Von Rosen, Namen und dem ‚Mittelalter‘

Eine von Angela Oster und Jörg Schwarz herausgegebene Aufsatzsammlung zeigt Wege zu „Umberto Ecos Mittelalter“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während den meisten Menschen vermutlich der Begriff der Semiotik in etwa so fern liegt wie die Andromedagalaxie, dürfte vielen von ihnen der Name eines der arriviertesten Vertreter dieser Zunft hingegen sehr wohl bekannt sein: Umberto Eco. Dass dies, wie er in diversen Interviews mit augenzwinkerndem Bedauern zu Protokoll gab, nun eher nicht mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zu tun hatte, liegt in doppelter Hinsicht in der Natur der Sache. Zum einen gehören Menschen, die sich professionell auf dem Feld der Semiotik tummeln, eher selten zur auch in ‚Society-Formaten‘ präsenten Prominenz. Und zum anderen ist ein Semiotiker, der als Romancier mehr als erfolgreich ist, im allgemeinen Bewusstsein eben der Erfolgsautor und nicht der wegweisende Wissenschaftler. Ob oder inwieweit Umberto Eco tatsächlich unter den obwaltenden Komponenten seines Ruhmes gelitten hat, hätte er vermutlich zu Lebzeiten nie verraten – und post mortem ist diese Frage vollends obsolet. In jedem Fall sind es Autor und Werk wert, mit einer Aufsatzsammlung zu eben „Umberto Ecos Mittelalter“, herausgegeben von Angela Oster und Jörg Schwarz, befragt und gewürdigt zu werden.

Worin dieses „Mittelalter“ exakt besteht oder mehr noch, ob die diversen Beiträge tatsächlich „Ecos Mittelalter“ und nicht vielleicht eher die Mittelalterimaginationen der jeweiligen Verfasserin beziehungsweise des jeweiligen Verfassers entwickeln, ist dabei nicht immer zu klären. Zumindest über den vermutlich nachhaltigsten Romanerfolg Ecos, Der Name der Rose, wird ein breiter Zugang zum Mittelalter in authentischer wie fiktiver Hinsicht möglich. Dementsprechend sind mehrere Beiträge im vorliegenden Band diesem nachgerade archetypischen ‚Klosterkrimi‘ aus den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts gewidmet. Trotz dieser (er-)schlagenden Dominanz der Rose geht es, so die Information auf der Buchrückseite, „nicht nur um Ecos in den populären Wissenskulturen mit Abstand bekanntestes Buch, sondern um seinen Zugriff auf das Mittelalter als Ganzes, um seine lebenslange, einen Großteil seines Werkes bestimmende Hinwendung zu Themen und Problemen der mittelalterlichen Kultur und Geisteswelt“.

Dass in diesem Kontext eben nicht nur der Autor erfolgreicher Romane, sondern – insbesondere im Zusammenhang mit basalen Phänomenen und Komponenten – eben auch der Wissenschaftler befragt wird, sollte sich von selbst ergeben. Eigenartig scheint dabei, dass das Buch acht Jahre nach Ecos Tod erschien, eigentlich wäre eine Dezenniumspublikation naheliegender gewesen – Zahlenmystik wie etwa im Foucaultschen Pendel?

Vor der auf die Intention und die Beiträge des Buches hinführenden Einleitung weist bereits das Geleitwort Ruedi Imbachs den Weg, dem etwa zu entnehmen ist, dass zu unterscheiden sei zwischen einem „genuin wissenschaftlichen Imaginären und einem mediävistischen Imaginären, was bedingt, dass der/die ideale LeserIn von Ecos ‚Rosenroman‘“ eben nicht nur allgemein am Mittelalter interessiert, sondern auch wissenschaftlich damit befasst sein müsse. Und dies im wahrsten Sinne. Nicht nur, dass ein als Kapitale gehaltenes Binnen-I in Hinblick auf den aktuellen gendergerechten Sprachduktus hoffnungslos veraltet und womöglich dadurch schlimmer als ein generisches Maskulinum zu werten sein könnte – die Intention, wissenschaftliche Seriosität, um nicht zu sagen: Abgehobenheit zum Ausdruck zu bringen, findet sich auch in den Beiträgen wieder, und es drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, als wäre dies der Absicht entsprungen, sich schamhaft vom Erfolg des Romans zu distanzieren. Um auf das angeführte Beispiel – Imbach bezieht sich hier auf den Beitrag Susanne Friedes – einzugehen: Wer kann ernsthaft erwarten, dass ein Romanpublikum idealerweise lediglich aus wissenschaftlich Engagierten besteht? Wäre dann Gudrun Pausewangs Die Wolke idealerweise nur etwas für Kernphysikerinnen und Kernphysiker oder sollte seine Lektüre zumindest die Teilnahme an einem Physik-Leistungskurs voraussetzen?

Das mag überpointiert erscheinen, soll aber auf den einen oder anderen ‚Fallstrick‘ in den unterschiedlichen Beiträgen verweisen. Etwas weniger abgehoben geht es indes in der Einleitung zu, die konkret auf die Beiträge des vorliegenden Bandes verweist und zudem eine knapp und grundsätzlich gehaltene Paraphrase auf Ecos (wissenschaftliches) Leben und Werk bietet. Dass in diesem Zusammenhang dann auch explizit auf Ecos Plädoyer für einen „inzwischen oftmals als ‚altmodisch‘ angesehenen“ Bildungsbegriff verwiesen wird, ist aller Ehren wert, werden doch damit zumindest implizit die Defizite postmodernen Wissenserwerbs angesprochen. Dass dann im weiteren Kontext, bezogen auf das Zitat aus seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ („die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnis aus erster Hand“), Umberto Eco „typisch-janusköpfige“ Ironie attestiert wird, ist wiederum sicherlich zutreffend – aber ist Ironie nicht immer auf die eine oder andere Weise janusköpfig?

Insgesamt zehn Beiträge füllen den vorliegenden Band, die generell lesenswert sind, auch wenn sich mitunter der Eindruck von Selbstreferenzialität aufdrängt oder – anders ausgedrückt – durch beeindruckende Formulierungen substanzielle Kenntniserweiterung generiert wird, die es so dann doch nicht gibt. Wenn etwa die bereits angesprochene Susanne Friede („Spuren des Imaginären“) am Ende ihres Beitrags zu der Schlussfolgerung kommt, dass in den Mittelalter-Romanen Umberto Ecos „weniger von der Vertextung einer mittelalterlichen Realität als vielmehr von einer mediävistisch konnotierten Reflexion über mögliche mittelalterliche Grundsätze der Vertextung eines als Archiv zu erschließenden mittelalterlichen imaginaire“ die Rede sein könne, klingt das reichlich elitär, könnte sehr wohl zutreffen – aber welcher andere Weg als der des Indirekten sollte Nachgeborenen auch zugänglich sein?

Anja Grebe enthüllt in ihrem Beitrag „Monströse Geheimnisse“, indem sie den Komponenten „Bildwissen und Bildkritik in Der Name der Rose“ nachgeht und in diesem Zusammenhang Bezüge zu mittelalterlichen Darstellungen des Monströsen herstellt. Illustriert mit vier Schwarz-Weiß-Abbildungen werden hier kunsthistorische Realität und romanhafte Fiktionalität in den Blick genommen und die Bezüge zur mittelalterlichen Bilderwelt – mit einer Einschränkung, die vielleicht auch Umberto Eco goutiert hätte – hergestellt. Denn „auch wenn in Der Name der Rose die Referenzen auf Werke der bildenden Kunst […] in der Minderzahl sind, erweisen sich die Kunstwerke als ein Schlüssel zum im Roman verhandelten Topos von der ‚Lesbarkeit der Welt‘, der sich jedoch immer mehr in sein Gegenteil verkehrt“. Mit dieser Conclusio scheint die zuvor stringente Argumentation der Autorin aus der Bahn zu geraten. Dass der angedeutete Weg nicht ausreicht oder im Extremfall ungeeignet ist, ist eine Sache, aber führt der Rekurs auf diese mittelalterlichen Darstellungen tatsächlich dazu, dass diese Welt ‚unlesbar‘ wird?

In eine ganz andere Richtung bewegt sich Julia Ilgner, deren Imperativ „Only connect!“ sich auf „Mediävismus und Autointertextualität in Umberto Ecos journalistischem Kriminalroman Numero zero“ aus dem Jahre 2015 bezieht und dazu auffordert, Verbindungen zu ziehen, die sich mitunter allerdings weniger aus dem Romaninhalt selbst als aus der Person des Verfassers respektive dessen Interessen- und Forschungsschwerpunkten ableiten lassen. Das ist zwar einerseits stringent, allerdings eben so ‚wahr‘, dass die Gefahr genereller All- und damit Nicht-Bedeutung gegeben scheint. Dementsprechend muss (nach einem zunächst irritierenden Abschnitt, der mit „Abschied vom Mittelalter“ überschrieben ist) in der Wiederholung des Titels gewissermaßen das Fazit („Mittelalter und kein Ende?“) mit einem Imperativ, eben der Aufforderung „Only connect!“, enden.

Peter Nickl arbeitet sich im folgenden Beitrag an der ambivalenten Beziehung zwischen „Umberto Eco und Thomas von Aquin“ ab. Der Rückgriff auf die frühe wissenschaftliche Phase Ecos, in der dieser sich eben mit Thomas beschäftigt hatte, verspricht tatsächlichen Erkenntnisgewinn, bleibt aber im Halbgaren, weil der Autor sich nicht entscheiden kann, ob es sinnvoller gewesen wäre, wenn Eco einen vollständigen ‚Bruch‘ mit Thomas’ Werk vollzogen hätte, oder eben nicht. Er konstatiert dann, allerdings ohne eine zuvor angedeutete Wertung zu vollziehen, dass ein solcher nicht stattgefunden habe.

Der Beitrag von Mitherausgeberin Angela Oster „Ästhetische Theorie in Umberto Ecos Mittelalter und moderne Materialästhetik in Roman und Film von Il nome della rosa (Umberto Eco/Jean-Jacques Annaud)“ besticht bereits durch die Überschrift, die mit ‚sperrig‘ recht wohlwollend bezeichnet ist. Überdies, an sich durchaus positiv, sind in den Text siebzehn schwarz-weiße Abbildungen eingebettet, deren Qualität aber in einigen Fällen so schlecht ist, dass sich beim ersten Durchblättern der Eindruck aufdrängt, es seien zum Teil Abbildungen aus Fritz Langs Nibelungen beigefügt worden. Bei näherem Anschauen und mit Hilfe der Bildunterschriften allerdings wird klar, dass es sich tatsächlich um Standbilder aus der Verfilmung von Der Name der Rose von Annaud handelt. Und weiter? Die Autorin erkennt – sicherlich auch ästhetische – Verbindungen und in der Interpretationsgeschichte wohl gar Interdependenzen zwischen Buch und Film, kommt jedoch knappe vier Jahrzehnte später abschließend lediglich zu der Bewertung, beide seien „materialästhetische ‚Klassiker‘ jenseits von dualisierenden Diskursfeldern und einseitigen postmodernen Zuschreibungen“.

Wo dieser (Ab-)Schluss Leserinnen und Leser doch zumindest etwas ratlos zurücklässt, wird der folgende Beitrag, der wieder mit einem Imperativ – „Träumt vom Mittelalter!“ – überschrieben ist, insofern eindeutiger, als sein Verfasser Jan Keup „Semiotische Spiele mit einer fernen Epoche und ihre Relevanz für die deutsche Mittelalterforschung“ in den Fokus stellt. Die zuerst aufflackernde Mehrdeutigkeit im Titel – auf was bezieht sich „ihre Relevanz“? – ist vermutlich beabsichtigt, aber natürlich kann es nur um die Relevanz der semiotischen Spiele gehen, deren zumindest potenziell verstörende Wirkmächtigkeit gegenüber der ‚traditionellen Geschichtswissenschaft‘ gleich zu Beginn in einem Zitat des britischen Historikers Richard Evans aufgetan wird. In einer knappen, aber fundierten Gegenüberstellung von Ecos wissenschaftlichem wie belletristischem Werk werden Interdependenzen zwischen ‚Seriosität‘ und ‚Unterhaltung‘ nachgewiesen, die es so wohl eher selten, aber eben im weiteren Sinne doch bereits gegeben hat – denn, wenngleich unter ganz anderen Rahmenbedingungen, auch bei Felix Dahn sind sicherlich Wechselwirkungen zwischen seinen historisch-seriösen Werken und seinen Romanen zu erkennen.

Der Vergleich mag nicht zielgenau sein, zumal es im Fall Dahns keineswegs um die selbstgewollte wie fremdinterpretierte Brechung gegangen ist. Bei Umberto Eco ist das Ganze also definitiv komplexer, und auch die existentiell bedrohte ‚Zitadelle der Historiker‘ steht immer noch, auch wenn sich die Parameter verschoben haben. Und so kommt Jan Keupp trotz aller Notwendigkeit paradigmatischer Neuorientierungen nicht umhin zu mahnen, „darauf [zu] achten, in unserem konstruktivistischen Bemühen nicht dereinst vom Pendel Foucaults getroffen zu werden“.

Wo dort weitreichendere Perspektiven entworfen wurden, wirkt der knappe Text Burkhart Kroebers „Zur Übersetzung von Ecos Mittelalterromanen“ spielerisch und verweist mit sparsamer Strichführung auf die diversen Probleme beim Übersetzen in andere Sprachen. Zu bedauern ist hier, dass der Verfasser längere Zitate seiner (Rück-)Übersetzung von Ecos Baudolino ins staufische Mittelhochdeutsche vorenthält.

Wesentlich umfangreicher ist der Beitrag des Mitherausgebers Jörg Schwarz, den dieser auch unter den Titel des Bandes, Umberto Ecos Mittelalter, gestellt hat. Neben weiterreichenden Blicken auf das Schaffen Ecos wird auch hier neben dem eben angesprochenen Baudolino auch Der Name der Rose ins Zentrum der Argumentation gestellt. Und das, obwohl der Verfasser konstatiert, dass dieser Roman und selbst der nach seiner Vorlage gedrehte Film „unter Jüngeren kaum mehr bekannt“ sei. Schwarz postuliert in seinem Fazit („Umberto Eco und das Zerbrechen des mittelalterlichen Idylls“), dass „geisteswissenschaftliche Bilder von einem mittelalterlichen Idyll“ zerbrochen seien, denn „in der Epoche nach Eco an diese Bilder anzuknüpfen wird mit intellektueller Redlichkeit kaum möglich sein“.

Wo eben noch eine zutreffende, gleichwohl aber nicht unbedingt neue Welten eröffnende Perspektive den Beitrag beherrschte, weist Jörg Sternagel („Wege zum ‚Neuen Mittelalter‘ und der Trost der Philosophie“) in alternierende Dimensionen einer anhaltenden Kulturtradition, die sich bereits in der Antike findet. Referenzpunkt ist die Position des spätantiken Gelehrten und Politikers Boethius, der, zunächst am ostgotischen Hofe Theoderichs des Großen tätig, in Ungnade fiel und in Erwartung seines Hinrichtungstodes eben den Trost der Philosophie verfasste, auf den sich ein Teil des Aufsatztitels bezieht. Dieser lesenswerte Beitrag spannt einen weiter zurückreichenden Bogen, in dem das Mittelalter zwar eine nicht unwesentliche Rolle spielt, aber doch nur eine Station europäischer Geistesgeschichte darstellt. Die über die Zeiten bestehende Gültigkeit philosophischen Denkens – passiv wie aktiv – bietet hier das Inertialsystem, anhand dessen sich „Ecos Weg zu einem ‚Neuen Mittelalter‘ […] unter diesen Vorzeichen als ein ethischer beschreiten“ ließe, und das wohl in voller Ausschließlichkeit.

Nach diesem Entwurf eines epochenübergreifenden, quasi ‚allumfassenden‘ Denk-Systems führt Jaron Sternheim unter der Überschrift „Träume sind Schriften und viele Schriften sind nichts als Träume“ anhand des Traums Adsons von Melk wieder eher in die kleinräumige Struktur von Ecos Mittelalter, und dies in scharfsinniger, gewissermaßen scholastischer Art und Weise. Auf den im Roman Der Name der Rose beschriebenen Traum des William-Schülers Adson werden einerseits Aspekte des Romans verdichtet, andererseits aber auch –implizit – weitere Räume erschlossen. Das ist kurzweilig zu lesen und auch nicht uninteressant, hinterlässt jedoch ein merkwürdiges Gefühl, wenn als Abschluss konstatiert wird: „Und vielleicht ist auch alles ganz anders gewesen.“

Mag die Positionierung des letzten Beitrags auch zunächst überraschen, so sind er und seine Conclusio – wenn auch womöglich ungewollt – für Umberto Ecos Mittelalter sehr zutreffend. Der Eindruck einer Uneigentlichkeit in vielen der Beiträge scheint prägend, der vorliegende Band fasziniert und irritiert somit gleichermaßen, drängt sich doch immer wieder das Bild einer ‚selbstauferlegten Folgerichtigkeit‘ auf. Andererseits: Wo dies durchbrochen wird, tut sich in der Tat Neues auf, doch im Großen und Ganzen überwiegt der Eindruck, dies oder Ähnliches bereits schon einmal irgendwo gelesen zu haben. So ist Umberto Ecos Mittelalter, auch angesichts des für die Herstellung doch recht üppigen Verkaufspreises, zwar ein interessantes ‚Kann-Buch‘, aber wohl kaum ein unbedingtes ‚Muss-Buch‘.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Angela Oster / Jörg Schwarz (Hg.): Umberto Ecos Mittelalter.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
260 Seiten, 42,80 EUR.
ISBN-13: 9783826078231

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