Kommt jetzt der „existential turn“?
Tilmann Köppe und Fabian Finkendey werfen ein neues Licht auf alte Texte: „Glück, Tragik, Tod, Sinn. Vier literarische Entwürfe“
Von Willi Huntemann
Eine in jeder Hinsicht weite Spanne markieren die vier Erzählwerke, die Tilmann Köppe und Fabian Finkendey hier im Zusammenhang interpretieren: von Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Kannitverstan (1808) über Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter (1888), Leo Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) bis hin zu Kashuo Ishiguros Roman Was vom Tage übrig blieb (1989). Sind diese Texte – zwei davon zählen zum schulischen Lektürekanon in Deutschland – nicht schon viel zu oft interpretiert worden? Böte sich nicht wenigstens ein frischer Zugang von neueren Diskursen und Disziplinen aus an? Hebels altbekannte Kalendergeschichte wäre sicher als Fremderfahrung ergiebig für die Xenologie, Tolstois Erzählung anschlussfähig für Thanatologie und (neuerdings) Kulturgerontologie und Storm wie Ishiguro ließen sich in Gender-Perspektive auf männliche Selbstentwürfe hin befragen. Was die beiden Literaturwissenschaftler indes bieten, könnte nicht weiter davon entfernt sein und beinahe auch nicht weiter vom Mainstream kurrenter germanistischer Textlektüren.
Die Texte werden von ihrer existenziellen Thematik her erschlossen und sind so ausgewählt, dass der thematische Fokus jeweils auf einem Leitbegriff liegt: Glück, Tragik, Tod, Sinn. Das freilich sind systematisch vieldeutige Großkonzepte der Kultur, die jeweils über eine jahrhundertelange Diskurstradition in und außerhalb der Wissenschaft, vor allem der Philosophie verfügen. Fruchtbar werden sie hier nur, weil das methodische Vorgehen der beiden Verfasser an der angloamerikanischen analytischen Philosophie geschult ist, die – anders als die kontinentaleuropäische – sich nicht von der Suggestionskraft dieser unscharfen, traditionsbeladenen Konzepte beeindrucken lässt und sie auf kleinteiliges Argumentieren herunterbricht. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass existenzielle Kategorien in der Literaturdeutung im Gefolge der Existenzphilosophie Heideggers systematisch eine Rolle gespielt haben. Seit der Neuorientierung der Germanistik in den 60er-Jahren waren andere Perspektiven auf Literatur (sozial, historisch, kulturell) vorherrschend.
Alle Protagonisten der vier Erzählwerke stehen exemplarisch für das Konfrontiert-Sein mit „Problemen existenziellen Zuschnitts“: die letztliche Zufriedenheit des Handwerksburschen in Hebels Kannitverstan beruht auf falschen Annahmen über die Welt, das tragische Scheitern des Deichgrafen Hauke Haien in Storms Novelle ohne persönliche moralische Schuld hat einen tieferen, noch zu klärenden Grund, Iwan Iljitsch in Tolstois Erzählung sieht sich mit seinem baldigen Tod konfrontiert und weiß nicht, wie er sich dazu verhalten soll, und schließlich richtet der Butler Stevens in Ishiguros Roman sein ganzes Leben konsequent nach dem Ethos aus, das ihm sein Butler-Beruf vorgibt.
All das sind Probleme, die das Leben als Ganzes betreffen und für alle Menschen von Bedeutung sind, sofern sie ein Bewusstsein von ihrer Lebensführung haben. „‚Glück’, ‚Tragik‘, ‚Tod‘ oder ‚Sinn‘ [sind] so etwas wie letzte Koordinaten, an denen praktische Entscheidungen des Alltags orientiert sein und von denen aus sie beurteilt werden können.“ Was diese Probleme auszeichnet, ist ihr aporetischer Charakter: Sie lassen sich nicht durch Nachdenken lösen und stellen sich in jedem Leben neu. Damit verbunden ist ihre Allgemeinmenschlichkeit – ein Begriff, mit dem in der vorherrschenden Interpretationspraxis lange nicht so unverkrampft umgegangen wurde wie hier, geht es dieser doch bis heute darum, das, was in unbefangener Lektüre als „allgemeinmenschlich“ oder gar „zeitlos“ erscheint, in historische und kulturelle Kontexte einzuordnen.
Für die argumentative und begriffsanalytische Klärung dieser allgemeinen conditio humana ist gemeinhin die Philosophie zuständig. Sie ist Referenzrahmen für die vorliegenden Interpretationen, wobei ein doppeltes Ziel verfolgt wird: Der Text wird von dem jeweiligen existenziellen Problem her erschlossen und zugleich soll dieses im Medium des literarischen Textes besser verstanden werden. Als philosophische Bezugsautoren dienen Denker wie der US-amerikanische Moralphilosoph Harry S. Frankfurt – hierzulande vor allem mit dem leicht überschätzten Essay On Bullshit bekannt geworden – oder Thomas Nagel, einer der ersten Philosophen analytischer Provenienz, der sich bereits in den 80er-Jahren erneut den vormals als metaphysisch verpönten „mortal questions“ (so der Buchtitel) um Leben, Tod und Unsterblichkeit zugewandt hatte. Im Hintergrund steht aber auch die Wiederentdeckung der Frage nach dem guten Leben in der Philosophie, wie bereits Ende der 90er-Jahre Publikationen auch in Deutschland belegen. Die Lektüren der beiden Autoren erreichen eine argumentative Dichte und analytische Genauigkeit, wie man sie nur aus Aufsätzen der analytischen Philosophie her kennt, nicht aber von germanistischen Interpretationen. Close reading und clear argueing ergänzen sich aufs beste. So verstanden, in ihrer Rolle als Medium philosophischer Reflexion über existenzielle Grundfragen, werden die vier Erzähltexte zu „literarischen Entwürfen“, wie es im Untertitel der Studie heißt.
Die eigentliche Pointe der Interpretation als „Entwürfe“ liegt aber darin, dass sich aufdrängende Lesarten und geläufige Deutungen, die auf eine eindeutige moralische Botschaft oder Lehre zielen, hinterfragt werden. Die Texte werden im Verlauf des close reading ambivalenter, als es zunächst den Anschein hat. Statt eindeutiger Lebensmaximen, die sich aus dem vermeintlichen Fehlverhalten der Protagonisten herzuleiten scheinen, stellen die Texte Reflexionsangebote bereit. Die Verfasser können überzeugend darlegen, dass das der Komplexität der existenziellen Problemlagen wie der kanonischen Texte eher gerecht wird.
Köppe und Finkendey betrachten das Werk nicht als „Turngerät für philosophische Salti“. Wären nicht polemische Untertöne dem intellektuellen Stil der beiden Autoren fremd, drängte sich an dieser Stelle ein Bonmot des Literaturwissenschaftlers Achim Geisenhanslüke auf, der einmal spöttisch bemerkte, nach den diversen „Turns“ der Literaturwissenschaft habe es sich „am Reck der Germanistik (…) ausgeturnt“. Zu denken wäre jedenfalls an die ungezählten „Lektüren“ eines Textes X mit dem Theoretiker Z (Foucault, Lacan, Luhmann etc.). Nein, einen neuen „Turn“ wollen Köppe/ Finkendey nicht auf den Weg bringen, dafür halten sie sich mit theoretisch-methodologischen Überlegungen zurück zugunsten der flüssigen Lesbarkeit der Studie. Ihr theoretischer Hintergrund ist vielmehr die analytische Literaturwissenschaft, eine an den Methoden der analytischen Philosophie orientierte Art der Untersuchung von literarischen Texten – von Köppe in zahlreichen Arbeiten zur Literatur- und Erzähltheorie ausgearbeitet –, die großen Wert auf klar definierte Begriffe und nachvollziehbare Argumentationen legt. Obwohl bereits in den 80er-Jahren projektiert (Siegfried J. Schmidt/Peter Finke) und immer wieder programmatisch weiterentwickelt, hat diese Richtung praktisch kaum Spuren in der Interpretationspraxis hinterlassen.
Köppe/Finkendeys vorliegende Studie ist nun mehr als eine Musteranalyse aus dem Geist der analytischen Literaturwissenschaft, ist sie doch auch für Nicht-Literaturwissenschaftler lesbar, die einfach nur an diesen vier Texten der Weltliteratur unter einer allgemeinen, jeden betreffenden Perspektive interessiert sind. Erreicht wird dies durch eine schlanke, konzise Gedankenführung, die für die vier Texte (darunter einen Roman) gerade einmal 150 Seiten benötigt – für germanistische Arbeiten sensationell wenig – und dabei ohne jeglichen terminologischen Jargon wie auch Namedropping zu Imponierzwecken auskommt. Der Leser, der eher wissenschaftlich interessiert ist, kommt in dem ebenso straff gehaltenen Anmerkungsapparat auf seine Kosten, der neben den Referenzen auf philosophische Literatur auch auf die einschlägige philologische Forschung zu den einzelnen Autoren verweist. Emil Staigers Diktum, wer Literaturwissenschaft betreibt, verfehle entweder die Wissenschaft oder die Literatur, wird hier Lügen gestraft – auch wenn man die Alternative modifiziert zu Wissenschaftlichkeit vs. Lesbarkeit. Es sieht vielmehr so aus, als würde ein germanistisches Schreiben, das sich an eine breitere gebildete Öffentlichkeit richtet, ohne den wissenschaftlichen Anspruch popularisierend abzusenken, wie es seinerzeit Altmeister ihres Faches wie Albrecht Schöne oder Peter von Matt erfolgreich vorgemacht haben, mit diesem überdies noch ansprechend gestalteten Büchlein wieder aufleben.
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