Kritik, Krieg, Literatur und Kunst

Zur Januar-Ausgabe 2017 mit Erinnerungen an Vergangenes und Blicken auf Kommendes

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Ein Experiment

Das neue Jahr beginnt bei literaturkritik.de mit einem Experiment. Die monatlichen Ausgaben dieses „Rezensionsforums für Literatur und für Kulturwissenschaften“ werden so wie bisher von der Redaktion vorbereitet und veröffentlicht, aber ergänzt: durch ein „Offenes Forum“. In ihm können Online-Abonnenten, zu denen auch unsere regelmäßigen Mitarbeiter gehören, jeder Zeit und sofort Rezensionen ohne Absprache mit der Redaktion publizieren. Erste Beispiele stehen, nach Erscheinungsdatum geordnet, auf einer gesonderten Seite. Angezeigt werden die Rezensionen ansonsten auf unseren „Buch-Info“-Seiten (Beispiel Sandra Weihs: Das grenzenlose Und), die sich über unsere Buch-Suche finden lassen. Diese Seiten informieren auch über Rezensionen in etlichen anderen journalistischen und wissenschaftlichen Medien.

Dass ein Rezensionsforum monatlich im Internet und etwas später auch gedruckt erscheint, hat sich schon bald nach der Gründung von literaturkritik.de vor 18 Jahren als nachteilig und dem damals noch relativ neuen technischen Medium des Internets als nicht ganz angemessen erwiesen. Die Veröffentlichung der neu eingegangenen und redigierten Beiträge dauerte oft länger, als es der Redaktion, den oft zu Recht ungeduldigen Mitarbeitern und vielleicht auch unseren Lesern lieb war. Ein 2009 verfasster Rückblick auf 10 Jahre literaturkritik.de weist ausführlicher darauf hin. Wir haben daher schon früh zu einer Lösung gegriffen, die die Vorzüge der langsameren alten Medien und des neuen Mediums miteinander zu verbinden versucht. Die Beiträge unserer Mitarbeiter erscheinen meist schon vor der Ausgabe, die sie dann erst in thematische Zusammenhänge rückt, was uns bei der Ausgabenplanung weiterhin wichtig ist. Sie werden zunächst auf der Startseite und dauerhafter auf der Seite „Aktuelle Rezensionen“ angezeigt, über unsere Buch-Suche gefunden, wenn es sich um Rezensionen handelt, oder von Online-Abonnenten mit differenzierteren Möglichkeiten über die Erweiterte Suche.

Inzwischen hat sich allerdings die Zahl der monatlich erscheinenden Artikel so erhöht, dass sich andere (scheinbare?) Nachteile alter, periodisch erscheinender Medien immer deutlicher bemerkbar machen: Die auch in gedruckter Form erscheinenden Ausgaben stoßen an Grenzen eines vertretbaren Umfangs. 1999 umfassten sie meist deutlich unter 200 Seiten, 2009 durchschnittlich etwa 300 Seiten, im vorigen Jahr 400 Seiten. Die Oktober-Ausgabe 2016 war 506 Seiten stark. Das überfordert nicht nur die Leser, sondern nicht zuletzt auch die Arbeitskapazität der Redaktionszentrale in Marburg, obwohl Teile der Redaktionsarbeit inzwischen von kooperierenden Redaktionen mit spezifischen Akzentsetzungen übernommen wurden: seit 2011 von der Mittelalter-Redaktion (ebenfalls in Marburg), 2013 der Komparatistik-Redaktion in Mainz und 2014 der Redaktion Gegenwartskulturen in Duisburg-Essen. Im Februar 2014 haben wir im Rückblick auf 15 Jahre literaturkritik.de darüber berichtet. Praxisbezogene Lehrveranstaltungen zum Literatur- und Kulturjournalismus an allen drei Universitäten, die Studierende zu ersten Publikationserfahrungen anleiten, haben zur Erhöhung der Zahl von Artikeln beigetragen. All diese Aktivitäten bereichern die Zeitschrift und erweitern ihren Horizont, müssen aber koordiniert und technisch betreut werden.

Ein redaktionsunabhängiges, „offenes Forum“ für Online-Abonnenten und Mitarbeiter ermöglicht es in dieser Situation, unser bisheriges Profil beizubehalten, aber es zugleich mit flexibleren und offeneren Möglichkeiten zu ergänzen und damit unterschiedlichen Leser-Interessen zu entsprechen. Während manche das begrenzte, von der Redaktion und ihren Mitarbeitern als besonders beachtenswert eingeschätzte und thematisch geordnete Angebot an Informationen schätzen, möchten andere in einem möglichst umfangreichen und vielfältigen Informationsangebot das finden, wonach sie nach eigenen Auswahlkriterien suchen, und sich vielleicht auch eigenständig daran mit Beiträgen beteiligen.

Ganz „offen“ ist dieses „offene Forum“ allerdings nicht. Die aktive Beteiligung ist auf jene beschränkt, die als Mitarbeiter oder Abonnenten mit dem Profil und den Ansprüchen von literaturkritik.de vertraut sind. Ihre Beiträge erscheinen unter dem realen Namen der Beteiligten. Fälle des Missbrauchs der neuen Möglichkeit und von Veröffentlichungen, die der Redaktion nicht akzeptabel erscheinen, lassen sich von der Redaktion verhindern.

Das neue, zusätzliche Forum ist für uns zunächst ein Experiment, das mit Hilfe der Anregungen unserer Abonnenten, Mitarbeiter und aller Leser weiterentwickelt werden kann. Wir freuen uns auf ihre Beteiligung und über Kommentare auf unserer Leserbrief-Seite oder per E-Mail an redaktion@literaturkritik.de.

Die Themenschwerpunkte der Ausgabe

Die Kontinuität unserer bisherigen Redaktionsarbeit trotz solcher Neuerungen bezeugt in der Januar-Ausgabe auch die Auswahl der Themenschwerpunkte. Beide begleiten uns schon seit vielen Jahren. Der erste Schwerpunkt „Literaturkritik und Medienpraxis“ betrifft unmittelbar unsere eigene Arbeit und zugleich die sie von Beginn an begleitenden Reflexionen über Literaturkritik generell (vgl. u.a. literaturkritik.de 5/2004). Literaturkritik ist nicht nur permanenter Gegenstand öffentlicher Debatten (vgl. u.a. 9/2000, 2/2015), seit es sie gibt, sondern inzwischen auch zu einem etablierten Forschungsfeld der Literaturwissenschaft geworden (vgl. 6/2010, 12/2010 und das 2001 initiierte Projekt Literaturkritik in Deutschland). Ein neues Beispiel dafür in dieser Ausgabe liefert der Bericht über die jüngste statistische Auswertung der Daten, die das Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) über deutschsprachige Printmedien der Literaturkritik gesammelt hat. Die empirisch fundierte Untersuchung widerspricht dem häufig geäußerten Eindruck von einer „Krise“ und einem „Niedergang der Literaturkritik im deutschsprachigen Raum“.

Ihre Ergebnisse ließen sich im Blick auf Literaturkritik in Online-Medien sicher noch erhärten (vgl. den Beitrag dazu in literaturkritik.de 12/2010). Das Gewicht einzelner Rezensionen wie der gesamten Literaturkritik ist durch das Internet erheblich gewachsen. Und zwar nicht nur, weil die an ihr Interessierten Artikel auch aus jenen Rezensionsorganen lesen, deren gedruckte Ausgaben sie längst nicht alle wahrnehmen konnten, sondern auch deshalb, weil Rezensionen zusammen mit der Tages- oder Wochenzeitung nicht mehr nach kurzer Zeit verschwinden, sondern dauerhaft und leicht zugänglich bleiben. Auch zu jedem älteren Buch kann man nun die unterschiedlichsten Besprechungen finden, und zwar jeder Leser die seinen Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechenden. Ihre dreihundert Jahre alte Funktion, Orientierungshilfe angesichts einer unüberschaubar gewordenen Zahl von Neuerscheinungen zu geben, hat Literaturkritik beibehalten. Doch darüber hinaus ist aus ihr ein allgemein zugängliches Archiv von Informationen und Meinungen über neue und alte Bücher geworden.

In einem anderen Beitrag dieser Ausgabe geht es um Geld, um die oft prekäre finanzielle Situation von freien Mitarbeitern im Hörfunk und in anderen Medien, auch im Bereich der Literaturkritik. Das tangiert ein Problem, mit dem sich literaturkritik.de in der Rückschau von 2009 auch im Blick auf die Mitarbeiter in unserer Zeitschrift ausführlicher auseinandergesetzt hat. Was dort über die Auszahlungen der VG Wort für Artikel, die bei uns erschienen sind, ausgeführt ist, hat durch die jüngsten Debatten um die Beteiligung von Verlagen und Autoren an den Vergütungen der VG Wort eine neue Aktualität erlangt. Unsere Mitarbeiter erhalten für ihre Beiträge in literaturkritk.de keine Honorare. Da geht es ihnen wie Autoren für wissenschaftliche Zeitschriften. Ein Honorar erhalten diese in der Regel ebenfalls nicht. Und sie verpflichten sich oft sogar, dem Verlag die ausschließlichen Nutzungsrechte zu übertragen (wir begnügen uns mit den „einfachen“) oder müssen ihm sogar eine Publikationsgebühr zahlen (vgl. den Beitrag in IUWIS dazu). „Über das Elend der Autorenhonorare für wissenschaftliche Texte“ klagt ein Beitrag in der Oktober-Ausgabe 2011 unserer Zeitschrift. Das Elend der wissenschaftlichen Autoren selbst hält sich aber deshalb in Grenzen, weil sie von ihren Publikationen nicht leben, sondern sich auf bezahlten Stellen an der Universität mit ihnen „nur“ profilieren müssen, als Autoren also auf symbolisches Kapital angewiesen sind und nicht auf Geld. Die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von literaturkritik.de sind an einer Universität tätig. Trotzdem ist es uns nach wie vor etwas peinlich, dass sie für ihre Beiträge keine Honorare erhalten. Und noch peinlicher ist es uns jetzt, wenn wir sie sogar bitten, auf zusätzliche Rückvergütungen früherer Beiträge durch die VG Wort zu verzichten (siehe dazu die genaueren Informationen auf einer gesonderten Seite). Nach dem umstrittenen Urteil des Bundesgerichtshofs im Mai 2016, dass Verlage ihren Anteil an den VG-Wort-Auszahlungen der Jahre 2012 bis 2015 zugunsten der Autoren zurückzahlen und künftig nicht mehr erhalten sollen, hat unser Verlag im November etliche Tausend Euro an die VG Wort überweisen müssen. Das treibt ihn zwar nicht gleich in die Insolvenz, engt aber, wenn es dabei bleibt, die Möglichkeiten zur Erhaltung und Verbesserung unseres bisherigen Profils erheblich ein.

Der zweite Themenschwerpunkt dieser Ausgabe zur Zeit des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren mit Beiträgen über Gottfried Benn, den Dadaismus, die Ästhetik der Gewalt in Kriegsbildern, den Pazifismus Bertha von Suttners, der mit ihr kurz vor Kriegsausbruch starb, schreibende Frauen im Krieg oder die „Feldliteratur“ für damalige Leser an der Front weitet ebenfalls ein Interessenfeld aus, das in literaturkritik.de mehrfach ausführlicher behandelt wurde, im Juli und August 2014, Anfang 2015, zuletzt in der Februar-Ausgabe des vorigen Jahres und auch davor bereits etliche Male (2/2014, 8/2004). Im August 2014 ist zusätzlich eine Sonderausgabe mit Dokumenten zu Literatur, Kunst und Wissenschaft im Ersten Weltkrieg ins Netz gestellt worden, die wir ständig erweitern. Zu Beginn des Jahres 2017 seien daraus zwei Veröffentlichungen aus dem Jahr 1917 hervorgehoben, zwei Dokumente einer sich damals in der neutralen Schweiz verstärkenden pazifistischen Bewegung: Klabunds Bußpredigt und Ludwig Rubiners Europäische Gesellschaft. Der Dichter Klabund skizzierte hier in einem engagierten Appell den Stimmungs- und Bewusstseinswandel seit Beginn des Krieges im August 1914 in knappester Form so: „Schwört ab den Taumel 1914! Die Resignation 1915! Die Skepsis 1916! Bekennt euch straff zu 1917!“ Und 1917 hieß für ihn: „Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der ganzen Welt tut not.“ Und Ludwig Rubiner beschwor zusammen mit einer europäischen Friedensgemeinschaft ein „Weltbürgertum“:

Die vergangenen Jahrhunderte sahen drei Epochen, in denen man versuchte, die Grenzen der Völker geistig zum Verschwinden zu bringen:

Das Weltbürgertum, den Kosmopolitismus, den Internationalismus.

Die Forderung der neuen Zeit heißt: Erdballgesinnung! Es handelt sich um nichts anderes, als daß im Moment des Kriegsendes die Übervölkischen, die Panhumanisten, die Menschgesinnten auf der Erde zusammenstehen. […]

Wer ist unser nächster Freund? Der wahrhaft Geistige. Der Mensch, welcher ohne Veranlassung durch natürliche Familieninteressen, Geburtsbande, Geschäftsangelegenheiten: nur durch seine Überzeugung, durch seinen Entschluß und seine Entscheidung die Menschen der andern Länder für seine Brüder hält.

Mit ihm im Bunde, mit dem Reinen, werden wir die Gesinnung des neuen Zeitalters nach dem Kriege heraufführen.

Hundert Jahre später besteht zu derart hoffnungsvollen Aussichten auf 2017 wenig Anlass. Das nächste Ereignis, das der Welt am 20. Januar bevorsteht, ist der Machtwechsel in den USA. Mit einem Artikel über Donald Trump eröffnen wir im Anschluss an die Themenschwerpunkte die Rubrik „Geschichte und Politik“. Trump wurde in derselben November-Woche 2016 zum Präsidenten gewählt, in der Leonard Cohen gestorben ist, dem in dieser Ausgabe nach dem Nachruf im November noch einmal drei Beiträge gewidmet sind. Konstantin Wecker kommentierte die zeitliche Koinzidenz auf Facebook mit sarkastischer Ironie: „Liebe Freunde, Leonard Cohen ist tot und Donald Trump ist Präsident der USA. Umgekehrt wäre es mir lieber gewesen.“ Ein Artikel in The Guardian titelte: „Trump’s world is too dark – even for Leonard Cohen“.