Euer Wahnsinn gebiert unseren Wahnsinn
Sayaka Muratas subversive Groteske „Das Seidenraupenzimmer“
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Seidenraupenzimmer von Sayaka Murata führt die japanische Tradition literarisierter kindlicher Totalverweigerung fort, die sich am Ende als heftiger Gewaltausbruch gegen eine die Menschen aggressiv vereinnahmende Gesellschaft richtet. Der Text handelt von der Rückeroberung des durch das Kollektiv missbrauchten Kinderkörpers. Seine Befreiung stellt sich als beispiellos radikales Unterfangen dar, in dessen Verlauf alle gültigen Normen gebrochen werden – bis hin zum Kannibalismus. Während der japanische Originaltitel „Erdlinge“ (2018; Chikyû seijin) schon andeutet, dass hier jemand eine Außenperspektive auf den Planeten Erde und seine Bewohner anwendet, verweist Das Seidenraupenzimmer auf einen Ort der Transformation. Tatsächlich beschreibt der Roman eine Umwandlung, nämlich jene hilfloser, ausgelieferter Kinder in mächtige Wesen, die über den Irdischen stehen und eigene Vorstellungen verwirklichen.
Der Planet Pohapipinpopopia
Muratas Szenario besteht aus zwei männlichen Protagonisten, Yu und Tomoobi, sowie der Ich-Erzählerin Natsuki, die mit ihrer gemeinen, aber das liebe Mädchen spielenden Schwester Kise in einer Familie des unteren Mittelstands in der Suburbia aufwächst. Immer wieder wird den für das Rollentheater in der Gesellschaft Ungeeigneten ihre angebliche Minderwertigkeit vor Augen geführt: „Schon als kleines Kind war ich ungeschickt und hässlich gewesen. Aus Sicht der Leute in dieser Stadt, also der Fabrik, war ich eine überflüssige Existenz.“ Sogar als junge Erwachsene wird sie von den Familienmitgliedern überwacht, da es ihr nie gegeben war, den Regeln und Erwartungen einer Gesellschaft zu entsprechen, deren fließbandähnliche Maschinerie schon der kleinen Natsuki höchst dubios erscheint: Gehorsam, Konsum, Geschlechtsverkehr, Vermehrung – ein fragwürdiges, sinnloses Gefüge.
Dem Druck versucht das Kind durch die Konstruktion einer Gegenwelt zu entfliehen; ein Schutzzauber macht sie zu einem „Magical Girl“, das zusammen mit seinem kleinen Freund Pyut dem „Syndikat des Bösen“ Widerstand leistet. In ihrer Phantasie stammt Pyut vom Planeten Pohapipinpopopia. Er wurde von der „Zauberpolizei seines Sterns mit dem Auftrag, die Menschen zu retten“, zur Erde geschickt. Zugleich räumt die Protagonistin ein, ihr Plüschgefährte in Gestalt einer weißen Maus stamme aus dem Supermarkt vor dem Bahnhof, wo sie ihn „am Rande eines Stands mit Stofftieren“ entdeckt habe. Aus diesem Kontrast zwischen Anspruch und Realität gewinnt der Text eine ironische, manchmal lustige Note, obwohl die Erfahrungen, die das Mädchen im Modus der realitätsverleugnenden Distanz schildert – darunter eine sehr demütigende erzwungene Interaktion mit dem Nachhilfelehrer – keineswegs komisch sind, sondern auf eine tief verwurzelte Misogynie und Brutalität ihres Umfelds schließen lassen.
Drückdich.com
Einen Verbündeten findet Natsuki in ihrem Cousin Yu, den sie jedes Jahr im Sommer treffen kann, wenn sich alle Verwandten zum Totengedenkfest in der dörflichen Heimat einfinden. Als es im frühen Stadium der Pubertät zum Austausch von Intimitäten zwischen Yu und ihr kommt, steigert sich die erweiterte Familie in einen Rausch der Entrüstung, in dessen Gefolge die jungen Sünder weitere Demütigungen und langjährige Sicherheitsmaßnahmen hinnehmen müssen. Die beiden sehen sich daraufhin nicht wieder, bis die erwachsene Protagonistin mit Ehemann Tomoobi das Haus ihrer Großeltern aufsucht, in dem mittlerweile Yu wohnt. Das Ehepaar, das sehr zum Missfallen der Verwandten noch keine Kinder produziert hat, erklärt Yu seine besondere Situation: Sie lebten nur formal als Paar, damit sie der Kontrolle durch ihre jeweiligen Familien entfliehen könnten. Kontakt hätten sie über das einschlägige Internetforum drückdich.com geknüpft: „Leute, die sich unauffällig vor einer Ehe oder einem Selbstmord, Schulden und allen möglichen anderen Dingen drücken wollten, fanden hier Rat und Hilfe.“
Mann mit Rettichblättern: Das letzte Tabu
Vor allem Tomoobi gefällt die dörfliche Umgebung. Man tauscht sich aus und ist sich einig in der Einstellung zur „Fabrik“. Die Dreierkonstellation ermöglicht es den Freunden zum ersten Mal, sich frei zu fühlen, zeitweise sogar glücklich, was viel ist für die früh Traumatisierten. Als das Dorf durch heftigen Schneefall temporär von der Außenwelt abgetrennt wird, beschließen die bekennenden Nonkonformisten, ihr Utopia als „Außerirdische“ zu verwirklichen, bevor die „Menschen“ sie wieder dem verhassten Reproduktionskollektiv zuführen würden. Das letzte Stadium der Transformation beginnt.
In ihrer Wahlheimat verfallen Natsuki, Yu und Tomoobi in einen Zustand pathologischer Regression, mutieren sprichwörtlich zu nackten Existenzen im Raupenzustand. Überleben in einer ihnen gegenüber feindlich gestimmten Menschengesellschaft war stets ihr Ziel. Nun wollen sie eine neue Kultur gründen. Im Schlussteil entwickelt sich Muratas Text zu einem veritablen J-Horror-Drama. Zwei Vertreter der „Menschenfabrik“ schleichen sich mit Mordabsichten ein, um Rache an Natsuki zu üben, die als Jugendliche schuld am Tod ihres Sohnes war. Zu einer Rache kommt es nicht, das ältere Paar wird seinerseits getötet und, da die Lebensmittel knapp sind, ohne Reue verspeist: „Wir bereiteten den Mann auf drei Arten zu: Misosuppe mit Mann, Mann scharf angebraten mit Rettichblättern und Mann süß-salzig mit Zucker in Sojasauce geschmort.“
Murata erhöht die Dosis
Durch den ultimativen Tabubruch wird die endgültige symbolische Befreiung von der Zugehörigkeit zur Spezies des homo sapiens erreicht. Als Wesen jenseits des Humanen ziehen sie es auch in Erwägung, sich gegenseitig aufzuessen. Das Bestreben, alles Menschliche abzulegen, bedeutet „Heilung“. Natsuki fühlt sich endlich wieder ganz. In den Augen der Verwandten und der Rettungskräfte, die schließlich doch bis zum Haus mit dem Seidenraupenzimmer vordringen, müssen die Wahlbürger von Pohapipinpopopia allerdings deformiert und angsteinflößend erscheinen: „Der Erdling wich sichtlich erschüttert zurück.“
Muratas Entwurf einer radikalisierten Kommune spitzt auf makabre Art und Weise das Streben nach alternativen Lebensweisen zu. Spöttisch zeigt die Autorin auf, dass es keine gesunde Existenz in einer kranken Gesellschaft geben kann. Man kann dieser nur durch den Tod bzw. durch letale Lösungen wie dem klimaverträglichen gegenseitigen Verspeisen entkommen. Das aus der pathologisierenden Erfahrung gesellschaftlicher Gewalt entstandene Modell eines transhumanen Daseins dürfte auf manche Leser verstörend wirken. Es bedeutet aber nur die konsequente Steigerung des Schmerzpotentials, das bereits in Muratas Erzählung von der Angestellten im Convenience Store (deutsch: Die Ladenhüterin; japanischer Originaltitel: Konbini ningen) angelegt war.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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