pseudonym „Berthold Bürger“ fand jedoch nicht nur im Vorspann keine Erwähnung, sondern durfte auch in der Presse nicht publiziert werden. Oft ist Kästner für sein Bleiben im faschistischen Deutschland kritisiert worden. Andere dagegen lobten seinen ungeheuren Mut, einfach dazubleiben.

Die Jahre unter dem NS-Regime hatten Kästner und seine Ansichten verändert. Zunächst registrierte er die unfassbaren Verwüstungen des Krieges und setzte sich ohne moralische Verurteilungen mit der deutschen Schuld auseinander. In den 1950er und 1960er Jahren war Kästner dann wieder ein sorgfältiger Beobachter und Chronist der Zeitumstände. Obwohl seine Texte immer noch etwas Anekdotisches hatten, war seine Kritik viel radikaler als in den 1920er Jahren. Er engagierte sich in der Friedensbewegung der jungen Bundesrepublik und wandte sich in seinen Artikeln und Reden gegen den aufkeimenden Nationalismus, die atomare Bewaffnung der Bundeswehr oder den Vietnam-Krieg.

In einer Ansprache auf dem Königsplatz in München anlässlich des Ostermarsches 1961 rief er den Demonstrationsteilnehmer*innen zu: „Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Phantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!“ Dieser Satz wurde zu seiner Maxime. Seine Hoffnung war jedoch immer die Jugend:

Wer an die Zukunft glaubt, glaubt an die Jugend. Wer an die Jugend glaubt, glaubt an die Erziehung. Wer an die Erziehung glaubt, glaubt an Sinn und Wert der Vorbilder. Denn die Jugend will und braucht auf ihrem Weg in die Zukunft keine noch so gut gemeinten vaterländischen, europäischen und weltbürgerlichen Redensarten, keinen Katalog, keinen Baedeker, sondern weithin sichtbare, im Lande der Zeit Richtung und Ziel zeigende Wegweiser, sie will und braucht: Vorbilder.

Obwohl sich Kästners Feuilletons und Reden meist am jeweiligen Tagesgeschehen orientierten und somit Zeitzeugnisse darstellen, haben viele von ihnen mit ihren Aussagen und Mahnungen einen zeitlosen Wert und sind auch heute noch aktuell.

Mit einer Neuausgabe seiner Montagsgedichte, die neben den Kinderbuchklassikern und dem Roman Fabian (1931) zu den bekanntesten Werken von Erich Kästner gehören, hat der Atrium Verlag den zahlreichen Kästner-Verehrern ein weiteres Jubiläumsgeschenk gemacht. Die Sammlung mit Gebrauchslyrik wird in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihrer Beliebtheit in regelmäßigen Abständen herausgebracht. Die Gedichte gehen auf die Jahre 1928 bis 1930 zurück, in denen der junge Kästner wöchentlich ein Gedicht in der Berliner Zeitung Montag Morgen veröffentlichte und dem Zeitgeschehen der Weimarer Republik den Spiegel vorhielt.

Titelbild

Erich Kästner: Vom Glück, in Dresden aufzuwachsen. Erich Kästner und seine Stadt.
Hg. Sylvia List.
Atrium Verlag, Berlin 2022.
96 Seiten , 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783855351312

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Titelbild

Erich Kästner: Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons.
Hg. und Nachwort von Sven Hanuschek.
Atrium Verlag, Berlin 2023.
240 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783855351336

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Erich Kästner: Die Montagsgedichte. Mit einem Vorwort von Marcel Reich-Ranicki.
Kommentiert von Jen Hacke.
Atrium Verlag, Zürich 2022.
213 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783038820284

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