Vom Besonderen und Allgemeinen

Andreas Reckwitz zeichnet in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ ein krisenhaftes Bild der Moderne

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz zählt zu den sprachgewaltigsten Stimmen der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion. Zu seinen einschlägigen Studien Die Erfindung der Kreativität und Das Hybride Subjekt sowie grandiosen Einführungsbänden zum Subjekt und zu Perspektiven der Kultursoziologie liegt mit Die Gesellschaft der Singularitäten nun sein neustes Buch vor, das auch in der Öffentlichkeit auf große Resonanz stößt. Unterstützt von der Volkswagen Stiftung im Rahmen der Opus-Magnum-Förderung, ist hier wahrlich ein großes und beeindruckendes Werk entstanden. Beachtung hat das Buch nicht erst durch die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 erhalten. Bereits 2017 mit dem Bayrischen Buchpreis ausgezeichnet, führte das Buch zeitweise die Sachbuch-Bestsellerliste des SPIEGEL an. Öffentlichkeitswirksam ist die Analyse also definitiv.

Aber worum geht es genau? Allgemein befasst sich der Autor mit dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Statt der zuvor dominanten Logik der Anpassung an das Allgemeine entsteht in aktuellen Gesellschaftsformationen eine Norm des Besonderen. Das Besondere, all das, was aus der Ordnung heraustritt, wird zum Standard der Lebensführung erhoben. Singularität wird zum Lebensziel. Alles muss speziell sein, glänzen, aus der Menge herausstechen. Dabei rekonstruiert Reckwitz ebendieses Bedürfnis als eine Täuschung. Die vermeintliche Individualität ist nichts anderes als ein Mythos. Der mit dem Begriff der Singularisierung versehene gravierende Wandel der Gesellschaft geht mit zahlreichen Veränderungen der Lebenswelt einher – diese waren zwar zuvor bereits in der Kunst oder auch im Bereich von Sexualität und Partnerschaft vorhanden, werden aber nun mit anderer Qualität aufgerufen.

Die allgemeine Diffusion des Ideals der Besonderheit führt dazu, dass allgemeine Utopien auf die Ebene des Individuellen verschoben werden: Ich ermögliche mir und meiner Familie ein gutes Leben, ich steuere auf meinen eigenen Erfolg im Beruf zu. So werden die vormals auf anderer Ebene ausgetragenen Konflikte um ein gutes Leben oder auch gute Arbeitsbedingungen nur noch individuell geführt – Solidarität und Kooperation erscheinen unmöglich, wenn sie nicht selbst von der Norm des Besonderen eingeholt werden können. Dieses Vorgehen hat wiederum zur Folge, dass Handlungen nur noch selten auf die Zukunft ausgerichtet sind. Man könnte sagen – zumindest kam mir direkt die Idee –, dass mein nächster auf Instagram zelebrierter Urlaub auf Bali wichtiger ist als die Planung von weiteren Vorhaben, oder gar so ein veraltetet anmutendes Projekt wie „Altersvorsorge“. Die Zukunft gerät aus dem Blick und die Gegenwart schrumpft zum Moment.

Zusammengenommen zeitigen diese Entwicklungen nicht-intendierte Folgen. Diese beschreibt Reckwitz – ganz dem Zeitgeist der Soziologie verpflichtet – als Krisen. Eine Krise der Anerkennung, eine Krise der Selbstverwirklichung und eine Krise des Politischen, so seine Konklusion, seien die Ergebnisse der gesellschaftlichen Entwicklungen. Der allgegenwärtige Krisenbegriff wird bei Reckwitz aber genauer ausdifferenziert. Die Krise der Anerkennung meint auch eine Abwertung von Arbeitsweisen, die nicht der Idee des Besonderen entsprechen. Diese werden nicht mehr ernst genommen und auf diese Weise der Anerkennung beraubt. Im Prozess verhärten sich neue Grenzen zwischen Gruppen von Menschen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die an der kreativen – und doch gar nicht so kreativen – Industrie mitwirken. Sie produzieren ihre eigene Vorstellung des guten Lebens, die zur Norm erhoben wird. Auf der anderen Seite stehen weit abgeschlagen diejenigen, die nicht an dieser Form der Produktion mitwirken können. So wird das Besondere, was kreative und wissensproduzierende Berufe antreibt, zum Distinktionsmerkmal. Diejenigen, die nicht kreativ, besonders, innovativ sind, sondern „nur“ ihrer Arbeit nachgehen, verdienen in der Gesellschaft der Singularisierung keine Anerkennung.

Zugleich diagnostiziert Reckwitz eine Krise der Selbstverwirklichung – und knüpft hier sicherlich an die Erfahrungen vieler in kreativen Branchen tätigen Personen an. Wer sein Leben stets performativ als besonders, spannend, herausragend gestalten und hervorbringen soll, stößt schnell an die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Das Primat der Selbstverwirklichung durch Besonderheit verurteilt die Subjekte regelrecht zum Scheitern. Immer attraktiv und interessant zu sein, lässt alles, was vielleicht an der Langeweile positiv sein mag, verschwinden. Selbstverwirklichung wird somit zur stetigen Aufgabe, die zum Scheitern verurteilt ist, da die Ressourcen für den Umgang mit Enttäuschungen und dem Leiden an unglücklichen Erfahrungen nicht mehr vorhanden sind – sie wurden bereits zur Aufrechterhaltung des Besonderen verbraucht.

Die Krise des Politischen erscheint vor dem Hintergrund der Ausführungen von Reckwitz fast schon als notwendige Konsequenz: Wie sollen gemeinsame Projekte, die dann auch noch auf die Zukunft ausgerichtet sind, aufrechterhalten werden können? Die Antwort ist einfach: gar nicht! Der Staat ist laut Reckwitz nicht mehr die Einrichtung, welche gesamtgesellschaftliche Ziele aushandelt, definiert und umsetzt. Stattdessen ermögliche der Staat einen Rahmen, in dem Konsum stattfinden und damit auch Singularisierung hervorgebracht werden kann. Die schützende Funktion des Sozialstaates tritt dabei immer weiter zurück – denn das besondere Leben braucht die Unterstützung des Staates nicht mehr.

Alle Krisen laufen – so die These – auf eine Krise des Allgemeinen hinaus. Statt einer Bewältigung von Krisen steuert die Gesellschaft jedoch in eine Dauerkrise, die selbst wiederum aufgrund der neuen normativen Maßstäbe in Bewegung gehalten werden muss. Bewegung ist es auch, was das Buch von Reckwitz dann schließt. Die mit der Krise verbundenen Dynamiken halten die Krise selbst konstant. Ein Blick zurück ist nostalgisch, ein Blick nach vorn aufgrund der Krise nur schwer möglich – trotzdem hat Reckwitz versucht, diese Position einzunehmen. Und das, obwohl seine Betrachtung selbst Teil des Zusammenhangs ist, der im Buch geschildert wird.

Ich möchte mir nicht anmaßen, dieses Buch aus soziologischer Perspektive zu beurteilen. Dann müsste sicherlich darauf hingewiesen werden, dass zahlreiche historische Einzelphänomene nicht benannt werden und die Empirie wie immer mannigfaltiger ist, als es die Theorie zu fassen in der Lage ist. Auch die Reichweite der Gesellschaftsbeschreibung müsste angeführt und diskutiert werden, denn Reckwitz beschreibt eine spezifisch westliche Gesellschaftsform. Und zugegebenermaßen nimmt er – trotz sehr anschaulicher Beispiele – die klassische, distanzierte Position der soziologischen Disziplin ein. Die Frage, die sich anschließt, ist natürlich, wie mit der Krisendiagnose umzugehen ist. Dafür ist die Soziologie aber wohl nicht zuständig.

Dem kulturwissenschaftlich interessierten Publikum liefert Reckwitz jedenfalls eine in ihrer Präzision fast schon einschüchternde Gegenwartsanalyse, die in ihrer pointierten Zusammenfassung weitgehender ist, als beispielsweise Hartmut Rosas Beschleunigung oder auch Oliver Nachtweys Abstiegsgesellschaft. Reckwitz schafft es, eine Diagnose zu stellen, die wahrscheinlich auch in der Fachwissenschaft auf große Resonanz stoßen wird. Für alle anderen Leser und Leserinnen ist das Buch deshalb ein Gewinn, weil es ein entlarvendes Moment enthält. Sicherlich, soziologische Bücher sind keine Ratgeberliteratur. Aber trotzdem hilft Reckwitz dabei, die eigene Verwicklung in den kulturellen Produktionsapparat sichtbar zu machen, um dann möglicherweise Fluchtpläne zu schmieden.

Das komplexe Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird auf eine der vielen möglichen Arten ausgedeutet, mit beeindruckender sprachlicher Präzision, einem Duktus, der zum Weiterlesen einlädt und einem exzellenten Spannungsbogen. Das Buch verunsichert (hoffentlich) all diejenigen, die selbst in der Kreativindustrie tätig sind und die Krisen mit zu verantworten haben. Gerade deshalb ist es ein wichtiges Buch, dass irritiert und zur Vorsicht mahnt. Zugleich ist es aber auch leiser Aufruf zum Widerstand. Und der ist allemal angebracht.

Titelbild

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
486 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587065

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