Phantasie und Schreib-Arbeit
Lutz Seilers Heidelberger Poetik-Vorlesung
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWeniger bekannt als die Poetikdozentur an der Universität Frankfurt, aber keinesfalls weniger prominent besetzt sind die Poetik-Vorlesungen, die seit fast dreißig Jahren in Heidelberg stattfinden. Brigitte Kronauer, Louis Begley, Eckhard Henscheid, Wilhelm Genazino, Volker Braun, Martin Walser und viele andere waren seit 1993 dort zu Gast, und manches von dem, was sie den Studenten vermittelt haben, liegt auch in gedruckter Form vor: Louis Begleys Reflexionen zum Schreiben Zwischen Fakten und Fiktionen bei Suhrkamp oder Bernhard Schlinks Gedanken über das Schreiben bei Diogenes. Seit einigen Jahren präsentiert der Winter-Verlag in seiner Reihe „Heidelberger Poetikvorlesungen“ weitere Autor*innen; bisher erschienen sind Texte von Frank Witzel, Felicitas Hoppe (literaturkritik.de 12/2019), Maxim Biller, Ulf Stolterfoht, Wilhelm Genazino und Lutz Seiler; weitere sollen folgen.
In drei Vorlesungen gewährte Seiler Einblicke in die „Vorgeschichte“ seines Schreibens. Kenner schätzen ihn seit langem als sensiblen und intelligenten Lyriker; einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er mit den Romanen Kruso (2014, im selben Jahr mit dem Deutschen Buchpreis und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet) und Stern 111 (2020), für den er den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. In seinen Vorlesungen erfahren wir nun, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.
Detailreich und konkret, mitunter fast naiv, berichtet Seiler von der Kindheit in einer Region Ost-Thüringens, die vom Uranbergbau geprägt (und gezeichnet) war. Abraumhalden markierten den Horizont, die Radioaktivität bestimmte das Leben (und Sterben) der Bergleute und eine umfassende Müdigkeit den Alltag. Den Gefahren begegnete man mit makabrem Humor und einer Mischung aus Wissen und Ahnungslosigkeit. Die Region hatte eine Art von „Trance-Qualität“; „Wahrnehmungszustände der Kindheit“ waren „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere“. Es galt, „eine Sprache zu finden, die den diffusen Zuständen meiner Wahrnehmung gewachsen war“ – und die fand Seiler im Gedicht; in der Phantasiewelt verschwanden die Dinge hinter den Wörtern. Radioaktivität wurde gewissermaßen zum literarischen Botenstoff. Seiler mystifiziert die Umweltbelastung seiner Heimat aber nicht; er möchte nur sein „Schreiben begründen von einer Herkunft her […], eine Disposition zum Gedicht wurzelnd im Ort der Geburt […]“.
Sein Weg zum Autor verlief denn auch keineswegs wundersam. Er beendete eine Bauhandwerker-Ausbildung und brach eine germanistische Dissertation ab – die Literatur aber spielte bei allen Lebensstationen eine zentrale Rolle. „Ankerstellen“ („weniger im poetologischen Sinne, mehr als Erzählung vom Hören und Lesen“) des künftigen Autors waren Fontanes Ballade John Maynard (die für die Schule auswendig gelernt werden musste), Gedichte von Peter Huchel (deren „von den Zeitläuften abgekoppelte Lektüre“ in der Armeezeit das Warten bei absurden Manöverspielen erträglich machte), Pink Floyd (deren akribisch notierte Songtexte zum ersten Manuskript wurden), Georg Trakls Gedichte (deren nächtliche Lektüre eine Gegenwelt eröffnete zum „Pathos der Hermeneutik“ in germanistischen Seminaren) und schließlich Stefan Georges Gedichte, die dem Vierundzwanzigjährigen die „Abkehr von der Ödnis der Gegenwart“ ermöglichten.
Was wie die allmähliche Erweckung eines schlummernden Talents klingen mag, war immer verknüpft mit Arbeit: mit dem Auswendiglernen für den Deutschunterricht, mit dem Besuch des Zirkels schreibender Arbeiter, zu dem man vom Kulturoffizier der Nationalen Volksarmee delegiert wurde, mit der Transkription von Rundfunk-Kritiken zum Pink Floyd-Konzert, mit dem Widerstand gegen den „Schwung der Deutungen“ im Literaturseminar und – ganz banal, aber existenziell – mit der permanenten Leihfristverlängerung für die George-Gesamtausgabe in der Stadtbibliothek Halle.
Schweißtreibende Mühe beim Schreiben prägte noch den Villa Massimo-Aufenthalt des mittlerweile bekannten Autors, der am materialreich unterfütterten Projekt eines großen Romans zur Wende scheiterte und dieses Scheitern mit der Arbeit am Kruso-Manuskript überwand.
Seilers Erinnerungen präsentieren sich auf den ersten Blick wie private Anekdoten, aber sie formieren sich zu einer ganz eigenen Poetik, die auch da, wo sie elitär anmutet, in konkreter Erfahrung geerdet bleibt: Höhenflüge mit Bodenhaftung. Seiler weiß, dass „Gedichte schreiben: Eine komplizierte Art zu existieren“ ist, aber für ihn ist es „die einzig mögliche“. Sein „unstillbarer Schreibzwang“ erinnert an Franz Fühmann, der gerade hundert geworden wäre (vgl. literaturkritik.de 1/2022); Fühmann hatte 1972 in einem „Wort an künftige Kollegen“ gefordert: „Ein Buch, das man nicht schreiben muß, das soll man ungeschrieben lassen.“ An Fühmann erinnert auch Seilers Begeisterung für Georg Trakl oder die Bergwerks-Thematik in vielen seiner Gedichte und in Kruso. Dieser Roman ist durchzogen von literarischen Referenzen (auf Trakl, Fühmann, Uwe Johnson, Peter Weiss und andere mehr). Seilers Schreiben basiert auch auf disziplinierter Lesearbeit.
Der Widerspruch zwischen Lutz Seilers Herkunft und seiner Vorliebe für Stefan George mag verwundern, aber er wird schlüssig aufgelöst und eröffnet neue Perspektiven zum Verständnis seiner literarischen Texte, die changieren zwischen Konkretheit und Assoziation.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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