Kämpfe um die Moderne

Hinweise zu einem nach wie vor umstrittenen Begriff und zu neueren Beiträgen der Forschung

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottfried Benn, der Nationalsozialismus und die ästhetische Moderne

Als Hitler im September 1934 auf dem Nürnberger Reichsparteitag von der Gefahr sprach, die der deutschen Kunst durch "Kubisten, Futuristen, Dadaisten und so weiter" drohe, beendete er eine kunstpolitische Auseinandersetzung über die ästhetische Moderne, die auch in nationalsozialistischen Kreisen eine Zeit lang offener war, als es heute bekannt ist. Noch wenige Monate zuvor hatte sich Alfred Rosenberg darüber beklagt, dass sein verhasster Konkurrent Joseph Goebbels die Schirmherrschaft über eine "futuristische Ausstellung von Berliner Kunstbolschewisten" übernommen hatte. Es sei ihm sicher nicht bekannt gewesen, dass derjenige, der diese Ausstellung eröffnete, ein viele Jahre lang in Berlin tätig gewesener 'kunstbolschewistischer' Redner aus der Gruppe "Der Sturm" war. Gemeint war Rudolf Blümner, der als Theoretiker des expressionistischen "Sturm"-Kreises eine bedeutende Rolle gespielt hatte. 1933 gehörte er wie Gottfried Benn zu jener kleinen Minderheit unter den Intellektuellen, die versuchte, die Kunst der Moderne in das nationalsozialistische Deutschland hinüberzuretten. "Die Idee des Futurismus", so Blümner, "und also der gesamten ihm so nah verwandten radikalen Kunst Europas war in völliger Übereinstimmung mit der Idee des Faschismus".

Diese Behauptung Blümners entsprach Benns Rede, mit der er als Stellvertreter von Hanns Johst am 29. März 1934, am Abend nach der Ausstellungseröffnung, bei einem offiziellen Empfang den prominentesten Futuristen Italiens begrüßte: Filippo Tommaso Marinetti. "Wir freuen uns [...], daß sie nach Deutschland gekommen sind in einer Zeit, in der das neue Reich entsteht, an dem mitzuarbeiten der Führer, den wir alle ausnahmslos bewundern, auch die Schriftsteller berufen hat".

Eine "gespenstische Fete" nannte Peter Demetz die von ihm in einem Dokumentenband zum Futurismus rekonstruierte Feier. Die Versammelten passten ganz und gar nicht zusammen: Marinetti und der sizilianische Futurist Ruggero Vasari; eine Gruppe von NS-Funktionären, die dem "Völkischen Beobachter" nahe stand und gegen die "undeutschen Entartungen moderner Asphaltliteratur" zu Felde zog; eine Gegengruppe nationalsozialistischer Kulturrevolutionäre, die die Kunst der Moderne gegen den völkischen Heimatkitsch verteidigten. Auf sie, die in der von Goebbels bis 1935 geduldeten Zeitschrift "Die Kunst der Nation" ihr Forum hatten, setzten Benn und Blümner (der seine jüdische Frau zu Hause gelassen hatte) einige Hoffnungen. Anwesend war auch Kurt Schwitters, der zu später Stunde sein Dada-Gedicht "Anna Blume" rezitierte.

Worum es bei der umstrittenen Ausstellung und an diesem merkwürdigen Abend vor allem ging, dürfte den Versammelten bewusst gewesen sein: weniger um den Futurismus als um die Überlebenschancen der ästhetischen Moderne in der NS-Diktatur. Dass sie keine hatte, war eigentlich schon damals klar. Die Behauptung über die Verwandtschaft der deutschen Moderne mit dem italienischen Futurismus war eine dem kunstpolitischen Kalkül entsprungene Halbwahrheit.

Der Rede Benns über Marinetti war wenige Monate vorher, in einem Zeitungsartikel vom 5. November 1933, sein "Bekenntnis zum Expressionismus" vorangegangen. Auch dieser Artikel steht ganz in den Kontexten des noch offenen Machtkampfes zwischen Rosenberg und Goebbels um die moderne Kunst. Ausdrücklich bezieht sich der Artikel auf ein Pamphlet des Balladendichters Borries von Münchhausen gegen den Expressionismus. Ein "berühmter deutscher Dichter", schreibt Benn, "steht nicht an, sich dahin zu äußern, daß Deserteure, Zuchthäusler und Verbrecher das Milieu dieser Generation bildeten, daß sie mit enormem Spektakel ihre Ware heraufgetrieben hätte wie betrügerische Börsianer eine faule Aktie, er nennt sie von einer völlig zuchtlosen Unanständigkeit und er führt Namen an und darunter auch den meinen". Der Artikel beginnt mit einer achtungsvollen Verbeugung vor der "Führung des neuen Deutschlands". Ihr Interesse an Fragen der Kunst sei "außerordentlich": "Ihre ersten Geister sind es, die sich darüber unterhalten, ob in der Malerei Barlach und Nolde als deutsche Meister gelten dürfen".

Wie Joachim Dyck in seiner 2006 erschienenen Monografie "Der Zeitzeuge Gottfried Benn" berichtet, gab es in der Tat Gerüchte, Goebbels habe Bilder von Emil Nolde in seiner Wohnung hängen und der Kultusminister Bernhard Rust halte Nolde für den größten lebenden deutschen Maler. Hitler selbst suche die Versöhnung mit Ernst Barlach. Führende Kreise des NSD-Studentenbundes opponierten damals gegen die "Gartenlaubenkünstler und Literaturmaler" und wehrten sich gegen die Diffamierung von Nolde, Barlach, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirschner, Otto Müller und Karl Schmidt-Rottluff. Am 29. Juni 1933 fand in der Universität eine Kundgebung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes unter dem Titel "Jugend kämpft für deutsche Kunst" statt. Ein damals noch unbekannter Autor namens Wolfgang Köppen (er schrieb sich später Koeppen) veröffentlichte im Juli-Heft der Zeitschrift "Melos" den Aufsatz "Die Jugend und die schönen Künste", berichtete von der Kundgebung und schloss mit der Hoffnung, "dass der politische Kampf der Jugend jetzt auch zu einem Kampf für die Freiheit der Kunst wird". Rosenberg hingegen attackierte die Studenten im "Völkischen Beobachter": "Sie versuchen, all jene, welche von der vergangenen Ära hochgelobt und von allen Galerien des untergegangenen Systems gekauft wurden, als die eigentlichen Revolutionäre unserer Bewegung auszugeben!"

Benns Bekenntnis zum Expressionismus war, in diesen Kontexten gelesen, ein Versuch, auf die nationalsozialistische Kunstpolitik Einfluss zu nehmen. Von der "Führung" wünschte Benn sich hier ein ähnliche Überwindung der bestehenden Ressentiments gegenüber der Moderne wie zuvor in seiner berüchtigten Rundfunkrede vom 24. April 1933, "Der neue Staat und die Intellektuellen", von den Repräsentanten der Moderne gegenüber dem NS-Regime. "Der neue Staat ist gegen die Intellektuellen entstanden", konstatierte Benn hier und appellierte an die Intellektuellen "und in ihrem Namen", es nicht mehr als "intellektuelle Ehre" zu betrachten, "die Revolution vom Nationalen her als unmoralisch, wüst, gegen den Sinn der Geschichte gerichtet anzusehen".

Klaus Mann reagierte prompt darauf, und er war es dann 1937 auch, der mit seinem Beitrag "Gottfried Benn. Die Geschichte einer Verirrung" die Expressionismusdebatte in der Zeitschrift "Das Wort" eröffnete. Für ihn war der "Fall" Benn singulär, "weil es sich bei ihm um den einzigen - den einzigen! - deutschen Schriftsteller von Rang handelt, der sich allen Ernstes und mit einiger geistiger Konsequenz in den Nationalsozialismus verirrt hat". Der in diesem Zeitschriftenheft daran gleich anschließende Beitrag von Bernhard Ziegler (alias Alfred Kurella) wertete den Fall hingegen als symptomatisch für den ganzen Expressionismus. Heute lasse sich "klar erkennen, wes Geistes Kind der Expressionismus war, und wohin dieser Geist, ganz befolgt, führt: in den Faschismus".

Einige vormals dem Expressionismus nahe stehende Autoren zeigten sich ihm in ihren Repliken weiterhin verbunden. Herwarth Walden kehrte Zieglers These in ihr Gegenteil um: "Gegen den Expressionismus kämpfte alles, was später zum Faschismus führte". Und wie Walden machte Ernst Bloch auf eine Koinzidenz zweier Ereignisse aufmerksam, deren kulturpolitische Symbolkraft erheblich ist. Bloch nannte den Artikel Zieglers einen "chronologischen Unfall". Denn nur wenige Wochen vor dieser marxistischen Aburteilung des Expressionismus war in München die Ausstellung "Entartete Kunst" mit vornehmlich expressionistischen Werken eröffnet worden. Die "Übereinstimmung, in der sich Ziegler, zu seinem Schreck, mit Hitler befand", wertete Bloch als tödliches "Mißgeschick". Sie war mehr als ein Missgeschick. Denn sogar die 'Argumente', mit denen beide Seiten, Nationalsozialisten wie Kommunisten, den Expressionismus disqualifizierten, standen sich nahe. Schon Georg Lukács hatte den Expressionismus als "hysterisch" pathologisiert. Ziegler entdeckte beim Wiederlesen eines Prosatextes von Benn Ähnlichkeiten mit dem "Gefasel eines Paranoikers". In München wurden neben die Bilder der Expressionisten zum Beweis ihrer pathologischen "Entartung" Bilder von 'Geisteskranken' gehängt.

Der Expressionismus-Streit innerhalb der orthodoxen und liberalen Linken von 1937 ließ später vergessen, dass es schon 1933 eine Expressionismus-Debatte innerhalb der Rechten gab. In beiden Debatten stand Gottfried Benn im Mittelpunkt.

Was sich nach 1933 in den Kämpfen um den Expressionismus abspielte, radikalisierte Kämpfe um die ästhetische Moderne, die freilich älter waren, so alt wie die Moderne selbst. Zeitgleich mit den naturalistischen Anfängen der literarischen Moderne formierte sich eine ästhetisch und oft auch politisch konservative Front gegen die Moderne. Um 1900 vermischten und ergänzten sich im Kampf gegen die "kranke", "entartete" Moderne Argumente sozialistischer, sozialdarwinistischer, rassistischer, heimatkunstbewegter, neoklassizistischer und völkisch-nationaler Provenienz.

Kampf als Kennzeichen der Moderne

Um 1900 wird 'Kampf' zum Kennzeichen der Moderne, im gesellschaftlichen wie im ästhetischen Bereich. Wo Moderne mit dynamischer Fortschrittsorientierung gleichgesetzt wird und Kampf als treibende Kraft evolutionärer oder revolutionärer Prozesse erscheint, müssen Moderne und Kampf eng miteinander verknüpft sein. Bezeichnenderweise münden schon jene Thesen Eugen Wolffs, in denen sich der früheste Beleg für das Substantiv 'die Moderne' findet, in den Appell, "dass alle gleichstrebenden Geister, fern aller Cliquen- oder auch nur Schulbildung, zu gemeinsamem Kampfe zusammentreten".

Die Moderne in Kunst und Literatur teilte das kämpferische, avantgardistische Selbstbewusstsein mit ihren Gegnern. Dass auch die Gegner der 'modernen' Kunst und Literatur sich keineswegs antimodern in Szene setzen, sondern ihrerseits Modernität für sich beanspruchten, wirft ein bezeichnendes Licht auf das hohe Prestige, doch auch auf die konträre Verwendung des Attributs 'modern' um 1900.

Es gibt zahllose Dokumente, die belegen, wie umkämpft die Begriffe 'modern', 'fortschrittlich' oder 'neu' damals waren. In dem Interpretationskampf um diese Attribute artikulieren sich die Konkurrenz-, Abgrenzungs- und Profilierungskämpfe gegnerischer Fraktionen im intellektuellen Kräftefeld vor und nach der Jahrhundertwende. Bei aller Vieldeutigkeit sind mit dem Begriff 'Moderne' im späten 19. und im gesamten 20. Jahrhundert vor allem zwei Phänomene angesprochen, die einander partiell entgegengesetzt, doch zugleich spannungsvoll aufeinander bezogen sind.

,Moderne' meint zum einen gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, wie sie von der Modernisierungsforschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften beschrieben und analysiert wurden. ,Moderne' in diesem Sinn meint soziokulturelle Entwicklungsprozesse, die sich seit dem Jahrhundert der Aufklärung rapide beschleunigt haben: Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion massenkommunikativer Prozesse und die Bürokratisierung, die funktionale Ausdifferenzierung eines immer komplexeren gesellschaftlichen Systems, die Entzauberung tradierter Mythen und die kritische Überprüfung metaphysischer Gewissheiten, die fortschrittsgläubige Ausweitung der rationalen Verfügungsgewalt über die äußere Natur und, im sozialpsychologischen Bereich, den Zwang des zivilisierten Subjektes zur Disziplinierung der eigenen Natur, des Körpers und der Affekte. Schon die Soziologie der Jahrhundertwende (Max und Alfred Weber, Ferdinand Tönnies oder Georg Simmel), die von etlichen Autoren der Moderne aufmerksam verfolgt wurde und die sich ihrerseits an der Kunst und Literatur der Moderne interessiert zeigte, hatte diese Prozesse in wesentlichen Aspekten analysiert. Die spätere Modernisierungsforschung knüpfte daran an.

Gegenüber dieser 'zivilisatorischen Moderne' profiliert sich die 'ästhetische Moderne' mit partiell konträren Wertvorstellungen. Sie zeigen in Literatur, Musik, Malerei oder Architektur sowie in einzelnen Ländern unterschiedliche Ausprägungen und Entwicklungen.

Die Differenzen zwischen ästhetischer und zivilisatorischer Moderne lassen sich exemplarisch im Blick auf eine Schrift zeigen, die sich polemisch und detailliert mit den Anfängen der ästhetischen Moderne auseinander setzte und dabei so klar, eindeutig und umfassend wie kaum eine andere die Positionen der zivilisatorischen Moderne und der sie affirmierenden Denkformen aus den rationalistischen Traditionen der Aufklärung vertrat: Max Nordaus so imponierendes wie fragwürdiges Werk "Entartung". Es erschien 1892/93 in zwei Bänden und avancierte rasch zum internationalen Bestseller. Dieses große Pamphlet eines Arztes und Schriftstellers, das mit seinem Titel der deutschnationalen Kunst- und Kulturkritik eines ihrer zentralen Stichworte lieferte, verweist einmal mehr darauf, wie prestigebesetzt und daher umkämpft das Attribut 'modern' in jenen Jahren war.

Nordaus mit wissenschaftlichem Anspruch und aufklärerischem Selbstbewusstsein auftretender Angriff galt den neuesten Moden in der Pariser Oberschicht und ihren "Nachäffern" in Deutschland, darunter den Naturalisten, dem 'dekadenten' Wagnerianismus und Friedrich Nietzsche. Nordau ging es dabei nicht zuletzt um die adäquate Interpretation aufklärerischer Werte und Begriffe, so vor allem auch um den Begriff der Modernität. Er steht bei ihm in einer Reihe mit "Fortschritt", "Freiheit" und "Wahrheit".

"Die ,Freiheit' und ,Modernität', der ,Fortschritt' und die ,Wahrheit' dieser Burschen [der Repräsentanten der ästhetischen Moderne; T.A.] sind nicht die unsrigen. Wir haben nichts mit ihnen gemein. Sie wollen Schwelgerei, wir wollen Arbeit. Sie wollen das Bewußtsein im Unbewußten ersäufen, wir wollen das Bewußtsein stärken und bereichern. Sie wollen Gedankenflucht und Faselei, wir wollen Aufmerksamkeit, Beobachtung und Erkenntnis. Daran mag Jeder die echten Modernen erkennen und von den Schwindlern, die sich Moderne nennen, sicher unterscheiden."

"Die echten Modernen" und die "Schwindler, die sich Moderne nennen": Mit dieser Gegenüberstellung sind die Differenzen zwischen den Vertretern der zivilisatorischen und der ästhetischen Moderne klar markiert. Als 'modern' in Nordaus Sinn gilt der Habitus jenes zivilisierten Subjekts, das sich selbst und seine Affekte rigoros zu beherrschen vermag. An Nordaus "Entartung" lässt sich gut zeigen, wie die Autonomieansprüche des aufgeklärten Subjekts im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer zwanghaftere, selbstdestruktive Formen annehmen. Modernität und Fortschritt sind, so Nordau wörtlich, "die Wirkung immer härterer Bezwingung des Thiers im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung". Als 'modern' im Sinn etlicher Repräsentanten der ästhetischen Moderne kann dagegen die Vorstellung von einem Subjekt gelten, das nicht unterwirft, sondern unterworfen ist.

'Modern' in Nordaus Sinn ist nicht nur die männliche Beherrschung der eigenen, inneren Natur kraft der moralischen Vernunft, deren Schwäche er als "hysterisch", also weiblich disqualifiziert. 'Modern' ist auch die Beherrschung der äußeren Natur durch wissenschaftliche und technische Rationalität. 'Modern' in diesem Sinne ist jener Homo-faber-Typus, für den in Gottfried Benns Einakter "Ithaka" (1914) die Figur des Professors steht, der mit triumphalem Ton und imperialem Machtbewusstsein die Sätze spricht: "Wir stehen über die Welt verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen, Hirne, die erobern." 'Modern' im Sinne der ästhetischen Moderne ist dagegen die Antwort Rönnes darauf: "Ich lege auf die ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert. Das Gehirn ist ein Irrweg. [...] Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht".

'Modern' ist im Sinne Nordaus und der Apologeten zivilisatorischen Fortschritts die Orientierung an Werten wie rationale Ordnung, Zusammenhang, System, Einheit, Übersichtlichkeit, Wahrheit. Positionen der ästhetischen Moderne hingegen entspricht es, wenn Carl Einstein 1909 einen Aufsatz ("Der Snobb") mit den Worten beginnt: "Wir haben keine Wahrheit mehr", oder wenn es in seinem Roman "Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders" heißt: "Lassen Sie sich nicht von einigen mangelhaften Philosophen täuschen, die fortwährend von der Einheit schwatzen und den Beziehungen aller Teile aufeinander, ihrem Verknüpftsein zu einem Ganzen". Damit sind mentale und diskursive Schemata aus dem Umkreis der klassischen Ästhetik und des deutschen Idealismus zurückgewiesen, denen sich Nordau nachdrücklich verpflichtet zeigt. Der Moderne in seinem Sinn entspricht das Ideal geschlossener Strukturen, auch im Kunstwerk; für die ästhetische Moderne hingegen sind die offenen Strukturen konstitutiv, das Fragmentarische, das dezentrierte Eigenleben der Textteile gegenüber einem übergeordneten Sinnzentrum.

Als Gottfried Benn 1933 dicht nacheinander sein Bekenntnis sowohl zum Nationalsozialismus als auch zum Expressionismus formulierte, geschah dies in einer historischen Situation, in der sich die alten Interpretationskämpfe um das prestigebesetzte Attribut "modern" fortsetzten. Eine kürzlich erschienene linguistische Monografie von Dina Kashapava mit dem Titel "Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus" belegt, dass im nationalsozialistischen Diskurs über Kunst das Adjektiv "modern" und das Substantiv "Moderne" in der Regel nicht abwertend gebraucht werden. Wenn hier die ästhetische Moderne diffamiert wird, spricht man ihr genau wie schon Nordau die Modernität ab, redet von der "sogenannten Moderne" oder, wie Goebbels bei einer Rede im Juni 1934 auf einer Tagung der Reichskunstkammer, von dem "modern scheinenden Großmannstum, hinter dem sich künstlerisches Nichtskönnen verbirgt". Die Rede reklamiert eigentliche Modernität für den Nationalsozialismus selbst: "Wir Nationalsozialisten sind alles andere als unmodern. Wir fühlen uns als die Träger fortgeschrittenster Modernität, nicht nur im Politischen und Sozialen, sondern auch im Geistigen und Künstlerischen." Die neue Reichskulturkammer stehe "dem reaktionären Rückschritt" fern, der "der Jugend und ihren gesunden Kräften den Weg verbauen will."

Der Modernitäts- und Fortschrittsbegriff der ästhetischen Moderne unterschied sich schon bei Nordau erheblich von dem der zivilisatorischen Moderne. Fortschritte sucht die ästhetische Moderne vielfach in Rückgriffen auf das, was dem zivilisatorischen Fortschritt voranging. Wilhelm Worringer gebrauchte in einem frühen Aufsatz über die Kunst des Expressionismus die paradoxe Wendung "moderne Primitivität" und erklärte: "Dieser Erwachsenenhochmut des europäischen Kulturmenschen aber beginnt heute wankend zu werden und der wachsenden Einsicht in die elementare Großartigkeit primitiver Lebens- und Kunstäußerungen zu weichen". Der von Franz Marc Mitte Januar 1912 verfasste Subskriptionsprospekt zum Almanach "Der Blaue Reiter" verweist auf die "feinen Verbindungsfäden" der neuesten Malerei mit "den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient" oder auch mit der "Kinderkunst". Carl Einstein hielt dem eurozentrischen Zivilisationsdünkel 1915 die ,Negerplastik' entgegen. Richard Huelsenbeck, der den Dadaismus des Zürcher Cabaret Voltaire nach Berlin vermittelte, trug seine "Negergedichte" vor, indem er sie mit einer großen Trommel begleitete. Die expressionistische Wortkunst des Sturm-Kreises und der Dadaismus lösten mit Sympathie für die prälogischen, vorzivilisierten und spielerischen Ausdrucksformen des Kindes die logischen Strukturen der Syntax auf. Spricht Nordau schließlich mit seinem Modernitätsverständnis abfällig von den "gelben Menschen Ostasiens", so wird für die ästhetische Moderne der ferne Osten zum Projektionsraum antizivilisatorischer Wünsche.

Noch einmal zum Fall Benn

Benns Bekenntnisse zum Expressionismus und zum Nationalsozialismus versuchen 1933 solche Unterschiede einzuebnen, den Modernitäts- und Fortschrittsbegriff des Nationalsozialismus und den der ästhetischen Moderne zu versöhnen. Schon die fatale Rundfunkrede "Der neue Staat und die Intellektuellen" vom 24. April 1933 ist insofern ein Bekenntnis zum Expressionismus, als sie etliche zentrale Begriffe und Motive und das Aufbruchspathos, ganz fern der von Helmuth Lethen unlängst für Benn reklamierten Kälte, um und nach 1910 wiederbelebt. Die Revolution der expressionistischen Moderne findet, so konzipiert es Benn mehr oder weniger explizit, in der nationalsozialistischen Revolution ihre geschichtliche Realisierung. Dieter Wellershoff hat in einer 2006 in Berlin gehalten Rede über seinen Abschied von Benn den Zusammenhang ähnlich gesehen: "Er glaubte und redete sich das ein, die Stunde einer grundlegenden Veränderung aller Werte sei gekommen, ein unerwartet aus völkischer Tiefe aufgestiegener politischer Expressionismus, dem er sich anschließen müsse" (siehe literaturkritik.de 7/2006).

Das wohl häufigste Adjektiv, das in Benns Rede über den neuen Staat die Modernität des Nationalsozialismus beschwört, ist "neu". Bereits im Titel steht es und taucht dann in nahezu jedem Abschnitt mehrfach auf, zusammen mit "revolutionär" und "jung". "Wie sollte man also von einer neuen revolutionären Bewegung fordern können, dass sie alte Qualität schütze, die Bewegung tritt ja auf, sie erscheint ja, um eine neue anthropologische Qualität und einen neuen menschlichen Stil zu bringen, um aus ihrem politischen Grundbegriff heraus neue intelligible und ästhetische Formen zu entwickeln." Die Rede endet mit einem emphatischen Bekenntnis zur "Jugend" und zur "Wandlung". Benn spricht "von einer neuen Intelligenz, einem ganz neuen kompositorischen Weltgefühl, das einer Jugend angehört, von verwandelter geschichtlicher Art. Einer Jugend, die aus dem Dunkel kam wie kaum eine zuvor."

Es ist, als sehe sich Benn 1933 in die Zeit seiner eigenen Jugend zurückversetzt, eine Zeit, die er sich wiederholt als die glücklichste seines Lebens ins Gedächtnis rief. Und er wiederholte 1933 noch einmal, was die expressionistische Generation 1914, in den Monaten nach Beginn des Ersten Weltkrieges mehrheitlich vorgemacht hatte. Deren anfängliche Kriegsbegeisterung, die nur ansatzweise nationalistisch geprägt war, war meist schon nach wenigen Monaten in Enttäuschung und Opposition umgeschlagen. (siehe literaturkritik.de 11/2008).

Über die angemessene Einschätzung des Falls Benn im Jahre 1933 gab es noch 2006, 50 Jahre nach seinem Tod, unterschiedlichste Positionen, wie die zu diesem Anlass erschienen Monografien zeigen. Helmut Lethen stellt in seinem Benn-Buch "Der Sound der Väter" die Positionen noch einmal gegenüber: War es ein Irrtum Benns, ein Verrat, eine folgerichtige und kontinuierliche Entwicklung, eine Wandlung, eine sozialpsychologisch erklärbare Disposition eines autoritären Charakters? Lethen betitelt sein Kapitel darüber mit "Benns Verbrechen" und befindet: "Er war ein nützlicher Idiot des Umsturzes." Ganz anders die wohl umfassendste Rekonstruktion des Falls, die Joachim Dyck etwa zeitgleich vorgelegt hat. Sie geht in dem Versuch, Benn nicht nur zu verstehen, sondern auch zu rechtfertigen und zu verteidigen gewiss oft zu weit - bis hin zur Übernahme jener Diffamierungen, die Benn 1933 den linksliberalen Exilanten zuteil werden ließ. Aber einige Argumentationen von Dyck, die zur Differenzierung im Urteil über Benns Annäherung an den Nationalsozialismus anleiten, lassen sich schwer von der Hand weisen.

Benn trat, anders als Carl Schmitt oder Martin Heidegger, nie in die Partei ein, war anders als Johst nicht Mitglied der SS und nicht der SA. Und er hatte kein "Judenproblem". Das ist zwar angesichts der später von Dyck selbst zitierten Äußerungen Benns über Jakob Wassermann und über die Zahl der Juden, die in der Exilzeitschrift "Die Sammlung" vertreten waren, nicht ganz richtig. Aber vom nationalsozialistischen Antisemitismus war er mindestens so weit entfernt wie Thomas Mann mit seinen antisemitischen Äußerungen (siehe literaturkritik.de 2/2002). Und auch dem Sozialdarwinismus der Nationalsozialisten und ihren rassenhygienischen Positionen stand er relativ fern: 1934 wiederholte Benn im "Lebensweg eines Intellektualisten", was er schon 1930 in seinen Essays über "Genie und Gesundheit" und über "Das Genieproblem" ausgeführt hatte und was mit den nationalsozialistischen Entartungsverdikten gegen die ästhetische Moderne nicht kompatibel war: "Die Reihe der Paralytiker unter den Genies ist enorm, die der Schizophrenen trägt die größten Namen [...] unter den 150 Genies des Abendlandes finden wir allein 50 Homoeroten und Triebvarianten, Rauschsüchtige in Scharen, Ehelose und Kinderlose als Regel, Krüppel und Entartete zu hohen Prozenten, das Produktive, wo immer man es berührt, ist durchsetzt von Anomalien, Stigmatisierungen, Paroxismen. Der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrtausends ist Steigerungskunst von Psychopaten, Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern".

Mit solchen Äußerrungen blieb Benn wiederum seiner expressionistischen Herkunft verbunden. Überhaupt ist das Bekenntnis zum Expressionismus im Jahr 1933 ein entscheidender Indikator für seine Position. Und sie sind weit über seine Person hinaus von enormem Gewicht für eine angemessene Einschätzung der ästhetischen und speziell der literarischen Moderne.

1955, etwa ein Jahr vor Benns Tod, erschien seine Einleitung zu der nicht von ihm selbst zusammengestellten Anthologie "Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts", die große Teile des Aufsatzes von 1933 übernahm. Es sind jedoch nicht zwei Fassungen des gleichen Aufsatzes, wie Ulrich Weisstein in einer dazu maßgeblichen Studie von 1972 suggeriert. Benn ist nicht dem Vorschlag des Verlegers Max Niedermeyer gefolgt, der ihm schrieb: "Sie könnten sich doch weitgehend auf ihren früheren Expressionismus-Aufsatz stützen. Dies ist doch das Beste, was man überhaupt darüber sagen kann. Für uns genügt es völlig, wenn wir ihren etwas umgearbeiteten Aufsatz von damals bekommen." Es ist ein neues Bekenntnis zum Expressionsimus, der mit den diesem Autor eigenen Techniken der Montage unmarkierte intertextuelle Bezüge zu dem älteren herstellt. Ein intendierter Effekt dieser Selbstzitate gleicht dem, den auch der wenig veränderte Nachdruck des "Lebensweges eines Intellektuellen" in "Doppelleben" erzielen wollte. Wolfgang Emmerich hat ihn in seiner zum Benn-Jahr 2006 erschienenen Monografie so beschrieben: "Seht her, ich habe mir (fast) nichts vorzuwerfen - und ich stehe zu dem, was ich damals geschrieben habe." Benns Einleitung zu der Lyrikanthologie ist darüber hinaus ein Zeugnis dafür, wie er sich bei all seinen Wandlungen und Widersprüchen und über den Wandel der Zeiten hinweg bis zum Lebensende um eine, um seine Identität bemühte, in der fortwährenden Identifikation mit dem Expressionismus. Und dieser war für ihn nur der Name für die ästhetische Moderne seines Jahrhunderts.

Ungeklärt bleibt dabei noch vieles zum Fall Benn und weit über den Fall Benn hinaus: die Affinitäten und Differenzen zwischen ästhetischer Moderne und Nationalsozialismus, und zwar eines Nationalsozialismus, der mittlerweile längst zum Objekt der Modernisierungsforschung geworden ist, deren Stand eine mit Benn befasste Literaturwissenschaft dringend mit einzubeziehen hätte.

Die Auseinandersetzungen mit der Moderne im Namen der Postmoderne

"Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst" lautete der thesenhafte Titel eines 1990 erschienenen Essays von Wolfgang Welsch. Er weist mit Recht darauf hin, dass jene französischen Theoretiker, die im Zentrum der Postmoderne-Diskussion standen (Michel Foucault, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Jean Baudrillard und vor allem Jean-François Lyotard) entscheidende Impulse ihres Denkens aus der Kunst und Literatur der Moderne erhielten. Foucault berief sich wiederholt auf Stéphane Mallarmé und Antonin Artaud; Lacan wurde in seiner Uminterpretation der Freud'schen Psychoanalyse stark vom französischen Surrealismus geprägt; Derrida, Deleuze und Guattari entwickelten ihr Denken unter anderem an Mallarmé, Artaud und Kafka. Und für sie alle ist Nietzsche, der wiederum auf die ästhetische Moderne eine eminente Wirkung ausübte, von zentraler Bedeutung.

Lyotard selbst hob ausdrücklich die Nähe der Postmoderne zur modernen Kunst der vergangenen hundert Jahre hervor: "Was seit einem Jahrhundert in der Malerei oder in der Musik geschehen ist, antizipiert gewissermaßen die Postmoderne, die ich meine." Welsch kann also viele Anhaltspunkte für seine ähnlich lautende These finden: "Was in den künstlerischen Avantgarden der Moderne richtungsweisend wurde, ist philosophisch im postmodernen Denken zum Tragen gekommen." Dass die expressionistische Moderne bei solchen Hinweisen kaum in den Blick geraten ist, lag auch an der Unkenntnis über sie vor allem in Frankreich.

Symptomatisch dafür war 1978 die erstaunte Reaktion Michel Foucaults auf die Ausstellung "Paris-Berlin" über die französische wie die deutsche Kunst und Literatur zwischen 1900 und 1930. In einem "Spiegel"-Interview (30.10.1978) erklärte er: "Als ich mir 'Paris - Berlin' ansah und die deutschen Autoren der Jahre 1910 bis 1930 las, wurde mir bewußt, daß das 20. Jahrhundert mit seinen Ideen, Problemen, spezifischen kulturellen Formen tatsächlich existiert. In meinen Augen ist diese Ausstellung der Beweis des 20. Jahrhunderts."

Ihab Hassan, einer der Wortführer und Programmatiker der Postmoderne in den USA, hatte in einer "Merkmalreihe für die Postmoderne" unter anderem die Stichwörter "Fragmentarisierung" und "Der Verlust von 'Ich'" aufgenommen. Der "postmoderne Mensch" vertraue nur noch "Fragmenten". "Seine tiefste Verachtung gilt jeglicher 'Totalisierung', jeglicher Synthese, sei sie sozialer, kognitiver oder sogar ästhetischer Art. Daher seine Vorliebe für Montage, Collage [...], für Formen der Parataxe anstelle von Hypotaxe", seine Hinwendung zur "Offenheit des Zerbrochenen". Dem entspricht die Verabschiedung der Vorstellung von einem einheitlichen Subjekt mit einer unverwechselbaren Identität: "Die Postmoderne entleert das traditionelle 'Ich', spiegelt Selbstauslöschung vor", es verliere sich "im Spiel der Sprache" und löse sich auf "in eine Oberfläche stilistischer Gesten". Das liest sich wie eine Beschreibung charakteristischer Merkmale der literarischen Moderne. Die Parataxe, das Fragmentarische, die programmatische Aufwertung offener statt geschlossener Strukturen, das dezentrierte Eigenleben der Textteile gegenüber einem übergeordneten Sinnzentrum sind für sie bekanntlich stilbildend geworden.

Zusammen mit dem autonomen Subjekt standen in der literarischen Moderne der zivilisatorische Fortschrittsglaube und die abendländische Rationalität zu Disposition, die im "postmodernen Diskurs" der der 1980ger Jahre als moderner "Logozentrismus" abgewertet wurde und mit einer Aufwertung des "Anderen der Vernunft" einherging. Gegenüber dem rationalen Bewusstsein wertet die literarische Moderne das Unbewusste auf: die Sprache der Träume und des Wahnsinns, den Rausch und die erotische Ekstase, den Mythos und die mystische Erfahrung. Dem die Autonomieansprüche des neuzeitlichen Subjekts kränkenden Diktum Freuds, dass das rationale Ich "nicht einmal Herr ist im eigenen Hause", stimmte sie zu, nicht jedoch seinem aufklärerischen Postulat: "Wo Es war, soll Ich werden."

Die anomische Auflösung metaphysischer Sinngebungen, tradierter Ordnungen und allgemein verbindlicher Normen- und Wertsysteme wird, so lautete eine beliebte These, von der Moderne noch als krisenhafte Verlusterfahrung beschrieben und produziert in ihr neue (oder auch alte) Einheits- und Ganzheitswünsche. "Das postmoderne Denken hingegen hat sich gerade von dieser Einheits- und Ganzheitsokkupation befreit. Es bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv." Die Moderne, so Wolfgang Welsch, "reagiert auf den Verlust des Ganzen mit Trauer, Melancholie oder Heroismus, erst die Postmoderne sieht darin einen - begrüßenswerten - Freiheits- und Wahrheitsfortschritt." Welsch kann sich hierbei wiederum auf Lyotard berufen. "Krieg dem Ganzen", forderte dieser und unterlegte diesem Appell ein politisches Motiv: die Abwehr jedes totalitären Terrors. "Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen [...] teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen."

Lyotard selbst beschrieb die Differenz zwischen ästhetischer Moderne und philosophischer Postmoderne angesichts gemeinsamer Erfahrungen des Auseinanderbrechens tradierter Einheiten, Ganzheiten und Ordnungen als "Differenz zwischen Trauer und Wagnis" und lokalisiert dabei "die deutschen Expressionisten" auf "der Seite der melancholia". Für diese Einschätzung lassen sich in der ästhetischen Moderne, auch in der des Expressionismus, viele Bestätigungen finden, allerdings wohl ebenso viele Gegenbeispiele. Hugo Ball etwa durchschaute den potentiellen Zusammenhang von Einheitsoptionen und Machtansprüchen, wenn er 1917 in einem Vortrag über Kandinsky sagte: "Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut." Den Vortrag hielt Ball in der Galerie Dada. Der Dadaismus distanzierte sich von den Sentimentalitäten, Idealismen und Harmoniebedürfnissen des Expressionismus wie später die Postmoderne von der Moderne. "Der Expressionismus war harmonisch", erklärte Richard Huelsenbeck 1920. Dada dagegen sei "das Geschrei der Bremsen und das Gebrüll der Makler an der Chicagoer Produktenbörse."

Der Dadaismus verdankte mit seinem anarchischen, antiidealistischen Impuls dem Expressionismus jedoch weit mehr, als er es um der Selbstprofilierung willen zugeben wollte. Die vitalistische und anarchistische Bejahung einer ordnungs- und gesetztesbefreiten Chaotik ist von Beginn an eines der vielfältigen und durchaus widersprüchlichen Kennzeichen dieser kulturrevolutionären Bewegung, und zwar ein durchaus dominantes. Ein Manifest Erich Mühsams in der Münchner Expressionisten-Zeitschrift "Revolution" endet mit dem bezeichnenden Aufruf "Laßt uns chaotisch sein!" Die ästhetische Modernität des Expressionismus zeigt sich gerade in den Texten und bei den Autoren, die den autoritären Anspruch geschlossener Formen und Sinnsysteme anarchisch unterlaufen.

Rhetorik historischer Zäsursetzungen und die Konjunktur von Generationskonstrukten in der Moderne

Die Rhetorik der historischen Zäsursetzung, die von der ästhetischen Moderne wie von der Postmoderne inszeniert wurde, kann der Literaturwissenschaft nicht gleichgültig sein, sie wurde von ihr jedoch oft allzu unreflektiert übernommen. In den 1990er-Jahren setzte sich in den kulturellen Kämpfen um die knappen Ressourcen öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung eine partiell veränderte Rhetorik durch, die von den historischen Wissenschaften ebenfalls gerne adaptiert wurde: die Rhetorik des Generationenwechsels, mit der sich kulturelle Gruppierungen im Namen einer "1989er Generation" oder einer "Generation Golf" gegenüber der "68er Generation" zu positionieren versuchten. Diese Generationenrhetorik steht allerdings weiterhin in Traditionen der Moderne. Nicht erst die ästhetische Moderne um und nach 1900, aber sie besonders exponiert, profilierte sich als Bewegung einer jeweils neuen, jüngsten Generation. Damalige Zeitschriftennamen wie "Das junge Deutschland" oder Bezeichnungen wie "Das junge Wien" oder die "Jüngst-Berliner" waren dafür symptomatisch. Die soziologiegeschichtlich bedeutende Studie von Karl Mannheim über "Das Problem der Generationen", die 1928 erschien und in den heutigen Kulturwissenschaften wieder viel Aufmerksamkeit findet, wäre ohne das Generationenbewusstsein in der ästhetischen Moderne nicht geschrieben worden.

Literaturhinweise: Die wohl wichtigste Buchpublikation jüngster Zeit zum Begriff und Konzept der Moderne, in der viele in diesem Beitrag angesprochenen Aspekte eingehender untersucht werden, ging aus einer 2006 in Freiburg veranstalteten Tagung hervor, bei der zahlreiche, seit vielen Jahren ausgewiesene Kenner der literarischen Moderne Vorträge hielten und debattierten. Die Dokumentation der Tagung ist 2007 unter dem Titel "Literarische Moderne. Begriff und Phänomen" erschienen. Die Herausgeberin Sabina Becker und der Herausgeber Helmuth Kiesel haben den Band auf dreißig Seiten höchst informativ und differenziert eingeleitet und damit eine Bestandsaufnahme zur Moderne-Diskussion vorgelegt, die zur Zeit nicht ihresgleichen hat.

Helmuth Kiesel veröffentlichte 2004 eine umfassende "Geschichte der literarischen Moderne" im 20. Jahrhundert in sieben Teilen, die als ein Standardwerk zu dem Thema gelten kann - von den umsichtigen Begriffsklärungen im ersten Teil über eine pointierte Darstellung der Modernität Döblins, Brechts und Benns bis hin zu den Ausführungen über Weiterentwicklungen der Moderne-Tradition nach 1945.

Einer der Teilnehmer an der Freiburger Tagung, Peter Sprengel, ist Alleinautor von zwei Bänden der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart", die den Zeitraum von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges abdecken. Die beiden Bände, 1998 und 2004 erschienen, sind eine Art "Lebenswerk", wie es für einen anderen Zeitraum vor Jahrzehnten Friedrich Sengle mit seiner "Biedermeierzeit" vorgelegt hat. Das gegenwärtig singuläre Unternehmen steht dem Moderne-Begriff zwar ziemlich reserviert gegenüber, was heute vom Naturalismus bis zum Expressionismus als literarische Moderne bezeichnet wird, behandelt es jedoch so umfassend wie kein anderes literaturwissenschaftliches Werk eines einzelnen Autors und mit imponierender Kennerschaft.

Im selben Jahr wie die Freiburger Tagung zur Moderne fand in Marbach am Neckar eine Tagung zu Gottfried Benn statt. Die Dokumentation dazu hat Friederike Reents unter dem Titel "Gottfried Benns Modernität" 2007 herausgegeben. Teile meines Beitrages dazu sind in den vorliegenden Aufsatz eingegangen.

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Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
825 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3406441041

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Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
924 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3406521789

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Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache Ästhetik Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
640 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406511457

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Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006.
318 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 387134544X

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Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
463 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3835300245

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Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
160 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499506815

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Dina Kashapova: Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus. Semantische und pragmatische Studien.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.
346 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3484312661

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Friederike Reents (Hg.): Gottfried Benns Modernität.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
220 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835301511

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Sabina Becker / Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen.
De Gruyter, Berlin 2007.
550 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110191141

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