Sex im Angebot

Sexarbeit und Prostitution, nicht nur literarisch betrachtet

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hey big spender
Spend a little time with me
Dorothy Fields

Lust gibt es nicht geschenkt,
auch wenn wir das gerne glauben wollen.
Nora Bossong

1.

Wer von Sexarbeit spricht, meint für gewöhnlich etwas anderes als der, der von Prostitution redet, obschon letzterer der juristisch korrekte Begriff ist – schließlich haben wir in Deutschland ein „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“, kurz „Prostitutionsgesetz“ genannt. Worin besteht der Unterschied? Nun, in dem einen Fall bietet eine Person sexuelle Dienste mit und durch ihren Körper freiwillig an, in der Regel aus Erwerbsgründen. Dies zu tun, ist allein die Entscheidung dieser Person und ist auf der Basis einer mündlichen Vereinbarung geregelt inklusive Zahlungsverpflichtung des Kunden für die empfangene Leistung. Das ist bei uns so geregelt, seit das Berliner Verwaltungsgericht im Dezember 2000 das anrüchige Gewerbe vom Vorwurf der Sittenwidrigkeit befreite.

Sexarbeit kann, Selbstaussagen zufolge, auch als ein Akt der Selbstverwirklichung gesehen werden, ganz abgesehen davon, dass eine Sexarbeiterin auch Berufsethos kennt, womit ihr körperlicher und mentaler Einsatz zugleich als Ausdruck ihrer Professionalität zu verstehen sei.Im O-Ton kann das dann so klingen: „Sex habe ich schon immer geliebt, und dafür noch bezahlt zu werden, war wie ein Bonus für mich.“ Aber man könne die Arbeit auch hinschludern, meint Emma Becker nach zwei Jahren Bordell-Erfahrung, doch sei das ein Zeichen fehlender Professionalität. Was sich in einem kritischen Selbstgespräch schließlich so anhört: „Was meinst du, wo du bist?“, fragt sich die Sexarbeiterin an ihrem Arbeitsplatz und angesichts des Versagens, einem Kunden zur Ejakulation zu verhelfen. „Deine Arbeit ist eine Kunst!“ Nicht der Sex ist die Kunst, sondern ihn gewissermaßen zu performen, als sei Sexarbeit eine Sparte der darstellenden Kunst, eine Performance. Ich komme darauf zurück.

Ganz anders bei dem älteren Begriff, mit dem manche die Freiwilligkeit bezweifeln. Die Rede ist von Zwang und von Ausbeutung. Es fallen dann Begriffe wie Menschenhandel, Zwangsprostitution, Freiheitsberaubung und dergleichen mehr. Auch das ist unbestreitbar eine Realität. Hier bietet eine Person sexuelle Dienste an, weil andere sie zwingen, ihren Körper gewinnbringend für jene zu „verkaufen“. Die Anführungszeichen besagen, der Körper bleibt Eigentum der Person, jedoch ist ihr das Verfügungsrecht darüber gewaltsam entzogen worden. Auch in diesem Fall kann es ursprünglich Erwerbsgründe geben, aber sie sind mehr oder weniger stark an Ausbeutung geknüpft und drücken ein Abhängigkeitsverhältnis aus mit allen negativen Auswirkungen zwischen Scham und menschlicher Entwürdigung. Kurz und gut: Sexarbeit ist Arbeit und Prostitution ist Arbeit als Ausbeutung im heute bevorzugten Sprachgebrauch, der aber nichts mit dem juristischen zu tun hat.

Wann weiß der Kunde, ob ihm freiwillig oder erzwungen Sex zum Kauf angeboten wird? Und wie ist das mit der Moral? Legen wir sie nicht mit unserer Kleidung ab? Sind Begehren und Lust nicht ohnehin moralfreie Zonen, weil sie nur ein bedenkenloses Ziel haben, nämlich Befriedigung? Und kann man Lust tatsächlich verkaufen und kaufen? Nach welchen Kriterien wird Sex taxiert? Wer notiert den Kurs? Regelt das die Marktlage und ist demnach eine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage? Nicht zu vergessen ist die Qualitätsfrage: Was ist guter Sex? Wer kauft überhaupt Sex? Männer auf jeden Fall und Frauen wohl auch, was uns vor vierzig Jahren der Schauspieler Richard Gere in dem Film Ein Mann für gewisse Stunden verriet. Ja, natürlich gibt es auch männliche Sexarbeiter. Und wie ist das mit den Sexkäufern – ist das nur ein bestimmter Typ von Mann, der Sex käuflich erwirbt, weil sich in seinem Verhalten angeblich ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität ausdrückt? Das wollen die Verbotsbefürworter herausgefunden haben – mit welchem Erkenntnis-Interesse wohl?

Und wie ist das mit der sogenannten Promiskuität? Sollten wir nicht alle unserer Leitkultur zufolge monogam sein, glücklich verheiratet, treusorgend und ausgestattet mit traulichem Familiensinn? Bekanntlich – und das nur nebenbei bemerkt – hat die allmächtige Heteronorm unter ihrem Schirm ein Eckchen frei geräumt für Lesben und Schwule, um auch ihnen das eheliche Glück der Zweisamkeit, die lizensierte und privilegierte Paarbildung zu gewähren. Warum also bleibt Sex im Angebot? Was läuft schief mit der Monogamie? Wie kommt Nora Bossong in Rotlicht zu der Erkenntnis: „Die Hure ist Wahrerin der bürgerlichen Familie, sie ist das Unsichtbare, jene Lust, die nicht gebeichtet werden muss noch sich selbst beichten will, wie es die Lust der Geliebten irgendwann fordert.“? Geht es beim Verkauf von Sex am Ende auch noch um eine Art Sozialhygiene, um etwas Therapeutisches mit sozialpsychologischer Ausrichtung? Ist käuflicher Sex also systemrelevant, weil systemstabilisierend? Es sieht ganz danach aus.

Fragen über Fragen. Wenn Sex lediglich eine Form von Arbeit bedeutet, welches arbeitsrechtliche Modell liegt ihm zugrunde? Arbeitsverhältnisse sind Rechtsverhältnisse. Jedenfalls hält der Staat, unabhängig von moralischen Erwägungen, die Hand auf und kassiert Einkommensteuer. Ja, eine Hure betreibt ein Gewerbe, angeblich das älteste der Welt. Der vorliegende Essay wird noch weitere Fragen aufwerfen. Wo er Antworten schuldig bleibt, mag die Zumutung, die Fragen überhaupt ins Spiel gebracht zu haben, hoffentlich als Denkanstoß willkommen sein.

Da es hier auch um Literatur geht, sei schon mal eine kleine Liste der auftretenden Autor*innen vorab geliefert: Alfred Jarry trifft sich mit David Foster Wallace, Émile Zola steht einsam und verdächtig romantisch in Nanas Boudoir, während Emma Becker und Camila Sosa Villada herzergreifend aus der Praxis sexueller Euphorien plaudern und Betten und Autositze abwechselnd als eine besondere Art von Schlachtfeldern schildern, beziehungsweise ihnen die Aura einer psychoanalytischen Couch zuschreiben, und Nora Bossong erklärt uns die Farbe Rot und weiß über das so beleuchtete Milieu alles recht genau. Das ist eine überschaubare und bunte literarische Versammlung von unbestreitbarem Gewicht, die mir animierende und durchaus lustvolle Ideen zu diesem Essay lieferte.

2.

Doch bleiben wir zunächst bei der Unterscheidung von Sexarbeit und Prostitution. Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp hatte in einem mit Sexarbeit und Prostitution sind nicht dasselbe überschriebenen Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit Erhellendes zum Thema beigetragen. Beides existiert, Sexarbeit und Prostitution, und es sei keine prinzipielle Frage, von diesem oder jenem zu sprechen. Die Frage sei allein, so Schrupp, womit man es in einer bestimmten Situation zu tun habe.

Das Wort ‚Sexarbeit‘ zieht eine Parallele zu anderen Berufen: Auch da ist nicht jeder Aspekt der Arbeit völlig frei gewählt […]. Wer von ‚Sexarbeit‘ spricht will sagen: Was hier geschieht, ist normal und nicht moralisch schlechter als anderes, was Menschen tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

So kann es sein, und es gibt Selbstauskünfte von Sexarbeiterinnen, die gerade von einem starken Selbstwertgefühl zeugen. Oder ist das nur Romantisierung?

Das ist die eine Seite, die andere weiß von einem System, das „Sex mit Frauen […] als Ware vermarktet, und zwar auf eine Weise, die nicht nur der Würde der betroffenen Frauen zuwiderläuft, sondern der Würde von Frauen generell“. In dem einen wie in dem anderen Fall befinden wir uns jedoch in ein und derselben Gesellschaft und diese ist, daran führt kein Erkenntnisweg vorbei, patriarchalisch organisiert und als diese letztlich sexistisch oder doch zumindest ausgesprochen anfällig dafür.

Noch nicht beantwortet ist, wie wir damit umgehen, denn eine Subversion dieses Systems scheint möglich zu sein. „Keine Frau lebt in einer sexismusfreien Kultur“, um noch einmal Schrupp zu zitieren, „wir alle arrangieren uns mehr oder weniger. Und zur weiblichen Freiheit gehört auch die Möglichkeit, aus sexistischen Verhältnissen persönlichen Gewinn zu ziehen.“ Es geht um die Freiheit und die freie Entscheidung. Genau das lesen wir bei Bossong als Resümee:

Freiheit ist das Recht darauf, man selbst sein zu dürfen, ohne einen anderen in seiner Integrität zu verletzen und seinen Wert herunterzuhandeln. Was unser Wert ist, was wir überhaupt als diesen anerkennen können, das hängt aber immer von dem ab, was andere dafür in die Waagschale werfen.

Und wenn es eben das Honorar für den dargebotenen Sex ist. Bossong idealisiert keineswegs, denn dafür ist sie eine zu genaue Kundschafterin im Rotlicht-Milieu gewesen. Sie hat im wahrsten Sinne hautnah das Elend der Branche kennengelernt: Tabledance, Sexmesse, Swingerclub, Straßenstrich, Laufhäuser und Saunaclubs. In dieser ganzen Trostlosigkeitist der Mann zuhause mit seinem „unhinterfragbaren Anrecht, sexuell bedient zu werden“. Bossong ist zu sehr Realistin, um den immer hemmungsloser auftretenden Respektverfall zu übersehen, der freilich nicht nur im Milieu anzutreffen ist. Er ist längst epidemisch geworden, und die sozialen Medien ermöglichen ihm ein geradezu grenzenloses Terrain.

Am Ende bleibt Sexarbeit eine Arbeit und wie überall geht es um die Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung und unwürdige Zustände ausschließen. Das trifft noch auf jeden Arbeitsmarkt zu, ganz gleich, ob wir dabei den eigenen Körper unmittelbar einbringen oder über den Umweg von Kopf- und Handarbeit. Am Ende geht es um menschenrechtliche Standards und um die Macht, diese durchzusetzen. Kurz gesagt, entscheidend sind die Arbeitsbedingungen rund um den bezahlten Geschlechtsverkehr.

3.

Wie weit müssen wir eigentlich in der Menschheitsgeschichte zurückgehen, um auf die Geburtsstunde von Sexarbeit oder Prostitution zu stoßen? Wenn ich Die Wahrheit über Eva richtig verstanden habe, dann müssen wir wohl bis zu dem Punkt zurückgehen, wo die Menschen begannen, sesshaft zu werden und sich Eigentum bilden konnte, sich die Männer die Macht aneigneten, um schließlich die Frauen zu unterwerfen und sie ihrem Besitz einzuverleiben. Das klingt zugegebenermaßen ziemlich grob geschnitzt, trifft aber exakt den Kern jenes verhängnisvollen Prozesses, der der menschlichen Kultur eine patriarchale Matrix aufzwang. Fundierter und eleganter haben das der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Kulturhistoriker Kai Michel in dem erwähnten Buch dargelegt. Dort ist auch nachzulesen, woher die moralische Verachtung kommt, die Sexarbeit verdammt und warum dafür eine Doppelmoral erforderlich wurde. Wer neben der Prostitution auch die Sexarbeit abschaffen will, indem er sie verbietet, der sollte es besser mit der Abschaffung des Patriarchats sowie des damit verbundenen Hybridprodukts Monogamie samt heiliger Familie versuchen. Und dann können wir uns wahrscheinlich noch immer nicht sicher sein, dass nicht doch gewisse libidinöse Bedarfe als Tauschgeschäfte erhalten blieben.

Woher kommt die moralische Schieflage, wenn es um käuflichen Sex geht? Einen möglichen Schlüssel liefern van Schaik und Michel in dem Abschnitt über die Erfindung der Treue. Die Treue gilt für die Frau und nicht für den Mann (zumindest in der Theorie und in der Praxis ohnehin), woraus sich klar eine Doppelmoral ableitet. Ein Mann, der Sex kauft, bricht nicht die Ehe. Aber jede Frau, die sich auf einen anderen Mann einlässt, wird zur Ehebrecherin. Denn „in der patriarchalen Welt geht es um Besitz“ und der Ehemann besitzt nun mal die Ehefrau. Feministische Kritik hat gar noch am Geschlechtsakt selbst das Dilemma ausgemacht – die Macht des Mannes lautet so einfach wie brutal: man fucks woman. Auch patriarchale Gesellschaften verändern sich, doch dürfte wohl noch immer die Treue der Frau anders als die des Mannes bewertet werden. Hier sei an Bossongs Formulierung von der Hure als der „Wahrerin der bürgerlichen Familie“ erinnert in ihrem nur scheinbar paradoxen Sinn, denn so widersprüchlich inszenieren wir die Wirklichkeit tatsächlich. Jedenfalls erscheinen gewisse Denk- und Verhaltensweisen wirkmächtiger, als unsere liberale Aufgeklärtheit es wahrhaben will. Emma Becker lieferte den hier passenden und zugleich doppeldeutigen Witz, wonach „jedes Mal, wenn ein Mann heiratet, […] eine Hure geboren [wird]“.

Die Vorstellung von der Frau als Objekt (und lassen wir dabei mal den evolutionsbiologischen, reproduktiven Aspekt beiseite) haben van Schaik und Michel ausgerechnet in der Antike sozusagen in Reinkultur entdeckt. In der Tat ist die Antike die Wiege unserer westlichen Kultur, auch mit allen Übeln. Schlagen wir Homer auf, so lesen wir von Helden, die fast alle „Serienvergewaltiger“ waren und Frauen als Beute nach Hause brachten. Frauenverachtung liegt hier offen zutage. Das Christentum lieferte bald darauf noch ein paar toxische Zugaben gratis nach, nämlich die Frau als lockende Versuchung und die Dämonisierung der Sexualität.

Mit Hilfe griechischer Denker wurden Adam und Eva zu essentialistischen Vorbildern von Mann und Frau – dort der Verstand, hier die Sinnlichkeit. Die lockende Versuchung, das Sinnbild der Wollust – und schon sind wir bei der Femme fatale, die den Mann zum unschuldig Verführten macht. „Da erwachte auf einmal im unschuldigen Kinde aufwühlend die Frau“, lesen wir bei Émile Zola,

Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riß unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächelte immerzu, jetzt aber mit dem geilen Lächeln des männerfressenden Weibes.

Man braucht diese uralten Klischees gar nicht aufzuwärmen, denn sie haben, so wir mal eben den Blick hinein in die sozialen Medien wenden, nichts von ihrer im Grunde misogynen Virulenz verloren. Dazu passt Nora Bossongs Bemerkung, mit der sie einen Kameraschwenk ausführt weg von den verlogenen Idealisierungen hin zur Frau als Objekt und womit sie die ursprüngliche Perspektive trifft, die stets eine der Macht war und ist: „[…] die Orte der tatsächlichen käuflichen Lust bleiben eine Domäne zeitloser Männlichkeit […].“ Und weiter: „Das tatsächliche Tabu jedoch verletzt man als Frau erst, wenn man mehr als ein begehrenswertes Phantasma sein möchte.“ Zolas Nana hätte vielleicht so darauf geantwortet:

Die Gesellschaft ist falsch eingerichtet! Man zieht über die Frauen her, wo doch gerade die Männer immerzu was von uns verlangen […]. Wenn ich ihnen ihren Willen tat […]: Spaß gemacht hat’s mir keinen, aber auch gar keinen! Ekelhaft war’s mir, Ehrenwort!

4.

Arbeit hat für gewöhnlich mit Wiederholungen, mit wiederkehrenden Abläufen zu tun. Auch der Sex, so viel Variationen wir auch zu denken und zu praktizieren in der Lage sind, besteht aus Wiederholungen. Liebesakte sind vorzugsweise Déjà-vus. Die Leidenschaft und die Lust mögen das im Augenblick vergessen machen, doch beim nächsten Geschlechtsverkehr wiederholen wir, was wir eigentlich schon kennen. Wir können die damit verbundene Befriedigung gar nicht oft genug erleben.

Wie empfinden das Menschen, die Sex verkaufen? Nora Bossong spürte eine große Langeweile auf, als sie Frauen auf dem Straßenstrich aufsuchte. Bevor sie mit ihnen ins Gespräch kam, beobachtete sie ihre Art des Gehens. Bossong erkannte daran etwas ebenso Signal- wie Symbolhaftes. Dieser Gang sei „eine Art Tanzschritt, drei Schritte vor, Drehung, vier Schritte zurück, dargeboten mit dem Charme aller Gelangweilten“. Und bei einer anderen Frau dasselbe:

Doch da […] setzt er ein, der Tanz, allmählich nur, noch ohne die gelangweilte Mechanik, die Kälte der Bewegungen nach der eintausendsten, zehntausendsten Wiederholung.

Zur Sexarbeit mag das Bewusstsein gehören, „verfügbar und nebensächlich wie Fast Food in einem Drive-in“ zu sein. Und trotzdem setzen vielleicht nicht wenige auf einen fairen Tausch: anständiger Sex gegen angemessene Bezahlung eben aus Gründen des Berufsethos, auch wenn nach acht bis zehn Kunden ein Gefühl zurückbleibt, das keine Dusche und kein Duschgel wirklich abzuwaschen vermag, diese Vorstellung, sich dreckig zu fühlen, lesen wir bei Bossong.Das muss nicht so sein, wie ich in Emma Beckers La Maison erfahre. Aber nach körperlich harter Arbeit gibt es mindestens ein Gefühl der Erschöpfung und vielleicht auch der Leere. Wie so eine Tour de Force hormonell wohl aussehen mag? Hat das die Endokrinologie möglicherweise schon erforscht?

Der Körper, seine Öffnungen, die Genitalien samt sekundärer Geschlechtsmerkmale, die Gliedmaßen werden zu Werkzeugen – alles zusammen zu einer Maschine. Und auch die sexuelle Leistung an sich suggeriert in ihrer Mechanik etwas Maschinenhaftes. Zum Riesenerfolg wurde 1970 Sex Machine von James Brown, musikalisch war das bester Funk, und alle Welt hatte diesen Song offenbar missverstanden, der doch so eindeutig schien. Der Mann, um den es da ging, konnte immer, war immer einsatzbereit, in ständiger Bewegung. Doch in einem späteren Interview erklärte Brown die Sache so:

’Sex Machine’ hatte zwar diesen Titel, der stand aber nicht für Sex, sondern für Tanzen. Das haben alle missverstanden. Ich habe aber nie etwas gesagt, sondern war eher froh darüber. Ich habe höchstens mal zu meiner Freundin gesagt: ‘Baby, steh auf, ich fühle mich gerade wie eine Sexmaschine.’ Aber für Sex muss man ja gar nicht aufstehen!“

Als Missverständnis bleibt die Sache kurios und durchaus aufschlussreich.

Mir kam hier Alfred Jarrys Le Sûrmale in den Sinn. Marianne Kesting nannte die surreale Farce in ihrer Rezension der deutschen Übersetzung einen „Pop-Roman von 1902“. Als Pop-Art erkannte sie das Comichafte an Jarrys Geschichte eines Supermannes, in der es um die „Verformung des Menschen durch die Gigantomanie der Technik“ gehe, exemplifiziert an der Sexualität. Jarry beginnt seinen Roman mit der steilen These: „Der Liebesakt ist ein Akt ohne Bedeutung, da man ihn unendlich fortsetzen kann.“ Der das behauptet, heißt André Marcueil und wird als körperlich schwächlich geschildert. Die Verwirrung seiner Gäste über diese Behauptung hält nur kurz an. Man habe sie als höfliche Belanglosigkeit einer mondänen Unterhaltung abgetan, erklärt der Autor. „Der Satz erhielt eine Bedeutung von kläglicher Ironie, da er wie der Hauch aus dem Mund einer Gliederpuppe kam.“ Sicherlich wusste Marcueil nicht, was er da von sich gab, denn von einer gesteigerten sexuellen Aktivität des Gastgebers wusste keiner der Gäste etwas, geschweige von einer Mätresse, „und es war zu vermuten, dass sein Gesundheitszustand ihm die Liebe verbot“. Doch Marcueil war es völlig ernst, und er sollte sich tatsächlich als ein Supermann erweisen. Als stecke in seinem Körper ein Motor, eine Sexmaschine. Genau das entpuppt sich als verblüffende Wahrheit: „Die Liebe besteht für ihn im unaufhörlichen Geschlechtsakt“, heißt es bei Kesting,

Frauen liebt er tot, aber er hat immer noch eine Gruppe Damen in Reserve. In einer über alle Vorstellung grotesken Szene bringt er es, unter den bewundernden Blicken einer Herrenparty, auf ‚82mal‘ und überbietet damit alle bisher dagewesenen und eifrig zitierten Leistungen in Sage und Geschichte, und das, ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen.

Die groteske Geschichte endet in einem Akt der Verschmelzung, als nämlich Marcueil, die personifizierte Sexmaschine, auf eine eigens konstruierte Liebesmaschine trifft. Letztere vermochte Liebe zu produzieren und sich in den Menschen zu verlieben. Genau das geschieht, beide, Sex- und Liebesmaschine, verschmelzen, indem Marcueil in der Umarmung verbrennt. „Hier starb der Supermann, in Eisen verschlungen“, heißt es lakonisch über den heroischen Sexmaniak.

Bei David Foster Wallace gewinnt die Groteske eine tragische Dimension. Was jedoch Jarry als surreale Farce imaginiert, bleibt bei Wallace banaler Alltag. Genau dort gibt es nämlich den hormonell gesteuerten menschlichen Körper als Lustmaschine. Aber nicht jeder Mann kommt damit klar, wie uns Wallace in seinem Bericht Der große rote Sohn von der Verleihung des Adult Video News Awards in Las Vegas, dem Oscar der Pornoindustrie, wissen lässt:

Die Amerikanische Akademie für Notfallmedizin bestätigt: Jedes Jahr werden ein bis zwei Dutzend erwachsene US-Amerikaner in die Notfallaufnahme eingeliefert, weil sie sich kastriert haben. Meist mit Küchenwerkzeugen, manchmal Drahtzangen. Überlebende Patienten beantworten die naheliegende Frage in der Regel damit, ihr Geschlechtstrieb sei zu einer Quelle unerträglicher Konflikte und Ängste geworden. Der Wunsch nach vollkommener Triebbefriedigung bei gleichzeitiger realer Unmöglichkeit vollkommener Triebbefriedigung zu jedem beliebigen Zeitpunkt habe eine Spannung produziert, die sie nicht mehr aushalten konnten.

Wallace beweist auch mit diesem Text seine Meisterschaft in der Mischung nüchterner Distanziertheit mit einem nachgerade besessenen Blick für Details. Ebenso erfasst sein Sehnerv dieses Neben- und Ineinander des Banalen und Monströsen unserer menschlichen Kultur. Las Vegas, die Pornopreisverleihung samt Pornomesse scheinen dafür ein idealer Ort zu sein. Und Wallace vergisst nicht, darauf hinzuweisen, er habe sich die ganze Zeit in einer absolut ironiefreien Zone bewegt. Die Branche sei berechenbar vulgär, da alle Klischees stimmen würden und alles ernst gemeint sei. Porno, so lernen wir, ist die Visualisierung des Sexus als pure Mechanik, womit der Porno der Behauptung von Jarrys Supermann dicht auf den Fersen ist. Denn im Mechanischen steckt die unendliche Wiederholbarkeit von Bewegungen und Vorgängen – und so aller sexuellen Handlungen, denen nun mal die Rhythmisierung als Wesensmerkmal innewohnt. Darin steckt auch eine Art technischer Gigantomanie, die sich sogar noch in Umsatzzahlen widerspiegelt. Wallace verweist nämlich auf die Tatsache, dass die Pornoindustrie bei weitem mehr einnimmt als Hollywoods Filmindustrie, zumindest war das kurz vor der Jahrtausendwende so, als er seinen Bericht aus Las Vegas schrieb.

5.

Sie nennt sich selbstbewusst Hure, die französische Schriftstellerin Emma Becker, die für ihren Roman La Maison gut zwei Jahre in Berliner Bordellen gearbeitet hatte, um darüber dann autofiktional zu schreiben. Sie zeigt sich festentschlossen, eines der beiden von ihr als Arbeitsplatz und Forschungsstelle genutzten Bordelle als eine Art Paradies, als eine Puffidylle zu beschreiben, wo Sexarbeiterinnen als Künstlerinnen unterwegs gewesen seien. An einer Stelle spricht sie vom Sexverkauf als einer Schauspielkunst.

Die Kunst besteht wohl darin, den Anschein von Echtheit bei dem Lustgeschäft herzustellen. Wer den Sex kauft, wird die Lust mitbringen, aber die Verkäuferin, die so offensichtlich Lust auf das Geld hat, wie ist das bei ihr? Vielleicht ist eine gute Hure auch eine große Schauspielerin, weil sie „dir das Gefühl gibt, dass du sie wirklich besitzt“? Denn „eine Hure, die dich vergessen lässt, was sie gekostet hat, ist die Quintessenz der Schauspielerin, mehr ist nicht nötig.“ Ich finde das einleuchtend und das um so mehr, als die Erwartung des Kunden niemals die der Hure sei (oder vielleicht doch eher selten). In deren Beziehung gebe es nur ein unumstößliches Gesetz, sagt Becker, nämlich das der Zeit. Was nichts anderes als die Stunde bedeutet, die der Mann zusammen mit der Dienstleistung kauft. In einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung relativierte sie allerdings die Unvereinbarkeit der Erwartung von Kunde und Hure:

Ich habe immer eine gute Beziehung zu Sex und Lust gehabt. Natürlich eine, die nicht unproblematisch ist. Aber für Sex bezahlt zu werden, war nichts Blasphemisches für mich. Ich hatte mit vielen Männern geschlafen und nie Geld dafür bekommen. Ehrlich gesagt: Ich finde, dass viele Männer sich sowieso wie Kunden benehmen. Aber im Bordell ist am Ende niemand sauer, weil jemand nicht mehr angerufen hat.

In der Wirklichkeit gibt es sicherlich mehr Kunden, bei denen es zwischen ihnen und der Sexarbeiterin bei einer reinen Geschäftsbeziehung bleibt. Am Ende spielt die Empfindung keine Rolle, gleich ob es um Sympathie oder Antipathie geht. Manchmal komme Mitleid mit einem Kunden ins Spiel, manchmal auch Hass – eine Kleinigkeit genüge dafür. Und umgekehrt, empfinden Freier Mitleid mit der Hure? „Komischerweise nur die Franzosen“, gab Becker in dem erwähnten Interview zur Antwort, „die sagten immer: Du bist so klug, warum machst du so etwas für Geld? Die Deutschen waren viel lockerer. Das ist eine gute Sache an deutschen Männern: Sie sind im Puff viel bessere Kunden. Sie wissen, dass die Frau vor ihnen arbeitet.“

Natürlich kann man sich über Freier auch aufregen, weil sie nerven oder in ihrer Durchschnittlichkeit nur langweilig oder auch anstrengend sind, weil sie irgendwie eklig wirken oder auch brutal sind. Am Ende ist alles im Preis inbegriffen, und eine gute Schauspielerin spielt vor jedem Publikum. Dennoch sind auch Sexarbeiterinnen nicht alle Tage gut drauf:

und plötzlich wird jede Kleinigkeit beim Sex unerträglich: Der eine kriegt ihn nicht richtig hoch, der Nächste schwitzt wie ein Schwein, und die Berührung seines triefenden Oberkörpers ist unerträglich […], der Dritte will mich küssen, und als ich den Kopf zur Seite drehe, leckt er mir wenigstens das Ohr, dieser hier, dem ich ausdrücklich alle analen Spielereien verboten habe, nimmt den Finger einfach nicht aus meinem Arsch, und der Nächste hat einen Geruch, der jenseits von Gut und Böse ist, aber mich reizt, außerdem macht er so einen Lärm, als er mich leckt, dass ich mir die Ohren zuhalte, möglichst diskret – wenn er es merkt, hat er Pech!

Becker nennt sich selbst zwar Hure, hält aber den Begriff Sexarbeiterin für freundlicher als den der Prostituierten. Im Übrigen gehe es ja um Arbeit im eigentlichen Sinne, wie das schon eingangs behandelt wurde. Sexarbeit ist ein Beruf,

für den man viele Kompetenzen haben muss. Eine Dienstleistung. Man muss möglichst höflich sein, lächeln, die Wünsche der Kunden respektieren. ‚Sexarbeiterin‘ klingt nach Arbeit, danach, dass man sich Mühe gibt und Respekt verdient.

Genau diesen Aspekt nannte Becker auch als ein Motiv, das Projekt La Maison zu beginnen: „Ich wollte immer wissen, wie sich Sex als Job anfühlt, was im Kopf einer Hure passiert. Aber ich wollte nicht journalistisch recherchieren, sondern das Milieu wirklich kennenlernen, von ihnen heraus.“ Und was vielleicht am wenigsten mit Sexarbeit in Verbindung gebracht wird, nämlich Respekt, genau das erfuhr die Autorin als Unterschied zwischen Sex im Bordell und Sex im Leben:

Ich habe das Gefühl, dass mein ‚Nein‘ im Bordell viel mehr Kraft hatte, besser verstanden wurde, denn es war ja eine Dienstleistung. Im normalen Leben ist es mir oft passiert, dass ich ‚Nein‘ sagte und es wiederholen musste und wiederholen. Ich denke, dass wir von Huren vieles, was Zustimmung angeht, lernen können.

Vor lauter Eifer entgeht ihr jedoch, dass ihre Selbstfeier der puren Weiblichkeit im Grunde dem allgegenwärtigen Sexismus auf den Leim geht, indem sie genau das tut, was dieser so perfekt beherrscht, nämlich die absolute Sexualisierung, die Frau auf ein Geschlechtswesen zu reduzieren. So lautet ihre Definition von Hure: „Jedes Mal denke ich, das sind Frauen, die wirklich Frauen sind, die nur das sind. Eindeutig geschlechtliche Wesen, mühelos zu erkennen.“ Gleichwohl erscheint es legitim, aus den sexistischen Verhältnissen persönlichen Gewinn zu ziehen, wie es bei der oben zitierten Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp heißt. Becker ersetzt den Realismus gern durch Euphorie. Auch das legitim, zumindest ästhetisch gesehen. Denn was sie über den Bordell-Alltag mitzuteilen weiß, ist von einer Offenheit, die ebenso wie ihre bemerkenswerte Charakterisierungskunst menschlicher Naturen fasziniert.

6.

An einer Stelle in Emma Beckers Buch überraschte mich eine unverblümt denunziatorische Bemerkung über den Straßenstrich. Sie spricht dort über Transfrauen als Sexarbeiterinnen (die bei ihr offenbar nur Transvestiten sein können). Das ist zwar nur ein Nebensatz und doch entlarvend in seiner ausgrenzenden Haltung. Sie erzählt von der Kunstfertigkeit einer Kollegin, das Kondom mit dem Mund überzustreifen, „wie es ihr ein Freund gezeigt hat, der sich ab und zu in einer düsteren Ecke der Potsdamer Straße in seinem Auto von einem Transvestiten einen blasen lässt, wenn Brunst und Verzweiflung zusammentreffen.“ Seltsam, dass sich Becker ihre Kunden nicht auch verzweifelt vorstellen kann, sondern nur brünstig. 

Die große Cis-Welt, die sich stets so sicher in ihrer binären Selbstgewissheit weiß, versagt meist zuverlässig, wenn es um Transgeschlechtlichkeit geht. Mir fällt hier eine Bemerkung Carolin Emckes zum Thema Normativität und Privilegiertheit ein: „Normen als Normen fallen immer nur auf, wenn wir ihnen nicht entsprechen. Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten, zu bezweifeln, dass es sie gibt.“ Ich erinnere einen frühen Text von Wolf Wondratschek, dem man ja einen eher kritischen, unkonventionellen Blick auf die Welt zutrauen würde. Als er jedoch 1978 Arbeiten der Fotografin Roswitha Hecke im ZEITmagazin kommentierte, die Mitte der Siebziger unter Trans*Sexarbeiterinnen in der Rue André Antoine in Paris entstanden waren (und erst viel später unter dem Titel Pigalle in Buchform erschienen sind), war das zusammen mit den Fotos auch nur ein denunziatorischer Blick in eine vermeintliche Freakshow. Selbstredend spricht er von den „falschen Frauen“ – und die Fotos scheinen diese Behauptung unterstreichen zu wollen. Was hier fehlt, das finden wir in Camila Sosa Villadas autobiografischem Bericht von den Transfrauen aus der argentinischen Großstadt Córdoba in Überfülle – der tiefe Blick für das Menschliche. Das kann brutal und auch sentimental sein, trotzdem wird nichts beschönigt, nichts falsch benannt. Im Park der prächtigen Schwestern heißt das Buch, das für klare Verhältnisse sorgt über die geschlechtliche Echtheit in besonderen Fällen und über die Lust von Cis-Heteros, über prekäre Lebensverhältnisse und über Sexarbeit als Existenzmodus.

In Villadas Erzählungen spiegelt sich auch ihr eigenes Leben, ihre persönliche Trans*Biografie. Wie Emma Becker beschreibt auch sie die Kolleginnen und die Kunden und auf beiden Ebenen gewinnen wir intime Einblicke in die gesellschaftliche Relationalität der Sexarbeit, in die sich mit dem Trans*Aspekt entlarvende Situationen mischen – entlarvend mit Blick auf eine im Grunde absurde Heteronormativität. Einfach ausgedrückt: Bei der menschlichen Sexualität geht es darum, überhaupt sexuell zu sein. Und wo der Trans*Aspekt hinzutritt, bekommt Emma Beckers Aussage, „Frau zu sein, hat mit Fiktion zu tun“ eine verblüffende Wendung, und zwar nicht, weil sich Geschlecht inszenieren läßt, wie uns die Gender Studies schon so lange zu erklären versuchen, sondern weil jede Geschlechtsrolle in und mit jedem Körper möglich ist. Doch bleiben wir bei Villada und schauen, was sich nachts im Sarmiento-Park zuträgt, der tagsüber ein gewöhnlicher Erholungs- und Freizeitpark ist.

Um vielleicht mit der Frage der geschlechtlichen Echtheit zu beginnen, an die sich eine andere Frage knüpft, wie man nämlich mit einem vermeintlich falschen Körper richtigen Sex haben können und guten zumal. Die Körperlichkeit gewinnt hier eine weitere Dimension. Denn wir haben es ja nicht nur mit dem sexualisierten Körper der Frau zu tun – und als diese werden Transfrauen schließlich wahrgenommen, sondern ebenso mit ihren Körpern, die die strikte Binarität außer Kraft setzen. Keine von den prächtigen Schwestern im nächtlichen Park wurde als Frau geboren, bis auf eine Schwangere, die sich der nächtlichen Solidargemeinschaft anschloss. „Alle anderen haben selbst dafür gesorgt, es zu werden.“ Und weiter:

Was die Natur nicht schenkt, kannst du dir in der Hölle leihen. Die Schwestern hier im Sarmiento Park gleich beim Zentrum der Stadt haben sich den Zauber ihrer Körper dort geliehen.

Der nächtliche Park ist der Arbeitsplatz, „eine Brutstätte der Gelüste, ein Biotop für Sex ohne Scham“. Es sind naturgemäß Männer, die mit ihren Gelüsten dort ankommen. Aber es sind nicht nur die nächtlichen Razzien gefürchtet, mitunter sind es die Kunden selbst, weil nicht immer kalkulierbar ist, wie pervers der eine oder andere von ihnen ist. Am Ende sind es die Körper der Schwestern, die die Spuren von Gewalt, Hass und Verachtung tragen. Dennoch gibt es auch sympathische Beziehungen zu Männern. Villada weiß Geschichten von rührender Verbundenheit zu erzählen. Doch Sexarbeit ist überall Arbeit und von lokalen Unterschieden abgesehen, macht es offenbar keinen großen Unterschied, ob Transfrauen oder Frauen, die es seit der Geburt sind, diese Arbeit tun.

Die Erwerbsgründe sind jedenfalls ihr plausibelstes Motiv, und die Frage, unter welchen Arbeitsbedingungen Geld verdient wird, stellt sich überall. Im Vergleich zu Emma Beckers geradezu gutbürgerlichem Bordell in Berlin-Charlottenburg mit seiner flauschigen und irgendwie properen Atmosphäre ist der Sarmiento-Park nachts mit Sicherheit alles andere als ein idyllischer Ort. Was hier wie dort allerdings gilt, das ist der Zusammenhalt, eine Verbundenheit unter den Sexarbeiterinnen, die man andernorts mit Kollegialität bezeichnen würde – Konkurrenz und Konflikte miteingeschlossen. Im Fall der Transfrauen enthält die Sexarbeit noch ein Moment der Selbstbestätigung, denn schließlich verlangt ihre weibliche Rolle die soziale Anerkennung, und so gewinnt der Sex noch etwas Identitätsstiftendes.

Es sind immer die Körper, die im Mittelpunkt stehen und ihre Benutzbarkeit. Aber es ist zugleich eine Art Persönlichkeitsschutz, denn nie wird mehr als die Haut zu Markte getragen, wie es in einer Redewendung heißt. Als Werkzeug der Sexarbeit hört der Körper auf, wichtig zu sein, so Villada, und gleichzeitig zählt nur er. Den Leib nennt sie einen „Tempel des Nichts“. Darin steckt ein Mittel der Panzerung des Hurenkörpers. „Man kann nicht Prostituierte sein ohne vorherige Vollnarkose.“ Doch schließt sie seine Pflege und die Hingabe an ihn nicht aus, schon gar nicht, wenn es um das Gesicht geht, das Villada als Maske beschreibt, „die schönste aller Masken, unser trans Gesicht realer als die eigenen Züge, entworfen für eine andere, eine bessere Welt, in der wir diese Maske sein konnten.“

Titelbild

Nora Bossong: Rotlicht. Die Lust, der Markt und wir.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254572

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Kein Bild

Émile Zola: Nana.
Aus dem Französischen von Erich Marx.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2008.
492 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783458352198

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Carel van Schaik / Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
699 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001124

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Alfred Jarry: Le Sûrmale.
CreateSpace Independent Publishing Platform, North Charleston 2015.
126 Seiten,
ISBN-13: 9781517703547

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David Foster Wallace: Der große rote Sohn.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
112 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048216

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Emma Becker: La Maison.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
384 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006907

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Camila Sosa Villada: Im Park der prächtigen Schwestern.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
220 Seiten , 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783518471180

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