Am Anfang war das Geheimnis
Der fünfte Band der Reihe 'Archäologie der literarischen Tradition' wirft einen Blick auf den 'Gründungsakt der Kultur'
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGemeinhin wird angenommen, daß sich momentan eine flächendeckende Erweiterung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft vollziehe. Passend dazu hat Wilfried Barner im vorletzten Band des 'Jahrbuchs der deutschen Schillergesellschaft' zur Diskussion der Frage aufgerufen, ob der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden komme. Erste publizierte Antworten kreisen um das konfusionsreiche Bonmot des Ethnologen Clifford Geertz, Kulturen seien als Texte zu betrachten. Da das Modewort 'Kultur' fast nichts mehr aus-, aber viel einschließt, wird aus dem Philologen somit ein Medienkulturexperte.
Dabei ist die Frage so neu nun auch wieder nicht. Das Forschungsprojekt einer 'Archäologie der literarischen Kommunikation' verfolgt bereits seit Ende der siebziger Jahre das Ziel, eine neue, ethnologisch, kulturgeschichtlich und religionsgeschichtlich akzentuierte Literaturwissenschaft zu fundieren. Damit wurde zugleich dem Text sein Kontext erschaffen. Ausgangspunkt des Projekts war die Frage nach einer Archäologie des literarischen Textes. Bekanntlich bedeutet archaiología im Griechischen die Kunde vom Anfänglichen, von alten Dingen, so daß sich die daraus abgeleitete Fachwissenschaft der Erforschung von Spuren der Vergangenheit, der kulturellen und zivilisatorischen Überreste und der literarischen wie nichtliterarischen Überlieferung vergangener Gesellschaften widmete. Unterzieht man diesen Begriff dem spätestens seit Derridas Konzept der grammatologie zu beobachtenden literalistic turn, der schriftphilosophischen Wende vom Text als Kommunikationsmedium zum Text als mitunter unlesbarer Konfiguration von Zeichen bzw. 'Texturen', dann wird man des Ursprungs dieses von Aleida und Jan Assmann initiierten und über die Jahre auf permanent hohem Niveau gehaltenen Forschungsprojekts gewahr.
Nach den Vorgaben der Herausgeber werden die Ursprungsbedingungen von Texten und deren literarisch produktive, poetogene Prinzipien erforscht. Mit anderen Worten: Es wird nach den Entstehungsbedingungen und -zusammenhängen von Literatur gefragt, d.h. "in einem wie strukturierten und organisierten 'kommunikativen Haushalt' einer Gesellschaft [...] es zur Entstehung und Überlieferung von Texten kommt", die als 'literarisch' einzustufen sind.
Der erste Band ("Schrift und Gedächtnis", 1983) stellte die Struktur und Genese von Texten unter den komplementären Bedingungen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar. Die in diesem Zusammenhang skizzierte Überlegung Konrad Ehlichs, Text als "wiederaufgenommene Mitteilung" im Rahmen einer "zerdehnten Situation" zu begreifen, führte zur Frage nach Strukturen der Tradition, die sich vor allem in den Institutionen der Text- und Sinnpflege, aber auch in den kultursoziologischen Kategorien von "Kanon und Zensur" (so der Titel des zweiten Bandes 1987) manifestierten. Der vierte Band der Reihe ("Text und Kommentar", 1995) griff die Frage nach den Möglichkeiten der Sicherstellung von Applikationen kulturell und kollektiv verbindlicher Texte über soziale und zeitliche Grenzen auf und führte mit der Kategorie des "Kommentars" einen im Rahmen institutionalisierter Lektüretraditionen verankerten Begriff ein, der von Anfang an im Schnittpunkt von Textdeutung und Textproduktion angesiedelt wurde.
Der hier anzuzeigende fünfte Band der Reihe mit seinen drei Teilbänden schließt unmittelbar an das dritte Projekt ("Weisheit", 1991) an, in dem Aspekte "höchstbewerteten Wissens" entfaltet wurden. Die projektbedingte Konzentration auf "Gründungsakte der Kultur" und "Ursprungsbedingungen von Literatur" führt nun kontrastiv zu der Frage nach dem "vorenthaltenen Wissen" innerhalb unterschiedlichster Kulturen und stößt folgerichtig auf das Geheimnis als wichtige soziale Funktion gesellschaftlicher Kommunikation und explizite Inszenierungsform literarischer und nichtliterarischer Texte: "Der kulturstiftende und Gesellschaft ermöglichende Akt schlechthin ist die Ausbildung einer Wissensform, die im Hinausdenken über ihre Grenzen zugleich Formen einer Respektierung des Unwißbaren oder Vorenthaltenen ausbildet und auf diese Weise in der Dimension des Wissens einen gemeinschaftlich bewohnbaren sozialen Raum konstituiert." Konkret geht es um Prozesse und Mechanismen der Ein- und Ausschließung, der Ver- und Entschlüsselung von Texten bzw. von in Texten niedergelegtem Wissen. Der Titel verweist auf eine dem Geheimnis inhärente Dichotomie: Der "Schleier" symbolisiert in einer Verknüpfung von Hermetik und allegorischer Transparenz die "Grenze bis", die äußerste und absolute Grenze des Wißbaren überhaupt, während sich die "Schwelle" auf limitische Ordnungsstrukturen, die "Grenze zwischen" verschiedenen Wissenspolen, bezieht.
Der erste Teilband (Geheimnis und Öffentlichkeit) behandelt "strategische Geheimnisse", die "durch bewußte Geheimhaltung und Verschlüsselung, zum Schutz gegen Verfolgung, vor vorzeitiger Entdeckung, aus Spiel und Geheimniskrämerei" entstehen. Das Interesse am Geheimnis als einer sozialen Funktion läßt dieses als Teil einer 'kommunikativen Ökonomie' begreifen, die durch Diskursproduktion und -zirkulation bestimmt ist. Die einzelnen interdisziplinär ausgerichteten Beiträge fokussieren auf die Inszenierung von Öffentlichkeit, die asymmetrische Verteilung von Wissen in unterschiedlichen sozialen Gruppen und eine Ästhetik des Geheimnisses zwischen Esoterik und Kryptographie. Die Signifikanz sozialer Grenzen oszilliert zwischen dem Geheimnis als secretum, als 'abgesondertes Wissen' und seinem Gegenbegriff der 'Öffentlichkeit'.
In Teilband zwei ("Geheimnis und Offenbarung") steht das Geheimnis als mysterium ("substantielles Geheimnis") und damit als das schlechthin Verborgene, Unsagbare und Unergründliche im Vordergrund, dem die 'Offenbarung' als "Entschleierung" komplementär zugeordnet wird. In der ungemein dichten Einleitung verweisen die Herausgeber völlig zurecht auf zwei gegensätzliche Modi von Offenbarung: eine Offenbarung im Modus des Geheimnisses und eine im Modus der Veröffentlichung, die in der Tradition der europäischen Aufklärung in der bekannten Formel natura et scriptura mit den jeweiligen Prototypen Ägypten und Israel kanonisiert wurden. Die einzelnen Beiträge des Bandes arbeiten diese "Begegnungsräume zwischen Gott und Mensch" und die ihnen zugrundeliegenden Kulturtechniken zwischen 'Schleier' und 'Schrift' an unterschiedlichen Fallbeispielen zu den Bereichen 'Imaginationen des Unergründlichen', 'Schwellenriten', 'Esoterik' und 'Schleiersymbolik' prägnant heraus.
Der eben erschienene dritte Teilband ("Geheimnis und Neugierde") schließlich beschäftigt sich mit dem "konstruktiven Geheimnis", wie es "durch den Blick der Neugierde" überhaupt erst geschaffen wird, diesen Blick zugleich aber auch "provoziert". Die wiederum interdisziplinär gehaltenen Beiträge widmen sich einer expliziten Wertung von Neugierde, den sogenannten "verratenen Geheimnissen", dem Oszillieren zwischen Geheimnisbewahrung und Geheimniszerstörung sowie einer Untersuchung 'geheimer Orte und Zeiten'. Exemplarische Metafiguren dieser Beziehung sind zum einen das 'verschleierte Bild zu Sais', das Jan Assmann zum Ausgangspunkt seiner in hohem Maße plausiblen Gegenüberstellung von griechischer als theoretischer Neugierde und ägyptischer als praktischer Neugierde macht; zum anderen analysiert Eveline Goodman-Thaus' interessante und kenntnisreiche Lektüre des kabbalistischen Buchs Sohar die Erotik in der Konstellation von Geheimnis und Neugierde.
"Schleier und Schwelle" zeigt eindrücklich, welch hoher Stellenwert dieser Reihe für kulturwissenschaftliche Fragestellungen zukommt und wie fruchtbar intertextuelle und -kulturelle Forschungsansätze auch und gerade für eine Literaturwissenschaft sein können, die sich auf der Suche nach ihren verlorenen Gegenständen befindet.
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