Ein Opfer gibt schonungslos Auskunft

Daniel Arkadij Gerzenberg berichtet in „Wiedergutmachungsjude“ von sexuellem Missbrauch

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dichtungen enthüllen auch traurige Wahrheiten, sprachlos machende Geschichten, in denen die grausame Lebenswirklichkeit ebenso eingeschrieben ist wie das jahrelange Schweigen. Daniel Arkadij Gerzenbergs lyrisches Ich berichtet unverstellt von sexuellem Missbrauch, von dem „missbrauchten mann“, der die „wunden meiner seele“ erkunden und lyrisch geformt darstellen möchte. Der aus einer Familie in der zerfallenden Sowjetunion stammende Erzähler gehört einer Musikerfamilie an, die nach Westen reist, dort eine neue Heimat finden möchte. Doch während in Russland sich die „bewohner*innen der plattenbauten“ gefreut hatten, „wenn meine mutter klavierkonzerte einstudierte“, trommelt die deutsche Nachbarin „immer energischer“, sodass die Wohnstatt bald wechselt, von Hamburg nach Norderstedt – in ein Haus, auf Basis von Krediten finanziert.

Die „sowjetisch-autoritären erziehungsmethoden“ waren nach Deutschland mitgereist, der „nackte kinderarsch“ nicht selten versohlt, die Einübung in eine neue Sanftheit braucht sehr viel Zeit und gelangt nie zur Vollendung. Die Härte bleibt. Zugleich kursiert die Nachricht, dass ein Verwandter in Russland inhaftiert wurde. Die Mutter fürchtet, es könne dem Jungen einst genauso ergehen wie dem, der „im knast“ sitzen musste. Fast nebenbei wird mitgeteilt, wie das feindlich gesinnte Umfeld in Moskau sich verhielt:

jüdinnen und juden der sowjetunion
waren bürger*innen zweiter klasse

faced with antisemitismus
und daraus entstehenden nachteilen
auf dem arbeitsmarkt

Die kommunistische Gleichheitslehre galt nicht für alle, Stigmatisierungen und Diffamierungen blieben nicht aus. Die musikalische Begabung liegt in der Familie. Die Mutter hatte zwar nicht einen Russen geheiratet, wie eine Jurorin ihr geraten hatte, „um ihren jüdischen namen zu tilgen“. Trotzdem qualifizierte sie sich für den „CONCORSO PIANISTICO FERRUCCIO BUSONI“, reiste in den späten 1980er Jahren ins Ausland, gab Konzerte, trug Verantwortung. Der Jahre später geborene Junge, das lyrische Ich, galt bald als „klaviertalent“ und wurde von den Eltern beständig kritisiert. Die Litanei der Sünden wurde vorgetragen, ernste Maßnahmen folgten:

um bei wettbewerbsvorbereitungen
eine drucksituation zu simulieren
stellte meine mutter eine kamera auf

ich weinte

wenn du nicht spielst
schauen wir uns die aufnahme an
dann siehst du wie du heulst

Training, musikalischer Drill und Missbrauch liegen auch hier nicht weit auseinander. Das „prinzip üben“ war „wichtiger als mein wille“. Eine „kultur des schweigens“ herrschte in der Familie, nach sowjetischem Muster. Auf dem Gymnasium in Norderstedt fühlt sich der Erzähler wie „der einzige jude“, das Thema im Unterricht lautete: Holocaust, und in der Fünfminutenpause wurden Hitler-Witze erzählt. Im Treppenhaus folgten Beschimpfungen, Sprüche – aus dem Antisemitismus der pubertierenden Jugendlichen wurden schäbige, dumme Kalauer. Das Thema Holocaust kehrte immer wieder. Der Kinderarzt, ein „amateurmusiker“, „fetischisierte die jüdischkeit meiner mutter / ich introjizierte seinen blick / begann zu denken“:

meine mutter ist eine berühmte
jüdische pianistin in
deutschland

wie gut

jetzt ist alles
wieder gut alles
wieder jut

wie jud

Und darum hieß es für ihn: „call me WIEDERGUTMACHUNGSJUDE“, und der Kinderarzt, einem Adelsgeschlecht entstammend, zog auf der Wickelliege des kleinen Bruders „mein höschen runter“ – „er ist arzt“, sagten die Eltern. Jahre danach absolviert der Erzähler, er sei Daniel genannt, sein Schulpraktikum in der Kinderarztpraxis. Er wendet sich vertrauensvoll an ihn, berichtet über enttäuschte Liebe und zerbrochene erste Beziehungen. Sie besuchen Konzerte. Der Kinderarzt tritt auf wie ein gütiger Freund der Familie. Eines Tages bietet er an, sein jugendlicher Gefährte könne auch über Nacht bleiben. Wieder und wieder sagt er dies, bis die Zusage folgt – und ein lapidarer Satz, der alles sagt: „mein kinderarzt fasste mich an“. Der siebzehnjährige Daniel, das lyrische Ich, ist entsetzt, verstört, bleibt in Kontakt, will „die beziehung retten“, will vielleicht auch „eine ganz normale freundschaft“, um sich zu beweisen: „ich wurde nicht missbraucht“. Auf dem Weg der Dichtung versucht sich der Missbrauchte vom Täter zu lösen:

von dreizehn bis dreiundzwanzig
in einer päderastischen beziehung

alter spielt keine rolle
sagte mein kinderarzt

bis mich das alter verließ

Das Opfer zeigt den Täter an, die posttraumatische Belastungsstörung bleibt. Das lyrische Ich gibt
Auskunft:

ich lernte über meinen
missbrauch zu sprechen

das ist auch mir passiert
sagten freund*innen

wir brachen das
schweigen

Nie wieder, so sagt ein jüdisches Sprichwort, werde alles wieder gut, und so ist es auch hier. Der Erzähler berichtet verstörende, furchtbare Erfahrungen. Es gelingt ihm, über das zu sprechen, was ihn unsagbar belastet und weiterhin belasten wird. Der Missbrauch lässt sich nicht ungeschehen machen. Wer dieses Buch liest, weiß das unmittelbar. Die existenzielle Schärfe wird so bedrückend gegenwärtig, dass die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs und die Abgründe der menschlichen Psyche zutage treten. Das Opfer berichtet, und der schmale Band endet mit einer trotzigen, vielleicht bedingt hoffnungsvollen Notiz: „liebes tagebuch – heute hatte ich zutrauen in die welt – sie geht nicht unter – dein daniel“.

Daniel Arkadij Gerzenberg hat ein außergewöhnliches Buch verfasst, das nicht nach den gängigen Mustern der Literaturkritik beurteilt oder gewürdigt werden kann. Es ist – außergewöhnlich. Diese Missbrauchsgeschichte, ist keine Geschichte, sondern das literarisch-lyrisch geformte Zeugnis einer grausamen Realität. Eine Wiedergutmachung für die Betroffenen ist ausgeschlossen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Daniel Arkadij Gerzenberg: Wiedergutmachungsjude.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023.
129 Seiten, 12 EUR.
ISBN-13: 9783751870108

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