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Barbara Streidls Parforceritt „Feminismus. 100 Seiten“ reißt manches Hindernis

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichte und Theorien des Feminismus auf nur 100 Seiten nachzuzeichnen, kann das gelingen? Immerhin reichen seine Anfänge weit mehr als 150 Jahre zurück. Da bleibt allein für den historischen Part nicht einmal eine Seite pro Jahr. Zweifel sind also angebracht.

Barbara Streidl, die sich in dem Bändchen Feminismus. 100 Seiten dieser Aufgabe zu stellen scheint, räumt allerdings gleich zu Beginn ein, dass der Versuch, die Feminismen „alle vollständig abzubilden“, den auf 100 Seiten begrenzten Umfang ihres Büchleins „sprengen“ würde. Doch sie möchte den Lesenden wenigstens „einige Feminismen näher[bringen]“.

Bevor sich die Autorin der feministischen Geschichte zuwendet, erörtert sie zunächst über fast dreißig Seiten hinweg die Frage, ob es „‚den‘ Feminismus überhaupt“ gibt. Nein, sagt sie, „statt des einen Feminismus gibt und gab es viele unterschiedliche Feminismen“. Das ist allerdings nur die eine Seite der Wahrheit. Denn es gibt sowohl den Feminismus wie auch etliche Feminismen. Denn ersteres ist ein Oberbegriff, unter den die vielen verschiedenen Feminismen fallen. Gerade so, wie es beispielsweise die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie gibt und zahlreiche einander oft widersprechende Erkenntnistheorien verschiedener PhilosophInnen.

Was nun die Feminismen betrifft, so sind sie untereinander nicht weniger uneins als diese. Manche FeministInnen glauben etwa, ‚Sexarbeit‘ sei eine Möglichkeit weiblicher Selbstbestimmung, andere sehen in Prostitution eine der übelsten Auswüchse des Patriarchats. Einige verteidigen das islamische Kopftuch, während es andererseits als Instrument zur Unterdrückung der Frau kritisiert wird. Es ist sogar möglich, sich wie Ivanka Trump für eine Feministin zu halten und „im gleichen Atemzug“ zu behaupten, ihr Vater sei „nie frauenfeindlich“. Nur eines geht wahrscheinlich nicht: zu sagen, man sei FeministIn, weil man sich für die Unterdrückung der Frauen einsetzt. Denn wie Streidl festhält, haben „fast alle Feminismen einen gemeinsamen Nenner: Es geht darum, Frauen auf allen Ebenen des privaten wie öffentlichen Lebens gleichzustellen mit Männern (und Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann fühlen)“.

Die Autorin ist erkennbar bemüht, die von ihr vorgestellten Feminismen möglichst neutral darzustellen. Dies kann natürlich nicht ganz gelingen. Schon ihre Auswahl der vorgestellten Feminismen und FeministInnen steht dem zuwider. Hinzu kommt, dass der Subtext und Streidls Wortwahl ihre Positionen verraten. So bezeichnet sie Prostitution euphemistisch mit dem von der Prostitutionslobby bevorzugten Ausdruck „Sexarbeit“. Auch sind ihre Zuordnungen gelegentlich fragwürdig. Als Protagonistin des heutigen radikalen Feminismus nennt sie beispielsweise nicht etwa die Störenfriedas, sondern Margarete Stokowski, deren Positionen denjenigen des gegenwärtigen Radikalfeminismus nicht selten strikt zuwiderlaufen. Die Störenfriedas und andere Radikalfeministinnen werden hingegen beklagenswerter Weise nicht einmal erwähnt. Doch das ist keineswegs die einzige Lücke, die man trotz aller Beschränkung des Umfangs nicht nachvollziehen kann. Geradezu unverzeihlich ist, dass Terre des Femmes, die größte deutsche Frauenrechtsorganisation ebenso wenig vorkommt wie die wichtige Arbeit der Frauenhäuser und der Notrufzentralen für vergewaltigte Frauen und Mädchen.

Dem eigentlichen Text hat Streidl grau unterlegte Einschübe zwischengeschaltet, in denen sie „Filme, Romane, Sachbücher, Popsongs oder Kunstwerke“ vorstellt, „die eine feministische Intention erkennen lassen“, darunter etwa das Album Semper femina der Folkrock-Musikerin Laura Marling, Susan Faludis Buch Backlash oder den bahnbrechenden Band Deutsch als Männersprache der Linguistin Luise F. Pusch. Weitere Einschübe bieten Zitate von FeministInnen, die das im Haupttext Dargelegte näher ausführen oder veranschaulichen. Die dritte und letzte Gruppe von Zwischenbemerkungen sind in wörtliche Klammern („Klammer auf: […] Klammer zu“) gesetzt. In ihnen legt Streidl bestimmte Sachverhalte näher dar. So erläutert sie etwa, was es mit dem „sogenannten Choice Feminism“ auf sich hat, oder geht auf die „Entdeckung der eigenen Sexualität“ im Zuge der Neuen Frauenbewegung ein.

Nach der einführenden Beantwortung der Frage, ob es ‚den‘ Feminismus gibt, geht die Autorin zurück zu den Anfängen der deutschen Frauenbewegung, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts liegen, woran Louise Otto-Peters entscheidenden Anteil hatte. Den Zeitraum vom ersten Wirken Otto-Peters’ bis hin zum Zweiten Weltkrieg durchläuft das zweite Kapitel des Buches auf rund zwanzig Seiten im gestreckten Galopp.

Wie das Buch insgesamt so richtet auch dieser Abschnitt das Hauptaugenmerk auf den Feminismus in Deutschland. Doch blickt Streidl auch schon mal über den Ärmelkanal hinweg nach Großbritannien, wo die Suffragetten um Emmeline Pankhurst mit Leib und Leben für das Frauenwahlrecht kämpften. Erfreulich ist zudem, dass Streidl die brilliante und in vielem noch heute modern wirkende Feministin Hedwig Dohm angemessen würdigt.

Der Durchgang durch die Geschichte des Feminismus bis zum Zweiten Weltkrieg ist zur Mitte des Buches abgeschlossen. Anschließend wendet sich die Autorin dem „Ringen um die Gleichberechtigung der Frau nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur #metoo-Debatte“ zu, wofür sie gerade einmal siebzehn Seiten veranschlagt hat. Entsprechend knapp fallen die Ausführungen zur Neuen Frauenbewegung der 1970er-Jahre und den seither anhaltenden innerfeministischen Auseinandersetzungen, wie der Weg zur „Befreiung der Frau“ am besten zu beschreiten sei, aus.

Gegen Ende des Buches blickt Streidl verstärkt über die Grenzen Deutschlands hinaus und bietet etwa der großartigen nigerianischen Feministin Chimamanda Ngozi Adichie Raum. Unerwähnt bleibt hingegen die feministische Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali. Dafür lässt Streidl die Kopftuch-Apologetin Kübra Gümüşay zu Wort kommen.

Die Überschrift des letzten größeren Kapitels – ihm folgt nur noch ein zweiseitiger Fragenkatalog „Zum Ausklang“ – jubelt ein wenig reißerisch: „Die ganze Welt ist feministisch“. Das klingt gerade so, als sei alles getan. Gemeint ist allerdings nur, dass es überall feministische Bestrebungen gibt.

Auch sonst lässt sich einiges an dem Bändchen monieren. So greift Streidl auf ihrem Parforceritt durch die Geschichte des Feminismus nicht auf die Originalquellen der historischen Frauenrechtlerinnen vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Dabei wurden inzwischen zahlreiche Texte der ersten Frauenbewegung um 1900 neu aufgelegt und sind leicht zugänglich. Darüber hinaus sind das in Kassel ansässige Archiv der deutschen Frauenbewegung und der FrauenMediaTurm in Köln bestens bestückt. Statt sich dort umzusehen, befragt sie kurzerhand feministische Forscherinnen, denen sie zufällig begegnet, wie etwa die Dohm-Forscherin Isabel Rohner. Selbst für den Abschnitt zur Neuen Frauenbewegung zieht die Autorin nicht einmal die von Ilse Lenz zusammengetragene Quellensammlung heran, sondern greift in aller Regel zu Miriam Gebhardts Sachbuch Alice im Niemandsland.

Der Verzicht auf historische Quellen mag dazu geführt haben, dass Streidl hier und da sachliche Fehler unterlaufen. So flohen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann nicht nach der Machtergreifung der Nazis aus Deutschland, sondern befanden sich zu dieser Zeit ohnehin auf einer Auslandsreise und kehrten nicht mehr zurück. Helke Sanders „Rede vor der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1968 in Berlin“ wurde tatsächlich in Frankfurt am Main gehalten. Denn dort fand die Konferenz statt. Andere Irrtümer lassen sich nicht mit dem mangelnden Quellenstudium erklären. Nicola Müller etwa ist zwar Mitherausgeberin der Werke Hedwig Dohms, auch hat Müller eine umfassende Bibliographie von Dohms Schriften erarbeitet, aber eine Dohm-Biographin ist sie nicht.

Zu derlei Fehlern gesellen sich manch fragwürdige Formulierungen, wie etwa die Rede von „Helke Sander und ihr[em] ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ (Herv. R.L.). Wenige Zeilen darauf spricht Streidl ein weiteres Mal von „Sanders Aktionsrat“. Merkwürdig mutet auch die Behauptung an, dass „Resignation und Verzweiflung […] ebenso einen Antrieb für die Proteste der Suffragetten [bilden] wie ihr Wunsch nach Freiheit.“ Wirklich, Resignation als Antrieb?

Streidls Bemerkung, „als […] der Erste Weltkrieg ausbrach, konzentrierten sich […] die meisten Frauenvereine darauf“, wiederum ist in ihrer Kürze sträflich unscharf. Trotz des knappen Platzes hätte nicht geschadet, kurz auszuführen, dass die Frauenrechtlerinnen des gemäßigten Flügels um Gertrud Bäumer und Helene Lange ihre feministischen Aktivitäten einstellten, weil sie in die allgemeine Kriegseuphorie einfielen und nach Kräften zum Sieg der deutschen Streitkräfte beitragen wollten, wohingegen sich Radikale wie Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann nun ganz auf ihr pazifistisches Engagement konzentrierten. Und die Behauptung: „In der Zeit des Nationalsozialismus erfuhren – ‚arische‘ – Frauen dann Aufwertung und Geringschätzung zugleich“, ist zumindest anfechtbar. Den von Margaret Atwood und Roxane Gay als Selbstzuschreibung benutzten Topos Bad Feminist (letztere setzte ihn sogar in den Titel eines Buches) schließlich übersetzt Streidl mit „böse Feministin“ und hievt die Fehlübersetzung sogar in die Überschrift eines Kapitels.

Angesichts solcher Unzulänglichkeiten lässt sich das Bändchen auch als erster Einstieg in Theorien und Geschichte des Feminismus nicht wirklich empfehlen. Schade.

Titelbild

Barbara Streidl: Feminismus. 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2019.
102 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150205419

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