Einblicke in ein langes Forscherleben

In „Gratwanderung zwischen Facta und Ficta“ schildert Franz Karl Stanzel seinen persönlichen und wissenschaftlichen Werdegang

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Generationen von Studierenden der Literaturwissenschaft bekamen es früher oder später mit einem schmalen blauen Büchlein zu tun, das zuerst 1964 in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe erschienen war und bis 1993 zwölf Auflagen erlebte: Typische Formen des Romans von Franz Karl Stanzel. Wohl mehr noch mit diesem Buch als mit seiner groß angelegten Theorie des Erzählens (zuerst 1979, 8. Auflage 2008 als UTB) hat Stanzel Lehrerinnen und Lehrer des Fachs Deutsch und wohl auch der Fremdsprachen geprägt und ihnen Kategorien bereitgestellt, wenn sie in ihrem Unterricht Grundbegriffe der Erzähltextanalyse zu vermitteln versuchten.

Heute gibt es eine Tendenz zur Historisierung von Stanzels Ansatz, was sich etwa in folgender Aussage im Grundriss der Literaturwissenschaft von Stefan Neuhaus niederschlägt: „Zu ihrer Zeit bedeutend waren die Studien von Käte Hamburger, Eberhard Lämmert und Franz K. Stanzel […].“ Neuhaus weist aber darauf hin, dass Stanzels Kategorien der Erzähltextanalyse auch heute noch in manchen Einführungen in die Literaturwissenschaft benutzt bzw. referiert werden.

In seinem neuen Buch – der 98jährige bezeichnet es als sein „Opus Ultimum“ – gibt Stanzel nicht nur Einblicke in sein bewegtes Leben und seine Karriere als Anglist, sondern er begründet und verteidigt auch einige seiner theoretischen Begriffe und Modelle, für die er weiterhin Gültigkeit beansprucht. Sein Buch ist über weite Strecken auch ein Stanzel-Lesebuch, da in ihm eine Reihe unveränderter älterer Texte des Verfassers, vor allem Zeitschriftenbeiträge, versammelt sind. Eingestreut sind viele Fotos, teils farbig, aus dem Leben des Autors.

Stanzel rechnet sich zur Generation der „Davongekommenen“, der er, auf einige prominente Beispiele Bezug nehmend, einen eigenen Beitrag widmet. Es sind dies die in den 1920er Jahren Geborenen, die zum einen den Krieg überlebt hätten, zum anderen zu jung gewesen seien, um in Partei und Wehrmacht höhere Ränge bekleiden zu können und damit in die NS-Verbrechen „aktiv involviert“ zu werden. Er selbst überlebte als einer von wenigen 1942 die Torpedierung eines U-Bootes, auf dem er als junger Wachoffizier Dienst tat, und geriet darauf in eine vierjährige englische und kanadische Gefangenschaft.

Eine erste Entscheidungshilfe für seine spätere Studienwahl der Anglistik sieht der Autor rückblickend in einem Vortrag über den englischen Poeten Wordsworth, den er im Gefangenenlager gehört habe. Im Sommersemester 1947 schrieb er sich an der Grazer Universität zum Studium der englischen Philologie ein. Wegen Kohlemangels fand im Wintersemester 1946/47 noch kein Vorlesungsbetrieb statt, und auch zu Ostern mussten Studenten mit Kohle beladene Handkarren in der Universität abliefern. Unter anderem solche Details aus einem sehr langen, bewegten Leben machen das Buch angesichts heutzutage sorgenvoll geführter Energiedebatten zu einer durchaus aktuellen Lektüre.

Neben einer Tätigkeit als Wissenschaftliche Hilfskraft konnte Stanzel eine Dissertation verfassen und diese bereits 1950 vollenden. Anschließend erhielt er ein Fulbright-Stipendium für ein Studium in den USA, das er an der Harvard-Universität absolvierte. Dort erhielt er wesentliche Anregungen für die später von ihm entwickelte Erzähltheorie, vor allem durch die Lektüre der Theory of Literature von René Wellek, auf die er, aus heutiger Sicht eher ungewöhnlich, von Studenten aufmerksam gemacht worden sei. Bereits acht Jahre nach Beginn seines Studiums habilitierte sich Stanzel 1955 mit seiner Schrift Die typischen Erzählsituationen im Roman.

Es folgte eine rasante akademische Karriere, die Stanzel über die Stationen Göttingen und Erlangen zurück nach Graz führte, wo er bis zu seiner Emeritierung 1993 lehrte und als Dekan der literarischen und linguistischen Fakultät für Anglistik wirkte. Die materiellen und personellen Schwierigkeiten, mit denen er dabei zu kämpfen hatte, waren beträchtlich. Durch seine Schilderungen erhält man einen Einblick in die Mühen, aber auch Freuden des universitären Alltags jener Jahre, letztere bspw. repräsentiert durch „familiär-gesellige“ Jahresabschlussfeiern, die allerdings nach 1970 „ziemlich abrupt“ aufhörten. Die Auswirkungen des neuen Universitätsgesetzes, mit dem die drittelparitätisch besetzte Gremienuniversität eingeführt wurde, beurteilt Stanzel rückwirkend negativ, ebenso die Erlebnisse, die ihm die Studentenrevolte, etwa bei der Umfunktionierung von Vorlesungen in Diskussionsveranstaltungen, bescherte.

Überwiegend positiv und wissenschaftlich fruchtbar waren für ihn dagegen die Anglistentage, die sich nach ersten informellen Kollegengesprächen entwickelten und bald institutionalisiert wurden. Stanzel schildert einige dieser Treffen, die ihm entweder wegen besonderer Fachgespräche oder auch wegen der Umgebung, in der sie stattfanden, in Erinnerung blieben. Ein Erinnerungsfehler ist dem Autor nachzusehen, zumal er sich erinnernd erklärtermaßen auf einer Gratwanderung befindet, sei aber hier erwähnt: Die Dresdner Frauenkirche war 1996 noch längst nicht „wieder wie alt restauriert“, sondern der Wiederaufbau war erst 2005 abgeschlossen. Für am akademischen Leben vergangener Jahrzehnte Interessierte ist der Band jedenfalls eine Fundgrube.

Den zweiten Schwerpunkt legt Stanzel auf die Rekapitulation seiner Erzähltheorie, die er in den bereits erwähnten Publikationen – und einigen weiteren – entwickelte. Besonders viel liegt ihm an seinem „Typenkreis der Erzählsituationen“, den er wegen der triadischen Struktur und der Offenheit für Übergänge zwischen den drei ‚Erzählsituationen‘ (auktorial, personal, Ich-Erzählung) für dauerhaft tragfähig hält. Ob dies zutrifft, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Der Autor fühlt sich als „Triadist“ in einem Abwehrkampf gegen viele „Dyadisten“, zu denen er auch den bis heute viel rezipierten Gérard Genette rechnet. Er räumt aber ein, dass sein Typenkreis auch dyadische Relationen enthält.

Weitere Themen der Theoriekapitel sind: die erlebte Rede, Erzählerfiguren und Reflektorfiguren (in einem auf Englisch abgedruckten Beitrag), rezeptionsästhetische Überlegungen zu Komplementärgeschichten, die beim Lesen von Erzählungen vom Leser konstruiert werden, sowie das Verhältnis von Facta und Ficta beim autobiographischen Erzählen. In diesem letzten Punkt verbindet der Autor seine Lebensgeschichte mit der Erzähltheorie, indem er grundlegende Reflexionen über das Wesen autobiographischen Erzählens anstellt. Insbesondere richtet er sein Augenmerk auf den Fall Günter Grass, dessen Werk Beim Häuten der Zwiebel (2006) wegen des späten Eingeständnisses einer Zugehörigkeit des Nobelpreisträgers zur Waffen-SS zu aufgeregten Diskussionen führte.

Stanzels Überlegungen zu den fiktionalen Anteilen in Autobiographien sind zwar nicht neu, jedoch auch wegen der von ihm diskutierten Beispiele, die sich auf die Generation der „Davongekommenen“ beziehen, anregend zu lesen. Trotz oder vielleicht gerade wegen seines hohen Alters hat sich Stanzel seine Streitbarkeit erhalten. Dezidiert nimmt er Stellung gegen die ‚Totalanglisierung‘ der englischen Literaturwissenschaft und belegt mit Beispielen, wie begriffliche Feinheiten durch die Übersetzung ins Englische verloren gehen oder gar verfälscht werden können. Dabei beruft er sich auf den Aphorismus von Karl Kraus, dass die Sprache nicht die Magd, sondern die Mutter der Gedanken sei. Allerdings registriert Stanzel sehr wohl, dass er mit dieser Position womöglich auf verlorenem Posten steht, zumal, so ist zu ergänzen, Lehrende auch anderer – und nicht nur naturwissenschaftlicher – Fächer zunehmend ihre Vorliebe für das Englische entdecken. Sogar die Germanistik ist davon betroffen.

Die Exkurse über das Verhältnis von Facta und Ficta rundet Stanzel ab mit dem Wiederabdruck eines Essays mit dem Titel Nemesis auf hoher See, in dem er sich auf ungewöhnliche Weise mit dem Untergang von vier Schlachtschiffen (zwei deutschen und zwei englischen) im Zweiten Weltkrieg befasst. Indem er das (literarische, mythologische) Konzept der Nemesis auf diese Ereignisse anwendet, belegt er den Sinnüberschuss literarischer Erzählungen gegenüber geschichtswissenschaftlichen Darstellungen. So argumentierte schon Aristoteles in seiner Poetik, der Dichtung für „etwas Ernsthafteres und Philosophischeres als Geschichtsschreibung“ hielt.

Es handelt sich bei Stanzels „Opus Ultimum“ nicht um ein Buch aus einem Guss, sondern vielmehr um eine Fundgrube mit vielen wieder zugänglich gemachten Texten, mit Erzählungen, Anekdoten und Gedanken aus einem langen, ereignisreichen Gelehrtenleben. Dieser Mann muss keine Rücksichten mehr nehmen, auch nicht auf Empfindlichkeiten von Verfechtern der Gendersprache, denen er immer wieder schelmisch in die Parade fährt, indem er das generische Maskulinum verwendet und in Klammern „generisch“ dahinter setzt oder eine Doppelform („Kollegen und auch Kolleginnen“) mit einem (sic!) versieht. Es fehlt auch nicht an Selbstironie, etwa bei der Schilderung altersbedingter Defizite oder wenn ein Stanzel-Verriss aus einer englischen Zeitschrift spielerisch in die linksbündige Form eines „Found Poem“ gebracht wird. Unter anderem heißt es darin: „Good pedagogy but / Dull theory.“ Dem stellt er allerdings in derselben Form eine Huldigung gegenüber, die mit den Worten beginnt: „Franz Stanzel has unquestionably / Found the greatest resonance on an / International level“.

Titelbild

Franz K. Stanzel: Gratwanderung zwischen Facta und Ficta.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
276 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826074974

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