Unterwegs zu einem Paradigmenwechsel?

Neuerscheinungen und Gedanken zum aktuellen Streit über den Holocaust

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1.

Es ist ein Krieg, ein kalter Bürgerkrieg der Intellektuellen zugange in Deutschland, ein Krieg, dessen Manifestation die unzutreffende Bezeichnung „Historikerstreit 2.0“ trägt. Dieser Begriff führt in die Irre, denn die aktuelle Auseinandersetzung wird nicht ausschließlich unter Historikern und auch nicht in Fachzeitschriften ausgefochten. Journalisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller und große Teile der Kulturbranche sind vielmehr ebenfalls involviert. Es handelt sich bei diesem Krieg um das aktuelle Kapitel einer Erinnerungsarbeit, die derzeit viele europäische Nationen, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, beschäftigt. In den Ländern Westeuropas geht es um die Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit und die adäquate Erinnerung daran, aber auch um die Umwandlung der nationalen Geschichtsbilder in eine „multidirektionale Erinnerung“ (M. Rothberg), die das Leid und den Schmerz auch von solchen Opfergruppen anerkennt, welchen dies bislang nach ihrer eigenen Wahrnehmung versagt wurde. In Osteuropa liegt der Fokus dieser Erinnerungsarbeit hingegen immer noch in der Eruierung und der Exegese der eigenen Komplizenschaft mit den Verbrechen des Faschismus und Stalinismus.

Die deutsche Erinnerungskultur wiederum wird zerrissen zwischen (fachlichen und zivilgesellschaftlichen) Akteuren, die einerseits universalistisch und globalgeschichtlich denkend die bisherige Erinnerungskultur überwinden wollen, sie als selbstreferentiell und provinziell abkanzeln und andererseits einer Riege von Historikern und Intellektuellen, die der australische Historiker A. Dirk Moses als „alte Männer“ und „Hohepriester“ einer überholten Gedenkkultur kritisiert. Laut Moses überhöhten diese „Hohepriester“ die Erinnerung an den Holocaust, sprächen illiberale Sprechverbote aus und seien mit ihrem Festhalten an der seit den 1980er Jahren aufgekommenen These von der Singularität des Holocausts „old school“, also Hüter eines Forschungsparadigmas, das zwar einst seine Verdienste gehabt hätte, mittlerweile jedoch der gesellschaftlichen Realität und neuen Forschungsansätzen nicht entspräche. Die „Hohepriester“ verweigerten sich damit dem weltweiten Trend (und Wissensstand) der Genozidforschung und des Postkolonialismus, ignorierten somit aktuelle Erkenntnisse der Wissenschaften und da sie einen säkularen Katechismus predigten, der u. a. die Existenz Israels als „deutsche Staatsräson“ vorsähe, belegten sie alle Personen mit einem Bann, die sich nicht an den Katechismus hielten.

2.

Der erwähnte A. Dirk Moses kann mit seinem Internetartikel Der Katechismus der Deutschen vom 23. Mai 2021 zwar als Auslöser des aktuellen Streits gelten, dessen Ursachen liegen jedoch tiefer und zeigen in viele Verästelungen des deutschen und internationalen Kulturlebens. Moses selbst ist in der Holocaustforschung durch seine These vom „subalternen Genozid“ bekannt geworden, als den er den Holocaust deutet. Der These nach empfanden sich die Deutschen bzw. die Nationalsozialisten als den Juden unterlegen und von diesen kolonisiert. Die Nationalsozialisten hätten sich als eine Art antikolonialistische Befreiungsbewegung wahrgenommen und die Juden als das kolonisierende Andere angesehen, das für die Deutschen eine tödliche Bedrohung darstelle. Daher sei der Genozid in ihren Augen eine Art Vorbeugung und Präventivmaßnahme gewesen. Überhaupt seien Genozide generell, so spitzte Moses seine Genoziddeutungen vor einigen Jahren zu, einem imperialen Sicherheitsdenken entsprungen.

Im März 2021, also zwei Monate vor Mosesʼ „Katechismusʼ“-Artikel, publizierten der Afrikaforscher Jürgen Zimmerer und der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit einen Artikel mit der Überschrift Enttabuisiert den Vergleich! Beide Wissenschaftler haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Holocaustforschung mit umstrittenen Thesen einen Namen gemacht: Zimmerers Arbeiten verfolgen das Ziel, zwischen dem Holocaust und den deutschen Kolonialverbrechen strukturelle und morphologische Analogien und Ähnlichkeiten nachzuweisen, während Rothberg das Konzept der „multidirektionalen Erinnerung“ entwickelte. Dessen Zweck bestimmte er darin, die Vielzahl von historischen Erinnerungen in einer globalisierten und multikulturellen Gesellschaft miteinander so in Einklang zu bringen, dass sie gleichberechtigt nebeneinander bestehen können, ohne dass sie vom Gewicht des Gedenkens an den Holocaust erdrückt bzw. beiseitegeschoben würden.

Die Ansätze, Thesen (Zimmerer: „von Windhuk nach Auschwitz“) und die erinnerungspolitischen Implikationen beider Forscher sind in den letzten Jahren sehr kontrovers diskutiert worden. Zuletzt unterzog Steffen Klävers in seiner 2019 erschienenen Dissertation Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung ihre Werke einer grundsätzlichen Kritik. Er warf beiden (aber auch A. Dirk Moses) vor, die Spezifik des nationalsozialistischen Antisemitismus zu ignorieren und die in weiten Teilen der Holocaustforschung anerkannte These von der Singularität des Holocausts so zurückzuweisen, dass sie dabei ein besonderes Singularitätsverständnis hätten, das von dem der Forschung abweichen würde. Sie bekämpften daher auch den Ausdruck bzw. die These Dan Diners vom „Zivilisationsbruch“, den der Holocaust darstelle.

Nachdem Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung 2021 auch in Deutschland erschienen war, kam es selbstredend auch zu kontroversen Stellungnahmen, die direkt-indirekt eine Spitze gegen seine Thesen bedeuteten. In ihrem Artikel Enttabuisiert den Vergleich! verwahrten sich beide Autoren dagegen, sie würden „die Einzigartigkeit des Holocausts und damit die deutsche Schuld und Verantwortung infrage“ stellen. Die Globalisierung des Gedenkens auch in Deutschland minimiere keineswegs die deutsche Verantwortung für den Holocaust, so die beiden Forscher, jedoch führe „das Verbot jedes Vergleichs und In-Beziehung-Setzens“ zu einer „Herauslösung der Schoah aus der Geschichte“. Sie plädierten stattdessen für eine „intensivere Erinnerungskultur“ und kritisierten, dass die Zurückweisung einer globalen (und vergleichenden) Perspektive auf den Holocaust u.a. die Ablehnung einer Verantwortung für die Verbrechen des Kolonialismus zur Ursache habe. Rothbergs Konzept einer multidirektionalen Erinnerung führe nicht zu weniger, sondern zu mehr Erinnerung, sei solidarisch und global, überwinde den deutschen Provinzialismus und entspräche letztlich den Bedürfnissen einer „diverse[n] Gesellschaft“. Das setze allerdings die „Enttabuisierung des Vergleichs“ voraus.

In seinem mittlerweile berühmt-berüchtigt gewordenen Artikel Der Katechismus der Deutschen nannte A. Dirk Moses die Kontroversen um Rothberg und Zimmerer sowie die 2020 stattgefundene Debatte anlässlich der Ein- und Ausladung Achille Mbembes von der Ruhrtriennale „hitzige Debatten“. Offensichtlich haben sie seinen Beitrag mit ausgelöst, wobei Moses in einem Artikel einige Monate später, abgedruckt in dem hier zu besprechenden, von Susan Neiman und Michael Wildt herausgegebenen Sammelband Historiker streiten, auch vor einem „schleichenden Illiberalismus“ in Deutschland warnte. Diesen meinte er im „erzwungene[n] Rücktritt Peter Schäfers von der Leitung des Jüdischen Museums Berlin“, der „Aufkündigung eines Projekts israelischer Studenten unter dem Titel Unlearning Zionism“ und der Kritik an unterschiedlichen Personen wie Susan Neiman, Stefanie Carp oder Aleida Assmann erkennen zu können.

Um gegen diesen illiberalen Geist Stellung zu beziehen, sei sein Artikel über den „Katechismus der Deutschen“ nötig gewesen und wie dringend notwendig er gewesen sei, habe ihm der Umgang der deutschen Medien mit den Journalistinnen Nemi El-Hassan und Farah Maraqas im Jahr 2021 noch einmal verdeutlicht. Es gebe eben einen Katechismus, so Moses, der in Deutschland in einem illiberalen Geist durchgesetzt werde. Er bestehe aus fünf Glaubenssätzen: 1. Der Holocaust sei einzigartig, 2. Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch bilde das moralische Fundament der deutschen Nation, wenn nicht gar der europäischen Zivilisation, 3. Deutschland trage für die Juden eine besondere Verantwortung und sei auch gegenüber Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet, 4. Der Antisemitismus sein ein „Vorurteil und Ideologem sui generis“ und sollte vom Rassismus unterschieden werden und 5. Antizionismus sei Antisemitismus.

Diese fünf „Glaubensartikel“ nehmen eine sonderbare Zwischenstellung zwischen wissenschaftlich diskutablen Fragestellungen (Nr. 1, 4 oder 5) und moralisch-politischen Thesen (Nr. 2 und 3) ein. Moses wollte mit seiner Polemik die Grenzen eines fachwissenschaftlichen Diskurses ganz offensichtlich verlassen und in einer schwelenden gesellschaftlichen Debatte eindeutig Stellung beziehen. In einem Gespräch mit Volkhard Knigge bekannte er: „Ich habe […] einen scharfen Ton gewählt, um gehört zu werden.“ Diese Schärfe erreichte Moses, indem er Analogien zwischen dem von ihm postulierten „Katechismus“, den angeblich Millionen Deutsche verinnerlicht hätten, und dem Christentum konstruierte: Er sprach von den fünf „Glaubensartikeln“, einer „Heilslehre“, der eine „Erlösungsfunktion“ zukomme, von „Sünde“ und „Vergebung“ sowie einem „Erlösungsnarrativ“. Die Antisemitismusbeauftragten der Bundesländer hielten als „Hüter der erinnerungspolitischen Orthodoxie“ stets Ausschau nach „Häresien“. Als eine solche Häresie gelte etwa ein Verstoß gegen den BDS-Beschluss des Bundestages, wodurch den Palästinensern die Möglichkeit genommen worden sein soll, „um sich der Kolonisierung ihres Landes zu widersetzen.“ Was durch den Katechismus auf der Strecke bleibe, sei „die andere Perspektive der Migrant:innen“ oder seien jene postkolonialen Forschungsansätze wie sein neuester Forschungsansatz, wonach „alle Genozide durch Sicherheits-Paranoia betrieben werden.“

Die „Hohepriester“ des Katechismus (Moses verwies in seinem Artikel auf mehrere Journalisten der Zeit oder der FAZ oder auch auf Politiker) ließen keine offene Debatte zu, sondern führten stattdessen eine Inquisition, denunzierten Häretiker und setzten ihren Katechismus einfach durch. Sie instrumentalisierten den Holocaust zudem, um andere Verbrechen (bzw. die Erinnerung daran) „auszublenden“, wodurch eine rassistische „Hierarchie des Leidens, Abstufungen der Humanität“ entstünde. Nötig sei hingegen ein „inklusives Denken“, das nicht länger „die Verteidigung einer seit mehr als fünfzig Jahren herrschenden Militärdiktatur, unter der die Palästinenser:innen zu leben haben, mit einschließt“. Zwar habe der Katechismus seit seiner Entstehung im Historikerstreit der 1980er Jahre gute Dienste geleistet, doch müsse er mittlerweile überwunden werden. Es sei an der Zeit, „die Forderungen nach historischer Gerechtigkeit auf eine Weise neu zu verhandeln, die alle Opfer des deutschen Staats und alle Deutschen – auch BPoC, inkl. Juden und Jüdinnen und Muslime und Muslimas, Einwander:innen und ihre Nachfahren – respektiert.“ Mit anderen Worten: Moses forderte die Überwindung (bzw. Kontextualisierung und damit einhergehende Abschwächung) der aus seiner Sicht alles bestimmenden Holocausterinnerung, die von einer Elite, die auf die Anerkennung durch amerikanische und israelische Eliten aus sei, wie eine Art ewige Schuld der Deutschen kultiviert werde.

3.

Der Artikel von Moses löste eine seitdem anhaltende, viele Historiker, Journalisten und Schriftsteller beschäftigende Debatte aus: Götz Aly, Philipp Ther, Wulf Kansteiner sind nur einige der Historiker, die ihre Ansichten in der Presse, dem Rundfunk oder den Kultursendungen des Fernsehens darstellen konnten. Bereits im Februar 2022 erschien ein erster, dünner Sammelband mit einigen Stimmen von Kritikern der Katechismusthese: Ein Verbrechen ohne Namen . Der Band versammelt die zuvor in Zeitungen erschienenen Erwiderungen von vier HistorikerInnen: Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner. Beinahe als Antwort darauf publizierten Susan Neiman und Michael Wildt im Herbst 2022 den Sammelband Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – Die Debatte. Darin versammeln sie eine Reihe von Stimmen, darunter ist A. Dirk Moses mit zwei Beiträgen vertreten, die überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, für die Legitimität und Richtigkeit der obigen These eintreten. Dieser Band verdeutlicht das breite gesellschaftspolitische Spektrum der aktuellen Debatte, er lässt auch Nichthistoriker (Eva Menasse, Susan Neiman usw.) zu Wort kommen und bildet tatsächlich einen Teil der Kontroverse ab.

Bedauerlicherweise findet sich der Auslöser der Diskussionen, Mosesʼ Katechismusbeitrag, in keinem der Sammelbände. Bevor die jeweiligen Positionen vorgestellt werden, sei darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft auf die Hauptthesen Rothberg-Zimmerers sowie von Moses, wonach die Singularitätsthese eine ernsthafte Einbeziehung der postkolonialen Forschungen und von Vergleichen verhindere, sehr schnell reagiert hatte. Bereits im Januar 2022 erschien ein Beitrag von Frank Bajohr und Rachel OʼSullivan in der renommierten „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“ (VfZ, 2022/1, 191-202). Nachdem sie Dutzende von einschlägigen Konferenzen, Projekten und Publikationen der letzten Jahrzehnte analysiert haben, kamen sie zum Fazit:

Insgesamt dokumentieren die erwähnten Forschungsfelder und Projekte, dass Studien zu kolonialen Bezügen der NS-Herrschaft voranschreiten. Entsprechende Diskussionen werden seit Langem geführt, ohne in der weiteren Öffentlichkeit oder in erinnerungskulturellen Deutungskämpfen gebührende Beachtung zu finden. Dabei beurteilt man eine unmittelbare Verbindung von Holocaust und Kolonialismus insgesamt und mit guten Gründen eher skeptisch. Entsprechende Kontinuitätskonstruktionen oder der Vergleich an sich sind aber kein Tabu, sondern fester Bestandteil von Kontextualisierungsdiskussionen nicht zuletzt im Feld der Holocaust Studies.

Doch wie sehen die Argumente der Kontrahenten in den beiden Sammelbänden aus?

Am Beginn des schmalen Bandes Ein Verbrechen ohne Namen steht der Aufsatz Saul Friedländers, der zweifellos einer der anerkanntesten Holocaustforscher unserer Zeit ist. Friedländer betont, dass die These von der Singularität des Holocausts die Präzedenzlosigkeit des nationalsozialistischen Völkermords meine, mithin den spezifischen historischen Kontext mit der Vorgeschichte eines jahrtausendealten mörderischen Judenhasses, bei dem für die Nationalsozialisten „der Jude“ als das „Prinzip des Bösen“ schlechthin galt, weshalb der Antisemitismus auch nicht im Rassismus aufgehe. Insbesondere wendet sich Friedländer gegen die Vermischung des Holocausts mit dem Kolonialismus oder die Gleichsetzung der Gründung des Staates Israel mit einer kolonialen Landnahme. Die Befürworter einer solchen These schlussfolgerten letztlich beinahe immer, dass Israel eine Kolonialherrschaft über die Palästinenser ausübte, so dass die deutsche Unterstützung Israels die Unterstützung für einen Staat bedeute, der „Nazi-ähnliche Gewalt über eine unterworfene Bevölkerung“ anwende.

Norbert Frei widerspricht im zweiten Aufsatz des Bandes der These Moses` von der Dominanz der Holocausterinnerung als einer elitären, von einer kleinen Gruppe durchgesetzten und aufrechterhaltenen Ideologie. Er unterstreicht die historische Gewordenheit des Gedenkens an den Holocaust und die Vielfalt gesellschaftlicher Akteure, die erst im Laufe mehrerer Jahrzehnte und mit Abstand zum Geschehen dessen Bedeutung gewahr wurden: „All das war kein Oktroi ominöser ‚Elitenʼ, sondern Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Selbstverständigungsbedürfnisse im Zeitalter eines global gewordenen Holocaust-Bewusstseins, das in der „Stockholmer-Erklärung“ vom Januar 2000 wohl seinen Gipfelpunkt erreichte.“ Für Frei geht es Moses um eine Relativierung des Holocausts gegenüber anderen Genoziden, eine Einebnung der Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus sowie die Verschleierung, dass antizionistische Einstellungen häufig antisemitische Meinungen sind. Auch verweist der Jenaer Historiker darauf, dass Mosesʼ These an rechte Diskurse anschlussfähig sei, die gleichfalls von einem „Schuldkult“ sprächen, den es zu überwinden gelte, weshalb Moses nicht zufällig sehr bald nach dem Erscheinen seines Artikels Beifall von rechts bekommen habe.

Sybille Steinbacher ist an der Universität Frankfurt die Inhaberin des einzigen Holocaustlehrstuhls in Deutschland. Ihre Ausführungen, der einzige Originalbeitrag des Bandes, denn die übrigen waren vorher bereits in überregionalen Medien erschienen, stellen die schärfste Abrechnung mit den Thesen A. Dirk Moses` dar. Auch sie unterstreicht die „strukturellen Besonderheiten“ des Holocausts (unbedingter Vernichtungswille, Systematik des Mordprogramms) und beharrt auf dessen Einzigartigkeit bzw. Präzedenzlosigkeit. Die Bedeutung des deutschen Kolonialismus für den Holocaust schätzt sie eher gering ein und erachtet überhaupt die Forderung nach einer Enttabuisierung von Vergleichen als gegenstandslos, denn es gebe schlichtweg kein solches Tabu. Insoweit bestätigt Steinbacher die Ansichten ihrer Kollegen. Die Besonderheit ihres Essays besteht hingegen in der Dekodierung und Benennung der ideologischen Motivlagen hinter der aktuellen Diskussion. Wenn nämlich die Einzigartigkeit bestritten werde, sei eigentlich stets Israel gemeint, das Land der Juden, die sich nicht länger als eine besondere Opfergruppe begreifen sollen. Mosesʼ These vom „subalternen Genozid“ so Steinbacher, „müffele“ stark nach Ernst Noltes Ansichten aus den 1980er Jahren, die ja den ersten Historikerstreit ausgelöst haben. Überhaupt seien die Texte Moses` voller antisemitischer Topoi, so zuletzt dessen Ausführungen über den Juristen Raphael Lemkin, der den Begriff „Genozid“ (laut Moses) bewusst aus einer „jüdisch-nationalistischer Überzeugung“ erfunden hätte, um die jüdische Landnahme zu rechtfertigen. Mosesʼ Begrifflichkeit von den „selbsternannten Hohepriester[n]“, meint Steinbacher, transportiere zudem „das Stereotyp von den verschwörerischen Einflüssen und Machtpositionen der Juden“. Die politische Botschaft hinter dem „Katechismus“ sei sodann die Delegitimierung Israels, denn wenn der Holocaust als einer von unzähligen Genoziden wahrgenommen werde, sei auch der Staat Israel nichts Besonderes mehr. Um solch gefährlichen Ideologien nicht aufzusitzen, seien quellenbasierte Forschungen weiterhin dringend nötig.

Den letzten Aufsatz des Bandes zeichnet Dan Diner, der aufgrund seines, in den 1980er Jahren geprägten Begriffes vom Holocaust als eines „Zivilisationsbruchs“ der Menschheitsgeschichte in der aktuellen Debatte von beinahe jedem Diskutanten zitiert wird. Im vorliegenden Beitrag bekräftigt Diner seinen Ausdruck und verweist erneut (wie in seinen früheren Publikationen) darauf, dass es sich beim Holocaust um etwas Gegenrationales, also außerhalb des rationalen Vorstellungsvermögens Liegendes handele, um „einen schier gegenrationalen Tod“. Wenn Diner gleichzeitig jedoch beteuert, bei den Kolonialverbrechen habe es sich ebenfalls um eine „Gewalt eigenen Rechts“ und meint, den Holocaust von diesen Verbrechen zu unterscheiden, bedeute nicht, das jeweilige Leid „als ethisch verschieden zu qualifizieren und somit herabzusetzen“, dann widerspricht er sich eigentlich. Wenn von vielen Gewalten bzw. Genoziden nur einem Phänomen die Bezeichnung „Zivilisationsbruch“ oder „anthropologische Krise“ zukomme, dann erfolgt nämlich automatisch eine Hierarchisierung. Die Chance, diese erneut argumentativ zu begründen, hat Diner letztlich versäumt, was umso verwunderlicher ist, als er selbst sich dessen bewusst ist, dass die Wahrnehmung des Holocausts als ein Zivilisationsbruch „in Erosion begriffen“ ist.

4.

Diese Erosion lässt sich hervorragend am Sammelband Historiker streiten zeigen, herausgegeben von der Philosophin Susan Neiman und dem Historiker Michael Wildt. Die Beiträge sind überwiegend die überarbeiteten Vorträge eines Berliner Symposiums, Artikel aus der Presse und Originalbeiträge. Der Auslöser der Beiträge, A. Dirk Moses, ist im Band gleich zweimal vertreten, mit einem Interview, das er im Juni 2021 der Zeit gab und einem Originalbeitrag, in dem er auf die weiter oben vorgestellten Beiträge reflektiert, aber auch bereits auf Texte eingeht, die in diesem Band abgedruckt sind. Die Besonderheit des Interviews besteht darin, dass es zwar von einer Journalistin und einem Journalisten moderiert wurde, Dirk Moses sich letztlich aber mit Volkhard Knigge unterhielt, der bis 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora leitete und Professor für Geschichte in den Medien und der Öffentlichkeit an der Universität Jena war. Knigge kann damit als einer jener „Hohepriester“ gelten, die im Fokus der Attacke von Moses standen. Die Positionen der Kontrahenten konnten daher gegensätzlicher kaum sein, trotz gelegentlicher inhaltlicher Übereinstimmung.

So betonte Knigge das Vorhandensein von Vergleichen in der Genozidforschung und dass es gelte, „Auschwitz in einem universalistischen Sinn begreifbar zu machen, ohne die jüdische Verfolgungserfahrung einzuebnen“. Der Holocaust sei eben singulär, denn er habe etwas Spezifisches gehabt, den Willen „die zur ‚Gegenrasseʼ stilisierten Juden um jeden Preis von dieser Welt zu tilgen“. Es spreche auch nichts dagegen, der deutschen Kolonialverbrechen zu gedenken, ohne dabei den Holocaust u. a. durch wenig zielführende Analogien notwendigerweise kleinzureden. Während Knigge betont, dass es keine staatlichen Vorgaben und Sprechverbote hinsichtlich der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit gebe, liegt für Moses die Ursache der aktuellen Kontroverse darin, dass sich Deutschland „im identitätspolitischen Konflikt um Israel Position bezogen“, sprich Israels Existenz als Staatsräson ausgegeben habe. Hieraus habe sich wohl der Schritt zum BDS-Beschluss des Bundestages ergeben, deshalb hätten es die „palästinensisch-, syrisch-, türkisch-deutschen Stimmen“ mit ihren unterschiedlichen, vom Mainstream abweichenden erinnerungspolitischen Traditionen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Die staatlichen Stellungnahmen hätten letztlich eine Emotionalisierung der Debatten verursacht, was man an der Mbembe-Debatte sehen konnte, doch habe sich bereits „zum Ende der Nullerjahre […] eine Staatsideologie entwickelt, die Sprechcodes verordnet“. Die Einstufung der BDS-Bewegung als antisemitisch habe eine „Kultur der Angst befördert, unter der insbesondere Muslime zu leiden“ hätten. Doch würden er, Zimmerer und Rothberg lächerlich gemacht, wenn sie versuchten, den Holocaust und die europäischen Kolonialverbrechen in eine wissenschaftliche Wechselbeziehung zu setzen und überhaupt werde an diese Verbrechen zu wenig erinnert, während es eine internationale Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus gebe (was er richtig finde).

In seinem extra für den Band geschriebenem Beitrag Deutschlands Erinnerungskultur und der Terror der Geschichte bezieht sich A. Dirk Moses mehrfach auf den rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade. Dieser habe von der Angst vor der Wiederkehr einer gerade überwundenen Vergangenheit gesprochen und die deutsche intellektuelle Elite verhalte sich so, als sei sie besessen von dieser Angst. Seitdem Jürgen Habermas im ersten Historikerstreit „den neuen ethisch-politischen Imperativ verkündete: Du sollst den Holocaust nicht relativieren“ sei ein einschlägiges politisches „Skript“ entstanden und diese Elite jage im Namen dieses Imperativs bzw. des Skripts jenen Personen hinterher, die sie der Abweichung davon bezichtigen könne. Die deutsche politische Klasse sehe überall Bedrohungen: in der politischen Rechte, den Migranten und den postkolonialen Wissenschaftlern, denn sie sei mit der Pluralisierung und Globalisierung der deutschen Erinnerung (die mit der Pluralisierung der Gesellschaft einhergegangen sei) nicht klar gekommen. Deshalb meine diese Elite, in der neuerdings globalisierten Erinnerung eine Art der Holocaust-Relativierung feststellen zu können. Sie setzten dabei, so Moses, die „extreme Rechte mit Migranten und (post)kolonialen Intellektuellen gleich“ und bildeten dabei sogar, wenngleich ohne Absicht, eine „Gemeinschaft von weißen Deutschen gegen nicht-weiße Deutsche“. Abgesehen von diesem Nachtreten gegen die „überwiegend älteren männlichen Historiker“, denen er auch noch die Unkenntnis der englischsprachigen Forschungsliteratur und eine diffuse Angst vor dem Untergang ihrer eigenen Holocaustdeutungen unterstellt, bietet Mosesʼ Aufsatz keine neuen Erkenntnisse.

Er verweist zwar auf den Sammelband Ein Verbrechen ohne Namen, der eurozentrisch bleibe, mit Strohmann-Argumenten hantiere und der mit „Antisemitismus-Unterstellungen“ voll sei. Doch er nimmt sich nicht die Mühe, auf die dortigen Beiträge konkret einzugehen und die harsche Kritik zu beantworten. Stattdessen rekonstruiert Moses die Genese seines Katechismus-Essays und geht punktuell auf den Verlauf der Debatte im Jahr 2021 ein. Wiederholt sieht er seine These von der „priesterlichen[n] Rolle“ deutscher Historiker durch das Verhalten Einzelner bestätigt und zitiert ansonsten aus seinem privaten E-Mail-Verkehr mit Pianisten oder Opernintendanten (oder aus deren Artikeln), die ihm die Richtigkeit seiner Ansichten bestätigt hätten.

Abgesehen von den beiden Moses-Beiträgen beinhaltet der Band Historiker streiten noch vierzehn weitere Texte. Die allermeisten Autoren unterstützen im Großen und Ganzen die Thesen Mosesʼ, nur zwei Historiker (Yehuda Bauer und Omer Bartov) widersprechen ihm und in einigen Fällen haben die Beiträge kaum Berührungspunkte mit dem eigentlichen Thema. Die Philosophin Susan Neiman betrachtet in ihrer Einleitung die Singularitätsthese als überholtes und provinzielles Relikt aus den 1980ern, das von universalistisch, sprich offen und kosmopolitisch denkenden Personen abgelehnt werde.

Die Schriftstellerin Eva Menasse wiederum, deren letzter Roman Dunkelblum Fragen nach dem Umgang mit dem Erbe des Holocausts und dem provinziellen Fortleben antisemitischer Vorurteile erörterte, unterstellt Teilen der deutschen Medien und Öffentlichkeit ein „tugendbesoffenes Raunen“, welches sie u. a. im Kontext der „documenta 15“ oder des Umgangs mit der antisemitischen Boykottbewegung BDS wirken sieht. Doch es gibt auch substanzvolle Beiträge, die es nicht nur schaffen, die Debatte zu kontextualisieren, sondern auch, den Leser zum Nachdenken zu bringen.

In einem der besten Beiträge des Bandes zeichnet Sebastian Conrad die Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur seit dem II. Weltkrieg nach. Er weist überzeugend nach, dass seit 1990 eine Globalisierung der Erinnerungskulturen stattgefunden hat, wodurch zeitlich und geografisch entferntere Ereignisse wie eben der Kolonialismus und die Kolonialverbrechen stärker ins (deutsche und europäische) Bewusstsein drängten und nicht zuletzt die ethnisch pluralistischer gewordenen Gesellschaften auch nach einer vielfältigeren Erinnerungslandschaft und der Berücksichtigung bislang verdrängter Leiden verlangten. Zwar geht Conrad davon aus, dass die besondere Verantwortung Deutschlands für den Holocaust weiterhin einen zentralen Platz in der Erinnerung behalten wird. Zugleich meint er jedoch, dass diese Erinnerung vielfältiger und internationaler sein wird, dass koloniale Themen an Bedeutung zunehmen werden und dass „Opfernarrative“ sich sogar gegenseitig befruchten und verstärken können.

Sami Khatib setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit der Singularitätsthese auseinander, die er zwar nicht rundheraus ablehnt, aber sehr distanziert betrachtet. Ihn wundert vor allem das Festhalten vieler Personen an der These, was er auf politische Gründe zurückführt, denn historische bzw. historiographische gebe es seines Erachtens nicht. Dass der Holocaust gemäß der Singularitätsthese die Vernichtung als Selbstzweck angestrebt habe, sei kein Maßstab, denn „Intention und Zweckrationalität sind als Analysekriterien selbst historische Resultate westlicher Aufklärung“, meint Khatib. Da jedoch die Aufklärung selbst nicht ausschließlich rational, vielmehr auch irrationale Elemente beinhaltet habe, könnten solche Begrifflichkeiten nicht mehr herangezogen werden. Selbstredend wendet sich auch Khatib gegen den BDS-Beschluss des Bundestages oder die (international anerkannte) IHRA-Definition des Antisemitismus, die er allesamt politisch kontaminiert ansieht. Khatib, Medienphilosoph und Walter Benjamin-Kenner, plädiert stattdessen für die „Ablehnung der Idee reiner Opfer- und Täteridentitäten“, hinter welcher Forderung sich wohl sein Gedanke (Wunsch?) verbirgt, Israel endlich nicht als Staat der Holocaustopfer, sondern als einen Täterstaat benennen zu können.

Mit der „Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR befassen sich im Band zwei Beiträge, ein Interview mit dem Schriftsteller Ingo Schulze und ein kenntnisreicher Aufsatz Mario Keßlers über die Behandlung der Kolonialgeschichte im ostdeutschen Staat. Drei weitere Beiträge tangieren den Kern der Debatte nach Ansicht des Rezensenten eher peripher, so der Beitrag von Benjamin Zachariah („Geschichte besitzen“), Fabian Wolff („Tony Judt und die Folgen“) und Mischa Gabowitsch („[…] für eine Osterweiterung der deutschen Erinnerung“). Doch auch Jan Phillip Reemtsmas Ausführungen „Wehrmachtsausstellung“ stellen keine eindeutige Positionierung in der Debatte dar, auch wenn der Beitrag selbstverständlich den Komplex des Holocausts mit behandelt.

Yehuda Bauer und Omer Bartov vertreten im Band schließlich die Fraktion der Moses-Kritiker. Bauer unterzieht die fünf „Überzeugungen“ des Katechismus-Artikels einer zwar nicht besonders eingehenden, aber dennoch umsichtigen Prüfung. Vorneweg stellt der anerkannte Holocaustforscher fest, dass es sich bei dem Artikel um eine Mischung von Tatsachen und realitätsfremden Behauptungen handelt. Zwar sei die NS-Politik in der Ukraine kolonial geprägt gewesen, doch könne man etwa die Konzentrationslager in Polen nicht mit dem Kolonialismus erklären oder in eine plausible Verbindung bringen. Bauer betont die Besonderheit des Antisemitismus und (sehr knapp und wenig überzeugend) die Richtigkeit der These Dan Diners vom Holocaust als „Zivilisationsbruch“. Der Kritik Mosesʼ an der Haltung der deutschen Regierung gegenüber Israel hält er entgegen, dass zwar offiziell stets die Rede von der deutschen „Staatsräson“ sei, die deutschen Regierungen (wie auch die meisten deutschen Medien) dennoch nicht an Kritik an den israelischen Regierungen sparten. Auf die Einlassung von Moses, Antizionismus werde in Deutschland gleich als Antisemitismus (miss-) verstanden, entgegnet Bauer mit der Gegenkritik, sein Kontrahent verwende einen undifferenzierten Zionismusbegriff (denn dieses Phänomen sei sehr vielschichtig) und er leiste damit einer antisemitischen Einstellung Vorschub. Die deutschen Medien seien also, so Bauers Fazit, offen und folgten keinem Katechismus, und er wünsche sich, dass dies auch so bleibe.

Für Omer Bartov hingegen hat die aktuelle Debatte mit Geschichte oder Geschichtsschreibung nichts zu tun. Der Artikel von Moses habe die Botschaft, die Ereignisse der 1940er Jahre seien eine Blockade und ein Hindernis für unseren Blick auf die Geschichte und wir sollten stattdessen länger zurückblicken, „damit wir endlich vorwärtsgehen können“. Obwohl der Katechismus-Artikel sehr schrille Töne habe, spreche er auch zwei wichtige Aspekte an, so Deutschlands Haltung gegenüber Israel und die Notwendigkeit einer veränderten Erinnerungskultur aufgrund der multikulturellen Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sei. Bartov widerspricht Moses auch in der Hinsicht, dass eine Abkehr von einer Gedenkkultur, in deren Zentrum der Holocaust steht, zu einer anderen Israelpolitik führen würde.

Als auf den letzten Beitrag des vorliegenden Sammelbandes, der sich sichtlich um Harmonie bemüht, sei schließlich Michael Wildts Essay Historikerstreit 1.0, 2.0 hervorgehoben. Der Autor lässt, wie es der Titel andeutet, den Streit der 1980er Jahre Revue passieren, geht auf die deutsche Erinnerungskultur seit 1990 ein und bezieht sich auch auf die aktuelle Debatte. Den Artikel von Moses stellt er zwar vor, doch analysiert er ihn nicht. Dafür setzt sich Wildt stärker mit der „Konkurrenz“ auseinander, d. h. dem schmalen Bändchen von Friedländer et al. Wildts salomonisches Fazit betont, dass das heutige Deutschland ohne eine Kenntnis des Nationalsozialismus und des Holocausts nicht zu verstehen sei. Zugleich unterstreicht er auch, wie wichtig es sei, die Pluralität der deutschen Gesellschaft und die damit einhergehenden Veränderungen in der Erinnerungskultur einzugestehen, denn die Geschichten, die Gedächtnisse und die Traumata der Migrantinnen und Migranten könnten in einem ins Zentrum gestellten Holocaustgedenken nicht aufgehen. Laut Wildt können die unterschiedlichen Erinnerungsnarrativen aber auch nicht zusammenhanglos nebeneinanderstehen, sondern ihre Existenz führe unweigerlich zu „Amalgamierungen, Überschneidungen, Verflechtungen“.

5.

Im Mai 2022, ein Jahr nach dem Artikel von A. Dirk Moses, erschien, von der breiten Öffentlichkeit kaum bemerkt, ein Buch der Journalistin Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Mit großer Vorsicht, Sensibilität und Empathie erforscht sie unser (und ihr eigenes) Erinnern, fragt sich (und den Leser), wie ein inklusives und solidarisches Erinnern möglich sein könne und ob es denn überhaupt anthropologisch möglich sei, Schmerz, den eigenen und die vielen Arten fremden Schmerzes, auf eine gleiche Weise nachzuempfinden. Sie schließt ihr Buch, nachdem sie sich mit vielfältigen Formen des Erinnerns an den Holocaust, die deutschen Kolonialverbrechen, das erlittene (jüdische und nichtjüdische) Leid im Baltikum und in Palästina auseinandergesetzt hatte, mit der Forderung nach einer „Kultur der Solidarität“. Sie soll ein „anderes Weltverständnis“ ermöglichen, eines, „das die Ökonomien der Empathie überwindet und die kolonialen Verletzungen des Gemeinsamen zu reparieren sucht [… in] eine[r] Welt, in der es keine Hierarchie von Leiderfahrung mehr gibt und keinen Schmerz, der nicht zählt“. Die Journalistin gesteht ein, sie wisse nicht, ob „die Spezifik der Judenvernichtung […] in diesem radikalen Humanismus“ ausreichend Platz bekommen würde. Selbstverständlich droht aber in einem großen Einerlei jede Spezifik unterzugehen, ohne dass Sensibilitäten für besondere Kontexte gewahrt würden. Nichts belegt dies mehr als die Tatsache, dass Charlotte Wiedemann (über) ihr sicherlich gut gemeintes (aber Vieles vereinfachendes) Buch in Israel im Rahmen des Goethe-Instituts just am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht diskutieren wollte. Erst ein Proteststurm konnte dies verhindern.

Im Herbst 2022 publizierte ein weiterer Journalist, Arn Strohmeyer, ein Buch über die deutsch-israelischen Beziehungen: Falsche Loyalitäten. Strohmeyer wirft darin der deutschen Politik vor, aus dem Holocaust die Lehre gezogen zu haben, den jüdischen Staat, den Strohmeyer durchaus mal als „Apartheidstaat“ diffamiert, vorbehaltlos zu unterstützen. Der deutsche Staat sei damit zum Gefangenen des Zionismus geworden, der die deutschen Narrative über den Antisemitismus, den Palästina-Konflikt, die Erinnerungspolitik usw. bestimme.

Was haben nun, das gilt es abschließend zu fragen, die beiden zuletzt erwähnten Bücher, die im Mittelpunkt dieser Rezension stehenden beiden Sammelbände und die Kontroversen des Jahres 2022 über „documenta15“ miteinander zu tun?

In den letzten Jahren haben sich die Grenzen des Diskurses über Israel und den Holocaust zweifellos verschoben und all die erwähnten Phänomene, Bücher, Beiträge, Skandale und Diskurse bilden Teile dieser Verschiebung, sind miteinander verzahnt und verflochten. Was vor zwanzig Jahren (man denke an die Hohmann- oder Möllemann-Debatten des Jahres 2002) von einem gesellschaftlichen Konsens abgewehrt wurde, bröckelt mittlerweile zusehends. Das verdeutlichen die Diskussionen im Vorfeld und die Ereignisse auf der Kunstausstellung in Kassel, die in ihrer Gesamtheit einen seit 1945 wohl noch nicht da gewesenen (und beschämenden) Dammbruch im Bereich des Antisemitischen bedeuteten. (Dies ist auch dann festzustellen, wenn die umstrittenen Kunstwerke historisch kontextualisiert werden und ihnen auf die Art eine Art „Kulturrabatt“ gewährt wird: Antisemitisch bleiben sie dennoch). Aber auch die wiederholt auftretenden Fälle antiisraelischer Hetze, antisemitischer Propaganda und von Personen, die in den öffentlich-rechtlichen Medien mit solchen Einstellungen in Verbindung gebracht werden, zeugen von dieser Diskursverschiebung.

Eine der Grundannahmen der aktuellen Kontroverse ist die gewandelte, ethnisch und religiös pluralistischer gewordene deutsche Gesellschaft, in der sich Viele mit der aktuellen Erinnerungspolitik, in deren Zentrum das Gedenken an den Holocaust steht, angeblich nicht identifizieren können. Eine empirische Untermauerung dieser Annahme aber, die belastbares Material liefern (bzw. auf verlässliche Daten aufgebaut sein) und verlässliche Erkenntnisse erbringen müsste, fehlt in der Diskussion bislang. Die Annahme unterliegt zudem jener Fehlwahrnehmung, die etwa Rogers Brubaker „groupism“ nennt, d. h. der Konstruktion einheitlich gedachter Gruppen mit uniformer Einstellung. Im Klartext: Kann man automatisch davon ausgehen, dass eine migrantische persönliche Biografie die Identifikation mit der deutschen Erinnerungskultur verhindere? Selbstverständlich nicht – und bereits dies macht offensichtlich, dass die Vertreter der postkolonialistischen Theorie, die solches annehmen, selbst paternalistisch und somit kolonisierend vorgehen.

Eine weitere Annahme der Kontroverse geht davon aus, dass der zentrale Stellenwert des Gedenkens an den Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur jede andere Form und jeden anderen Inhalt (etwa an die Kolonialverbrechen oder die Nakba) verunmöglichen würde. Hierbei scheint übersehen zu werden, dass auch das aktuelle Gedenken ein Ergebnis jahrzehntelangen Bemühens ist, dass Gedenken stets perpetuiert wird und damit nie einen endgültigen Abschluss finden kann. Jede Generation erfindet die ihr adäquat erscheinende Form der Erinnerung neu und füllt sie mit ihren Inhalten. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind vor diesem Hintergrund zu verstehen, stellen eine seit einigen Jahren andauernde Phase dar und in ihnen manifestieren sich einige Strömungen der deutschen Gesellschaft. Hierzu gehören sodann auch die Positionen der Historiker, die Teil dieser Auseinandersetzungen sind, diese aber auch stark vorantreiben. Die Richtung, die schlussendlich die Überhand gewinnen wird, scheint für den Verfasser dieser Zeilen noch nicht ausgemacht zu sein. Die aktuellen Kontroversen weisen jedenfalls über den engen fachwissenschaftlichen Rahmen hinaus und handeln auch identitätspolitische Fragen aus.

In den fachwissenschaftlichen Grenzen weht den Verfechtern einer Parallelisierung der Kolonialverbrechen mit dem Holocaust allerdings ein recht scharfer Wind entgegen, dem sie kaum ernsthafte Argumente gegenübergestellt haben. Auf die durchschlagende Kritik Robert Gerwarths und Stefan Malinowskis (2007) konnten Zimmerer und seine Anhänger keine ebenbürtige Antwort geben. Der Konsens, dass der Holocaust ein singuläres respektive präzedenzloses Ereignis in der Geschichte war, ist nach Meinung des Rezensenten mit (ernsthaften) wissenschaftlichen Argumenten nicht wirklich erschüttert worden. Angemerkt sei hierzu, was der Rezensent in der Debatte bisher vermisst hat, dass die Aussage über die Beispiellosigkeit des Holocausts sich bereits in der berühmten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes findet, d. h. vor dem ersten Historikerstreit, auf den Moses und die anderen Historiker sie zurückführen. In einem sehr lesenswerten Aufsatz arbeitete die Münchener Historikerin Andrea Löw zudem bereits 2012 heraus, dass auch schon die Insassen der polnischen Ghettos in den 1940er Jahren die Verbrechen, deren Opfer sie wurden, als welthistorisch singulär und beispielhaft erlebten.

Es greift also zu kurz, wenn Moses und Neiman die tiefergehende Bedeutung der Problemkomplexes „Singularität“ lediglich als (mittlerweile überholtes) Ergebnis des Historikerstreits 1986/87 ausgeben. Geradezu hanebüchen ist in diesem Kontext schließlich, wenn Rothberg und Zimmerer behaupten, es gäbe ein Tabu, ein Verbot des Vergleichs. Schließlich liegen Dutzende von Publikationen vor, die den Holocaust sei es mit dem Stalinismus, dem Mord an den Indianern in den USA oder der Nakba in eine (verunglückte, irreführende) Parallele setzen. Es ist ebenfalls auffällig, welch große Israelobsession weite Teile des Postkolonialismus und der Kritiker der deutschen Erinnerungskultur beherrscht. Diese Besessenheit geht soweit, Israel (in Verkennung der historischen Tatsachen) nicht nur „Siedlerkolonialismus“ vorzuwerfen und den Staat als „Apartheidstaat“ zu diffamieren, sondern dem Staat eine „Militärdiktatur“ (Moses) vorzuwerfen. Folgerichtig hat man dann nichts dagegen, wenn jemand den Ausbruch von Terroristen aus einem Gefängnis gut findet oder Israelhass verbreitet und meint offenbar, auch solche Personen gehörten in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Das Ziel solcher Obsession scheint offensichtlich: Indem Israel, der als Staat wie jeder andere fehlerhaft ist und in dem das Minderheitenleben der Palästinenser unmöglich ist, weil der Status „Minderheitler“ universell problematisch ist, des Kolonialismus und der Unterdrückung bezichtigt wird, soll der Staat delegitimiert werden. Ein undemokratischer Willkürstaat, dessen Entstehung zudem als Ergebnis kolonialen Imperialismusʼ ausgegeben wird, habe kein Recht zu existieren, so die Botschaft. Es ist also nicht verwunderlich, wenn und dass viele Protagonisten der aktuellen Debatte Befürworter einer „antizionistischen Israelkritik“ sind, da sich unter diesem Deckmantel ihr Antisemitismus besser verstecken lässt. Selbstredend sprechen sich auch viele dieser Protagonisten gegen den BDS-Beschluss des Bundestages aus, als ob es ein Menschenrecht gäbe darauf, dass Personen, die Juden und den jüdischen Staat boykottieren, gerade in Deutschland von staatlichen Institutionen unterstützt werden müss(t)en. Dabei hat nicht zuletzt die „documenta 15“ einmal mehr klar gemacht, dass, wo BDS in der Nähe ist, antisemitische Vorurteile und Propaganda immer mit im Boot sind.

Berlin war 2022 Veranstaltungsort von zwei denkwürdigen Konferenzen: Im Juni fand „Hijacking Memory“ statt, auf der zu einem großen Teil Personen vortrugen, die man im Block der Mosesunterstützer verorten kann (gewiss kann man nicht alle Personen einem der beiden Blöcke zuordnen und mit Volkhard Knigge oder Omer Bartov waren auch Kritiker vertreten). Anfang Dezember veranstalteten das „Tikvah“-Institut und die Friedrich-Naumann-Stiftung eine Tagung zum Thema Antisemitismus in der Kunst und auf der Documenta. Die Teilnehmer kamen nun aus dem anderen Lager, dem der Kritiker, wobei die Veranstalter mehrfach betonten, sie hätten durchaus Anhänger der postkolonialen Theorie eingeladen, doch hätten diese ihre Teilnahme abgesagt. Die Parallelität der Konferenzen und ihrer Teilnehmer offenbart somit eine Sprachlosigkeit und eine Diskursverweigerung, die zum einen den Gebrauch des Ausdrucks „kalter Bürgerkrieg“ am Anfang dieser Ausführungen legitimieren. Zum anderen legen sie aber nahe, dass sich das Ergebnis der gegenwärtigen Debatten erst im Abstand von einigen Jahren herauskristallisieren wird und derzeit kaum vorauszusehen ist, welches Narrativ die Oberhand behalten wird.

Festzuhalten ist jedenfalls, dass die Debatte wissenschaftlich bislang nicht besonders fruchtbar war. Aber auch, dass gegenwärtig Forderungen nach einer radikalen Wende in der deutschen Erinnerungskultur nicht mehr nur von den extremen Rechten von der AfD, sondern auch auf einer links-progressiven Seite erhoben werden. Diese erstrebt mit ihrem Verlangen nach einem Ende der Singularitätsthese erneut eine Einebnung von etwas Jüdischem, der Erinnerung an den Holocaust als Menschheitsverbrechen, also gewissermaßen die Unsichtbarmachung von Juden. Auch das gab es bereits in der Geschichte. Auf der intellektuellen Mikroebene des Individuums, in der Bildungsarbeit etwa, bleibt somit vorerst nichts anderes übrig, als die Fortsetzung des Kampfes gegen antisemitische Narrative, Vorurteile und Verschwörungstheorien. Und ihre Benennung als solche – solang dies möglich ist.

Titelbild

Michael Wildt / Susan Neiman (Hg.): Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2022.
366 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783549100509

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Dan Diner / Jürgen Habermas: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
90 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783406784491

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