Wenn Deutsche über Auschwitz reden

Ruth Klügers wieder aufgelegte Autobiografie „weiter leben“ schärft den kritischen Blick auf die moderne Genozidforschung und die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Liebe Leserin, Bücher wie dieses hier werden in Rezensionen oft ‚erschütternd‘ genannt. Der Ausdruck bietet, ja er biedert sich an. Ein Rezensent, der so über meine Erinnerungen schreibt, hat nicht bis hierher gelesen.“

Dieser für den Humor der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger typische Satz steht auf Seite 199 ihrer Autobiografie „weiter leben. Eine Jugend“ von 1992, die jetzt im Wallstein Verlag mit einem MP3-Hörbuch, gelesen von der Autorin, neu aufgelegt wurde. Klüger weiß, wovon sie spricht. Männliche Rezipienten nimmt sie, wie man sieht, gar nicht erst an. Interessierten sich die doch ohnehin nur für Memoiren anderer Männer, wie sie lakonisch bemerkt. Auch beschreibt die Autorin, wie ignorant, verlogen oder auch aggressiv ihre Zeitgenossen auf die Tatsache reagierten, dass sie als junge Jüdin nach Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt (Groß-Rosen) deportiert wurde, mit geradezu beißendem Sarkasmus.

Egal, ob es junge Zivildienstleistende sind, die eine Zeit lang in der Nachkriegs-Gedenkstätte Auschwitz Zäune anstrichen, ohne genau begriffen zu haben, dass dort mit den Juden etwas anderes als mit den inhaftierten Polen geschah; egal, ob es eine in den USA lebende Deutsche („soll sie hier Gisela heißen“) ist, die meint, Klüger darüber belehren zu müssen, was für ein vergleichsweise moderates Lager Theresienstadt doch gewesen sei – oder ob es gleich Göttinger Doktoranden und Habilitanden sind, die der Überlebenden mit selbstgerechten Bemerkungen über hasserfüllte israelische Auschwitz-Überlebende zusetzen: alle hören sie der Zeitzeugin überhaupt nicht zu. Stattdessen reden sie über den Bombenkrieg oder andere deutsche „Schicksale“, deren gebetsmühlenhafte Beschwörung verrät, dass ihnen nicht im Geringsten klar ist, was in den Vernichtungslagern und -Gettos verbrochen wurde – und schon gar nicht, was es bedeutet, der Shoah entkommen zu sein und danach weiter zu leben.

Allein schon aufgrund der zeittypischen Stimmen, die Klüger hier aus Erinnerungen an eigene Erfahrungen mit solchen Leuten kompiliert und zitiert hat, um ihnen nicht selten wütend, oft aber auch mit einem ironischen Achselzucken auf dem Papier zu antworten, sollte man dieses Buch (wieder) lesen: Wie da die Deutschen zum Beispiel in einem ‚gedankenlos‘ dahergesagten Satz zu bemitleidenswerten Opfern werden, als Gisela der „Freundin“ ins Gesicht sagt, deren Mutter sei es ‚doch noch gut ergangen‘. Wohl gemerkt jener Frau, die mit ihrer Tochter Ruth nur aufgrund eines glücklichen Zufalls aus dem – vor allem auch durch Claude Lanzmanns Film „Shoah“ bekannt gewordenen – Auschwitz-“Familienlager“ II B II herauskam und nach dem Krieg endlich in die USA auswandern konnte. Immerhin habe Klügers Mutter dort sogar noch einmal heiraten können und so die Hungersnöte im Nachkriegsdeutschland nicht mehr miterleben müssen, meint Gisela.

Wir wissen, dass solche dreisten Verdrehungen immer noch – oder mehr denn je – Alltag sind. Aber Klügers Botschaft an ihre Rezensenten, die zumindest bis Seite 199 gekommen sind, gibt auch demjenigen zu denken, der ihre Biografie aufmerksam zuende gelesen hat und nun vor der Aufgabe steht, etwas darüber zu schreiben. Weiß man doch nach dieser Lektüre umso mehr, wie schwierig es ist, die richtigen Worte dafür zu finden. Man kann im Grunde nur scheitern an diesem Vorhaben.

Gut möglich, dass auch ich in einem Text über die Shoah schon einmal das wohlfeile Adjektiv „erschütternd“ benutzt habe. Oder andere Worte, die, wenn sie ein nachgeborener Deutscher in diesem historischen Zusammenhang wählt, einfach anbiedernd, pathetisch, kitschig oder auch phrasenhaft klingen müssen. Vor Auschwitz erstirbt die Sprache – vor allem aber diejenige der Täter. Trotzdem kann man versuchen, sich das stets neu klarzumachen und aus Büchern wie dem Ruth Klügers zu lernen.

Jean Améry, Imre Kertézs, Primo Levi, Edgar Hilsenrath, aber auch Klügers Philologie-Kollegin Irene Eber, die ungefähr im gleichen Alter war (Jahrgang 1930, Ruth Klüger wurde 1931 in Wien geboren): Sie alle und viele andere, die als Überlebende der nationalsozialistischen Judenvernichtung ihre Erinnerungen aufgeschrieben oder literarisch verarbeitet haben, verließen die Lager nach ihrer Rettung nie mehr ganz. Auch Klügers Text gibt sich offen als Unterhaltung mit „Gespenstern“ zu erkennen, die die Autorin weiter verfolgt und niemals losgelassen haben.

Ihr Buch versucht bewusst zu machen, dass auch die spät etablierten Bezeichnungen „Holocaust“ und „Shoah“ nur Worte sind, die nicht bezeichnen können, was vor 1945 in Europa geschah. Besonders an Klügers Autobiografie ist jedoch die Angriffslustigkeit, der Trotz und das gleichzeitige hohe Maß an Selbstkritik, mit der die belesene Autorin diese Inkommensurabilität des von ihr Erlebten zu beschreiben versucht. Sie betont die Schwierigkeit, keine ’schöne‘ escape story mit nettem Happy End verfassen zu wollen und zu dürfen. Wie entkommt man aber einem solchen Verhängnis, wenn man nachzuerzählen versucht, wie man ‚davongekommen‘ ist?

Zum Beispiel, indem man auch die familiären Probleme und die psychischen Spätfolgen des Überlebens mit thematisiert, wie es Klüger ausführlich versucht. Klügers Autobiografie reicht dabei bis in die Schreibgegenwart in Göttingen hinein, zu Beginn der 1990er-Jahre. Die Literaturwissenschaftlerin bezieht sich außerdem auf historiografisches Wissen, auf andere Shoah-Erinnerungen, sie zieht alle nur erdenklichen Register der Problematisierung ihres prekären Projekts der erneuten Selbstkonfrontation mit (halb) verdrängten Traumata.

Dabei schreckt sie nicht einmal vor Vergleichen zurück, wie sie auch die neuere Genozidforschung immer häufiger benutzt. Zu letzterem Phänomen sei hier zunächst nur ein prominentes Beispiel angeführt und in einer längeren Parenthese erläutert: Der Berliner Antisemitismusforscher und NS-Historiograf Wolfgang Benz spricht in seiner „Wiener Vorlesung“ vom 30. Mai 2007, die jetzt in einem Bändchen des Picus Verlags veröffentlicht wurde, über „Völkermorde im 20. Jahrhundert“. Darin heißt es: „Der Völkermord an den Juden beherrscht als die zentrale Katastrophe des 20. Jahrhunderts weltweit den politischen Erinnerungsdiskurs, ungeachtet anderer Genozide, die erst allmählich zum Gegenstand vergleichender Betrachtung werden. Die Vergleichbarkeit der Völkermorde nach ideologischen Kriterien und phänomenologischen Kategorien ist umstritten, nicht zuletzt aus Gründen einer politischen Ethik, deren Angelpunkte Schuldbewusstsein und daraus resultierende Empathie gegenüber den Opfern sind. Für die politische Kultur in Deutschland und Österreich bedeutet die Erinnerung an die Einzigartigkeit des Judenmords ein konstitutives Element. Das kann freilich (wenn man die einzigartige Methode und die singuläre Organisation dieses Genozids im Blick behält) keine generelle Einschränkung des Blicks auf den Völkermord an den Juden bedeuten.“

Benz gehört zu den ausgewiesenen Kennern der Materie und steht nun wirklich außer Verdacht, die Shoah durch unangemessene Vergleiche mit anderen Genoziden relativieren zu wollen – und genau diese ethische Skepsis gegenüber seinem Ansatz benennt er hier ja auch. Und doch macht einem gerade die Lektüre von Klügers Erinnerungen von Neuem bewusst, wie unangenehm einige Formulierungen seiner Vorlesung für die Ohren einer Auschwitz-Überlebenden möglicherweise dennoch klingen könnten.

War die Shoah zum Beispiel eine „Katastrophe“, wie Benz zu Beginn schreibt? Wohl kaum: Damit bezeichnete man im antiken Drama die entscheidende Wende als Lösung eines Konflikts, der zum Untergang des Helden führt: „Das Geschehen wird dem freien Willen der Personen entzogen und als unausweichliche Konsequenz früherer Verfehlungen oder göttlicher Ratschlüsse erkennbar“, erläutert das „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ diesen dramatischen Augenblick. Ein solcher „Konflikt“ wurde in Auschwitz wohl kaum „gelöst“, und frühere „Verfehlungen“ haben sich die dort ermordeten Juden schon gar nicht zu Schulden kommen lassen. Benz wird das nicht bewusst gewesen sein – er benutzt mit dem Wort „Katastrophe“ schlicht eine allgemein gängige Bezeichnung, die in unserem alltäglichen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit der „Shoah“ zur unreflektierten Selbstverständlichkeit geworden ist. Genauso wie das problematische Wort „Holocaust“, das die Juden zu religiösen „Brandopfern“ abstempelt – als sei ihre Vernichtung einem göttlichen Ratschluss gefolgt.

Doch stimmt es denn, wenn Benz weiter bemerkt, für die politische Kultur in Deutschland und Österreich stelle die „Einzigartigkeit des Judenmords“ ein „konstitutives Element“ dar? Man sollte es zumindest hoffen. Allerdings kommen einem auch daran neuerliche Zweifel, wenn man bei Klüger von den Abwehrreaktionen intellektueller Menschen gerade aus diesen Ländern liest, die der Autorin von Angesicht zu Angesicht begegneten. Und wenn man nur einen Moment an die Viktimisierung der Deutschen denkt, die uns heute in den Medien täglich im Guido-Knopp-Modus eingehämmert wird, dann weiß man, dass Benz‘ Feststellung so eindeutig wohl doch nicht haltbar ist.

Wie sehr das, was Klüger in ihrer Autobiografie als deutsche Erfindung der „Vergangenheitsbewältigung“ verspottet, mittlerweile gar als gescheitert betrachtet werden könnte, fragt sich der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann in seinem Buch zum TV-Skandal um die Fernsehmoderatorin Eva Herman: „Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit“. Dass der Sachverständige in der „Bild“-Zeitung klarstellte, was an Hermans Stammtisch-Populismus über die von Hitler ‚immerhin ja auch‘ gebauten Autobahnen und andere ‚gute Seiten‘ des „Dritten Reiches“ falsch sei, brachte ihm säckeweise antisemitische Post und anonyme Anrufe mit Todesdrohungen ein, die er in seinem Buch analysiert.

Problematisch kann aber wie gesagt nicht nur das sein, was die antisemitische „schweigende Mehrheit“, die Wippermann in Deutschland ausgemacht hat, in Leserbriefen äußert. Auch mit wissenschaftlichen Vergleichen historischer Ereignisse können Relativierungen deutscher Schuld nahegelegt werden. Gerade Historiker wie Benz sind dazu aufgerufen, dies wieder und wieder klarzustellen und in ihren Studien genau zu differenzieren. In seiner zitierten Vorlesung vergleicht er unter anderem die Genozide an den Herero (durch die deutsche Kolonialmacht im heutigen Namibia), an den Armeniern (durch die Türken im Jahr 1915) und an der Zivilbevölkerung in Kambodscha (durch die Roten Khmer) mit der Shoah – und dies aus teils triftigen definitorischen Gründen.

Darüber hinaus kommt er auch noch auf einen „Völkermord auf dem Balkan“ zu sprechen, der durch einen besonders martialischen Bericht über eine grausame Massakrierung von 21 kroatischen Polizisten durch serbische Freischärler angedeutet wird. Wenn besonders schauerliche Anekdoten wie diese erzählt werden, horcht man unweigerlich auf und ist entsetzt. Man erinnert sich aber auch an die lügenhaften Begründungen des späteren Kosovo-Kriegs durch den damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), in denen es unter anderem hieß, die Serben würde ihre Opfer in „KZs“ treiben und menschliche Föten grillen.

Deshalb würde man an der Stelle von Benz doch gerne noch etwas mehr darüber erfahren, was die von ihm nacherzählten Gräuel auf dem Balkan aus dem Jahr 1992 tatsächlich mit der Shoah vergleichbar machen soll – beziehungsweise welche Morde hier genau als „Genozid“ definierbar seien. Gewiss: Der Internationale Gerichtshof (IGH) hatte das Massaker von Srebrenica 2007 als Genozid eingestuft. Aber auch diese Entscheidung kann man hinterfragen. Vor allem aber: Ist Benz‘ eher vage formulierte Assoziierung dieser Ereignisse mit der Dynamik der nationalsozialistischen Novemberpogrome von 1938 wirklich passend? Zumindest begibt sich der rennommierte Forscher hier in die Gefahr, den Verdacht zu erregen, Geschichtspolitik im Sinne des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer (Grüne) zu betreiben, der den ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945, der 1999 völkerrechtswidrig auf die militärischen Eskalationen im (nach 1989) zerschlagenen Vielvölkerstaat Jugoslawien und den Bosnienkrieg von 1992-1995 folgte, explizit als Kampf gegen ein zweites „Auschwitz“ rechtfertigte. Doch ist dies nun das, was Benz in seiner Vorlesung an dieser Stelle sagen wollte? Wohl kaum.

Man sieht, wie schwierig es ist, mit dem – historiografisch sicher legitimen – Mittel eines Vergleichs unterschiedlicher Genozide wirklich das zu erreichen, was man damit bezweckt. Selbst jemand wie Benz bewegt sich hier auf unsicherem Terrain – zumindest, wenn er gezwungen ist, sein Thema im Rahmen einer Vorlesung verknappt darzustellen.

Um so verblüffter ist man, wenn man nun auch bei Klüger liest, wie die Auschwitz-Überlebende das „ängstliche Abgrenzen“ gegen Genozid-Vergleiche in ihren Erinnerungen plötzlich selbst in Frage stellt: „Im Grunde wissen wir alle, Juden wie Christen: Teile dessen, was in den KZs geschah, wiederholt sich vielerorts, heute und gestern, und die KZs waren selbst Nachahmungen (freilich einmalige Nachahmungen) von Vorgestrigem.“ Danach schlägt sie auch schon einen Bogen zum japanischen Gedenken an den Atombombenabwurf auf Hiroshima, dem die Opfer „ebenso hilflos ausgesetzt“ seien wie sie selbst. Allerdings fügt Klüger wenig später hinzu: „Die Rolle, die so ein KZ-Aufenthalt im Leben spielt, lässt sich von keiner wackeligen psychologischen Regel ableiten, sondern ist anders für jeden, hängt ab von dem, was nachher kam, und auch davon, wie es […] im Lager war. Für jeden war es einmalig.“

Man ist erstaunt, mit welcher vermeintlichen Abgeklärtheit Klüger solche unwägbaren Überlegungen anstellt und es trotzdem schafft, eben nicht in jene banalisierende Rede abzudriften, die ihre Erinnerungen an kaum Erzählbares in gefährlichem Maße ‚konsumierbar‘ machen könnte – gerade auch für deutsche Leserinnen, und vielleicht sogar auch ein paar Leser. „Ihr müsst euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut“, warnt die Autorin. Klüger weist anbiederndes Mitgefühl schroff von sich, und sie provoziert: „Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung“, fordert sie ihr Publikum offen auf. Ihr Buch ist nicht versöhnlich. Es ist ein Angriff. Und genau deshalb sollte es durchgelesen werden. Diese Aufmerksamkeit hat es verdient.

Titelbild

Wolfgang Wippermann: Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit.
Rotbuch Verlag, Berlin 2008.
128 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783867890328

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Wolfgang Benz: Völkermorde im 20. Jahrhundert.
Picus Verlag, Wien 2008.
60 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-13: 9783854525370

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Titelbild

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend.
Mit CD im MP3-Format.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
286 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835302983

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