Literaturnobelpreis vor 50 Jahren an Heinrich Böll: Hinweise auch aus dem Archiv von literaturkritik.de

Vor 105 Jahren, am 21. Dezember 1917, wurde Heinrich Böll geboren. Vor 50 Jahren, am 10. Dezember 1972, wurde der Literaturnobelpreis in Stockholm an ihn verliehen – „für eine Dichtung“, so die Jury, „die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat“. Böll war der erste deutsche Autor, der seit dem Ende des NS-Regimes in Deutschland mit diesem Preis geehrt wurde. Fast zwei Monate vorher, am 19. Oktober, war das öffentlich angekündigt worden. Die Nachricht aus Stockholm erreichte Böll, unterwegs mit seiner Frau und seinem Sohn auf einer Reise nach Israel, in Athen.

Die Erinnerung daran war für manche ein Anlass, Heinrich Bölls Aktualität in der gegenwärtigen Kriegszeit hervorzuheben. In der Süddeutschen Zeitung verglich Heribert Prantl den damals „engagierten Katholik“ mit der heutigen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Annette Kurschus und zitierte diese dabei mit den Sätzen (aus einem „Gastbeitrag“ der F.A.Z. im Juni 2022): „Das Einzige, was gewonnen werden kann und wiedergewonnen werden muss, ist der Friede.“ Und: „So unzweifelhaft und eindeutig der verbrecherische Angriff der russischen Seite zuzuschreiben ist, so untröstlich müssen wir Christinnen und Christen sein und bleiben über alle Verletzten, über jeden Toten, über jede verwitwete Mutter, über jedes verwaiste Kind auf beiden Seiten. Das sind wir Gott und unserer eigenen Humanität schuldig.“

In den Versen, mit denen kürzlich Simone Frieling in ihrem Buch Künstler-Köpfe ihren Böll-Scherenschnitt ergänzte, stehen die Zeilen:

Mit hundert Zungen
fordert er
Frieden,
Gerechtigkeit
und Freiheit.

Zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll am 21. Dezember 2017 sind neben einem Themenschwerpunkt über ihn in der damaligen Ausgabe von literaturkritik.de einige von Dieter Lamping herausgegebene Tagungsbeiträge in unserem Verlag LiteraturWissenschaft.de erschienen. In der Vorbemerkung zu dem Themenschwerpunkt stehen Sätze zur erneuten Aktualität des Autors, die heute weiterhin gelten:

Die Themen, die dieses Musterbeispiel eines „engagierten Intellektuellen“ und Schriftstellers vor allem bewegten, sind gegenwärtig jedenfalls von traurig neuer Aktualität: Krieg, Terror, Flucht und Vertreibung, soziale Ungleichheit oder das inhumane und humane Potential von Religionen.

Ralf Schnell, Mitherausgeber der Kölner Ausgabe der Werke von Heinrich Böll und Autor des Buches Heinrich Böll und die Deutschen (2017), hob in seinem Beitrag zu dem Tagungsband hervor:

Man nimmt wahr, dass die Erfahrung des Krieges die Grunderfahrung Heinrich Bölls wurde, mit allen Konsequenzen für seine späteres Werk. Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte Böll „das Gefühl, verantwortlich zu sein“ – seit jenem „Augenblick, als die Wiederaufrüstung propagiert wurde“.

Zusammen mit dem Themenschwerpunkt und dem Tagungsband erschien zu Bölls 100. Geburtstag online als Sonderausgabe von literaturkritik.de und bald darauf auch gedruckt eine zuerst 1985 veröffentlichte, längst vergriffene Sammlung von Rezensionen und Essays Marcel Reich-Ranickis über ihn als erweiterte Neuausgabe. Reich-Ranicki nannte Böll hier im Blick auf seine Erzählung Der Zug war pünktlich einen „Dichter des Mitleids. Böll zeigt die ganze Härte und Grausamkeit der Zustände im Krieg und in der Nachkriegszeit oder läßt sie spüren“. Die Ausgabe enthält auch einen Artikel Reich-Ranickis aus der ZEIT vom 11. Mai 1973 über Heinrich Bölls „Nobelvorlesung“ in Stockholm einige Monate (am 2. Mai 1973) nach der Verleihung des Nobelpreises. Wir haben sie in der Dezember-Ausgabe 2022 von literaturkritik.de erneut veröffentlicht. Vorher sind dort folgende Beiträge über Böll erschienen:

Das Irland von einst.
Zu einer Neuausgabe von Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“
Von Herbert Fuchs
Ausgabe 11-2022

Wir sind besetzt!
Eine packende Zusammenstellung dokumentiert Äußerungen und Eindrücke Heinrich Bölls, der in Prag als unmittelbarer Augenzeuge die ersten Tage der gewaltsamen Invasion im August 1968 miterlebte
Von Volker Strebel
Ausgabe 09-2018

„und was es sonst noch an Thomassen gibt“.
Eine Randbemerkung zur Lektüre in Heinrich Bölls Roman „Fürsorgliche Belagerung“
Von Dieter Lamping
Ausgabe 03-2018

Marcel Reich-Ranicki über Heinrich Böll: eine von Thomas Anz erweiterte und kommentierte Neuausgabe seiner Rezensionen, Essays und Erinnerungen
Ausgabe 01-2018

Von Dieter Lamping herausgegebene Essays über Heinrich Böll plädieren für eine erneute Lektüre des einst weltweit bekannten Literaturnobelpreisträgers
Ausgabe 01-2018

Das Forum „Freipass“ der Günter und Ute Grass Stiftung widmet einen Themenschwerpunkt des zweiten Bandes Heinrich Böll
Ausgabe 01-2018

Dichter des Mitleids.
Vorbemerkung zum Themenschwerpunkt „Heinrich Böll“ in dieser Ausgabe
Von Thomas Anz
Ausgabe 12-2017

Moralische Instanz oder Staatsfeind Nr. 1?
Jochen Schubert schildert den Dichter und Zeitgenossen Heinrich Böll
Von Karl-Josef Müller
Ausgabe 12-2017

„Wie schön, wenn man hübsche Feuilletons schreiben und ein menschliches Leben leben könnte“.
Heinrich Bölls Kriegstagebücher aus den Jahren 1943 bis 1945 „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“
Von Karl-Josef Müller
Ausgabe 12-2017

Von schlaflosen Eulen, Puppen für Jungen und begrabenen Hunden.
Die Dezemberausgabe widmet sich der Kinder- und Jugendliteratur, dem deutschsprachigen Film, Heinrich Böll und noch vielem mehr
Von Stefan Jäger
Ausgabe 12-2017

Mehr als ein Dichter.
Heinrich Böll zum 60. Geburtstag – Ein Beitrag aus dem Jahr 1977
Von Marcel Reich-Ranicki
Ausgabe 12-2017

Heinrich Böll und seine ostdeutschen Leser.
Ein Rückblick zum 100. Geburtstag des Nobelpreisträgers
Von Manfred Orlick
Ausgabe 12-2017

„Froh über jeden, dem die Flucht gelingt“.
Heinrich Böll als Politiker – und die Verwirrung der Stasi
Von Sven Hanuschek
Ausgabe 12-2017

Zumutung ist ein schönes Wort.
Nach fünfzig Jahren wieder aufgetaucht: ein unbekannter Text von Günter Grass über Heinrich Böll
Von Uwe Neumann
Ausgabe 12-2017

Zeit und Zeitgenossenschaft.
Ein Essay zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll
Von Ralf Schnell
Ausgabe 12-2017

Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit.
Randbemerkungen zu einem großen Autor
Von Dieter Lamping
Ausgabe 12-2017

Böll wird diffamiert.
Die Kampagne gegen angebliche „Sympathisanten“ der RAF lenkt von dem notwendigen Kampf gegen den Terrorismus ab – Eine Intervention im Oktober 1977
Von Marcel Reich-Ranicki
Ausgabe 10-2017

Heinrich Bölls Aktualität.
Zum 30. Todestag des Kölner Literaturnobelpreisträgers
Von Dieter Kaltwasser
Ausgabe 08-2015

Heinrich Bölls jüngerer Bruder.
Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Dieter Forte am 14. Juni
Von Peter Mohr
Ausgabe 07-2015

Kindheit als Schicksal und Inspiration.
Über Christian Linders detailversessene Böll-Biografie „Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils“
Von Norbert Kuge
Ausgabe 01-2010

Die leise Stimme des Clowns.
Zu einem Sammelband über den „anderen Deutschen“ Heinrich Böll
Von Daniele Vecchiato
Ausgabe 11-2008

Beinah ein „Heiligenroman“.
Heinrich Bölls erster Roman „Kreuz ohne Liebe“ scheitert zum Wohle seines Autors
Von H.-Georg Lützenkirchen
Ausgabe 01-2004

Warten unter Barbaren.
Bölls Briefe aus dem Krieg 1939-1945, ausgewählt von Jochen Schubert
Von Tobias Temming
Ausgabe 06-2003

Die Unschuld des Narren.
„Ansichten eines Clowns“ von Heinrich Böll
Von Olaf Reins
Ausgabe 12-2002

Arbeiten und beten.
Heinrich Bölls „Briefe aus dem Krieg“
Von Heribert Hoven
Ausgabe 01-2002

Heinrich Böll als Moralist – revisited.
Der amerikanische Germanist Lawrence F. Glatz über Verbrechen und Gewalt in Heinrich Bölls Prosawerk
Von Joachim Linder
Ausgabe 12-2000

Thomas Anz