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Lust – keine Lust

Der weibliche Körper im erotischen Roman von Ulla Hahn bis Elfriede Jelinek

Von Alexandra Pontzen

Die Frage, wer in der Sexualität größere Lust empfindet, Mann oder Frau, entzweit die Geschlechter von alters her. Die Antwort, die der Weise Teiresias dem über die Lustdifferenz zerstrittenen Paar Zeus und Hera gibt, die Frau empfinde im Liebesakt neunmal größeren Genuß, erzürnt nicht etwa Zeus, sondern Hera. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, nicht nur über die verschwiegene Sprache des Begehrens in der Götterwelt. Wo die Fähigkeit, Lust zu empfinden, nicht auszeichnet, sondern diskreditiert, erweist sich die vorgeblich leibfreundliche antike Gesellschaft als (latent) sexualitätsfeindlich. Das hat sich in der Sache nicht wesentlich geändert. Was Hera erzürnt, bleibt als Stereotyp von der triebgesteuerten Natur des Weibes lange Bestandteil des misogynen Diskurses. Erst im postemanzipatorischen ausgehenden 20. Jahrhundert richtet sich der Vorwurf größerer Lustempfindung gegen den Mann, dessen Sexualverhalten als egoistisch diffamiert und als Rücksichtslosigkeit gegenüber den vorgeblich andersartigen Bedürfnissen der Frau angeklagt wird. Die Rede von der männlich dominierten und für Frauen kaum je befriedigenden Sexualität kulminiert in der Forderung nach dem weiblichen Recht auf Orgasmus.

Ungebrochen bleibt das Vertrauen in biologisches Erfahrungswissen. Seinerzeit glaubte man Teiresias, weil er, von den Göttern mit einem Geschlechtswechsel bestraft, sieben Jahre lang als Frau gelebt hatte; heute signalisiert die große Popularität von sogenannter erotischer Literatur aus der Feder von Frauen die Hoffnung, aus berufenem Mund über das Geheimnis weiblicher Lust sprechen zu hören.

Das Kapitel „Lust – keine Lust“ ist ein Reflex auf diese Entwicklung. Es behandelt Romane (von Ulla Hahn, Monika Maron, Elfriede Jelinek, Sibylle Berg, Julia Franck und Marlene Streeruwitz) auch unter dem Gesichtspunkt der Autorschaft und setzt nicht, wie andere Überblickskapitel in diesem Band, ausschließlich bei Thema oder Machart der Texte an. Das Wechselverhältnis von Sujet und Autor zur Prämisse der Lektüre zu machen, ist heikel, zumal wenn Sexualität als Romangegenstand und Sexus des Textproduzenten die thematische Klammer stiften sollen. Doch die Verschränkung von weiblicher Autorschaft und ‘erotischer’ Literatur entspricht der heute vorherrschenden Präsentation von Unterhaltungsliteratur. Kein Roman einer Frau erscheint ohne Foto der Autorin, „Liebediener“ liefert im ausklappbaren Schutzumschlag gar ein Portrait der Autorin Julia Frank mit, das sich nicht nur im Format mit den BRAVO-Starschnitt-Postern messen kann. Eindeutig ist die Inszenierung der Autorinnen zu jungen Wilden, sanften Schönen oder zum „Fräuleinwunder“-Phänomen ein wesentlicher Bestandteil der Buchvermarktung und – das wird zwangsläufig die Folge sein – ein Faktor der Lektüre.

Seit in den 70er Jahren weibliches Körperbewußtsein und die Schwierigkeit seiner angemessenen Darstellung zu einer Kernfrage feministischer Literatur und ‘weiblicher Ästhetik’ wurde, sucht man allenthalben nach dem ‘weiblichen Blick’ auf Eros. Die Diskussionen erreichen zwar nicht mehr Heftigkeit und Breitenwirkung von Verena Stefans spektakulärem Erfolg „Häutungen“ aus dem Jahr 1975, und das Sexuelle wird heute als ein „hoch Erotisches“ verklärt und im literarischen Diskurs konversationsfähig gemacht. Die Tatsache aber, daß Frauen über Sexualität schreiben, wirkt immer noch beunruhigend, und die Art, wie sie dies tun, verstört zuweilen, vor allem, wenn sich Sexualitäts- mit Gewaltdarstellungen verbinden und statt zärtlicher Zweisamkeit Perversion, Brutalität oder die Gefühlskälte beiläufiger Onanie geschildert werden.

Die weibliche Selbsterfahrungsliteratur war inhaltlich und stilistisch gekennzeichnet von zwei gegenläufigen Tendenzen: einerseits von Drastik und Tabulosigkeit bei der Beschreibung von körperlichen Vorgängen, andererseits von dem Bemühen um eine poetische Sprache für jene Teile und Vorgänge des Frauenkörpers, die von der medizinisch oder sexistischen Sprachkonvention nicht oder nur unzureichend erfaßt waren und deren positive Konnotierung das weibliche Selbstbewußtsein heben sollte. Die breitere Öffentlichkeit begegnete diesen Texten mit ostentativem Ekel, eine moralische Kritik monierte Indiskretion, die ästhetische Kritik erklärte die neue Körperpoesie der ‘Blütenlippen’ und ‘Lippenblüter’ zu Kitsch. Die Frauenbewegung reagierte zwiespältig auf die ästhetisch-ideologische Engführung von ‘Frau’ und ‘Körper’, Frauenkörper und Natur und vermißte das gesellschaftspolitische Moment der einst modischen Selbsterfahrungsberichte.

Dennoch sind die Spät- und Langzeitwirkungen der frühen literarischen Frauenbewegung nicht zu unterschätzen. Ohne sie wären Romane wie Ulla Hahns „Ein Mann im Haus“ (1991) und Monika Marons „Animal triste“ (1996) schwer erklärlich, beide weder Frauen- noch eindeutig traditionelle Liebesromane. Beide konterkarieren die Erwartung, das Verhältnis eines verheirateten Mannes und seiner sehnsüchtig sich verzehrenden Geliebten gewährleiste eine romanhafte Liebesgeschichte. Hahn überführt die empfindsame Konstellation in die Realität einer sexuellen Folterbeziehung, in der die Frau zur Rächerin ihrer jahrelangen Duldsamkeit wird und ihre Besessenheit vom Körper des Mannes in die Grausamkeit einer erzwungenen geschlechtlichen Intimität verkehrt. Die Geliebte, vormals Opfer des an eine andere gebundenen Mannes, nötigt diesen Mann in ihre Gefangenschaft und überträgt die psychischen Mechanismen ihres Liebesverlangens in eine Partitur physischer Folter, aus der sie ihn erst als einen seelisch und geistig Gebrochenen in die Arme seiner Ehefrau rückentläßt.

„Ein Mann im Haus“ bleibt, trotz der stofflichen Originalität, ein schwacher Roman, traditionell aufgebaut und konventionell erzählt. Seine Grundidee, die blutrünstigen Finessen eines weiblichen Racheakts aus dem Alltag der Heldin, einer Goldschmiedin, zu entwickeln und mit dessen Mitteln zu gestalten, führt zu manirierten Konstruktionen nicht ohne unfreiwillige Komik, wenn etwa in einem Akt erotisch brutalisierter Transsubstantiation das Ringsymbol der Eheschließung zum Schmieden goldener Fesseln wird, mit denen die Geliebte „Küstermann“, den verheirateten Mann im Kirchendienst, an das Bett des Ehebruchs kettet. Das Lächerlichmachen von Sex und Sexus eines Provinzakademikers und das bemüht ironische Loblied auf weibliche Tugenden wie Pragmatismus und Fürsorge, deren betuliche Harmlosigkeit bedrohliche Wirkungen zeitigt, wenn die Frau sich verschmäht, enttäuscht oder sexuell frustriert fühlt, dieses Spiel mit der Doppelgesichtigkeit der beschaulichen Kleinstadt-Idylle erinnert an die Kriminalromane Ingrid Nolls und propagiert das Frauenideal der schelmisch Spätemanzipierten.

Marons „Animal triste“ situiert den Geschlechterkrieg im Berlin des Jahres 1990, wo die letztlich scheiternde Liebesobsession der ostberliner Paläontologin für den verheirateten westdeutschen Insektenforscher die Sehnsüchte deutsch-deutscher Annäherung und die Fragwürdigkeit der Wiedervereinigung reflektiert. Maron erzählt die Ehebruchsgeschichte als Geschichte von den Leiden der Geliebten, die hofft, im privaten Glück jenen Halt zu finden, den der Umsturz der vertrauten Verhältnisse ihr genommen hat. Doch die Ingredienzien des verboten-verborgenen Verhältnisses – die Verlustangst im Moment der nächtlichen Trennung, die lähmende Anspannung des Wartens, Ungewißheit und Schmerz der Eifersucht – lassen an die Stelle der Liebespassion die Entzugspassion treten. Zermürbt vom Wechselbad der Gefühle und der Willkür fremder An - und Abwesenheiten ausgeliefert, ersetzt die Wartende die Lust am anderen Körper durch die Plage des eigenen, der „kneift und beißt [...], zerrt [...] und [...] schmerzt, als zöge mir jemand bei lebendigem Leibe die Nervenstränge durch die Wirbel“. Die Hypochondrien der Selbstbeobachtung entschädigen für die Aufmerksamkeit, die der Geliebte der Frau vorenthält. Erst mit dem Tod des Mannes, an dem die Ich-Erzählerin nicht unschuldig ist, enden die Hoffnung, er möge sich für ein Leben mit ihr entscheiden, und die Angst vor der sich wiederholenden Enttäuschung. Der Tod des Geliebten beendet aber keinesfalls jenen Zustand weltvergessener Körpergegenwart, in dem die Frau sich ihrer selbst versichert, sondern stellt im Gegenteil diesen Zustand auf Dauer – ein Phänomen, für das Maron die Metapher der geistigen Umnachtung wählt, das bei Hahns Heldin als luzider Wahnsinn, bei Sibylle Bergs Protagonistin als kreischender Irrsinn und bei Julia Francks junger Liebender als kindliche Entrückung in eine Traumwelt in Erscheinung tritt; auch darin zeigt sich das allen Romanen gemeinsame, lediglich in unterschiedlicher Deutlichkeit unterlegte Konzept bedingungsloser Liebe, das als eigentlicher Erzählhintergrund fungiert. Die Auslöschung des Mannes, den die Frau geliebt und erlitten hat, und ihre unklare Rolle bei seinem gewaltsamen Verschwinden bedeuten in fast allen Texten den Beginn der Erinnerung. Sie ist Schöpfung, Nach- und Neuerfindung der Liebesgeschichte, eine Erfindung, in der die Frau sich selbst genügt und die den Schöpfermythos, den gemeinhin der männliche Künstler für sich in Anspruch nimmt, umwandelt zum Pharmakon für jene, die den Geliebten überwinden müssen, um sich die Idee der Liebe zu erhalten und nach den Lustqualen der imaginierten Symbiose in die Kontur eines handlungsmächtigen Ichs zurückzukehren.

Die demütigende Erfahrung vom Ichverlust in der Dreieckskonstellation des Ehebruchs und die Rückgewinnung von Identität im Akt der Gewalt gegen den männlichen und gegen den eigenen Körper, den Hahn und Maron thematisieren und aus der Perspektive der Frauen darstellen, fungiert für beide Protagonistinnen als Movens des Erzählens. In diesem Produktivmachen der Opferrolle mag man ein emanzipatorisches Moment ausmachen. Auf der Höhe der Zeit (und ihrer Erzählkonventionen) sind die Romane deshalb noch nicht. Hahns und Marons Fallgeschichten erzählen, obgleich 1991 und 1996 erschienen, im Duktus der achtziger Jahre, es dominiert die Kategorie der Einfühlung, Ausgangskonstellation und Plot funktionieren konventionell. Das Verhältnis von Geliebter und verheiratetem Mann variiert lediglich den Topos von der Unerreichbarkeit des Geliebten, der Unmöglichkeit von Dauer und rezitiert die Apologie des gestohlenen, unwiederholbaren erfüllten Moments. Die Philosophie der wenig nüchternen Naturwissenschaftlerin in „Animal triste“: „Man kann im Leben nichts verpassen als die Liebe“, reiht sich als Credo der Selbstaufopferung in die Tradition eines Frauenbildes, das Emotion zur Leitkategorie weiblicher Lebensgeschichte deklariert. Dieser Masochismus, der „das große Gefühl“ und das mit ihm identifizierte Objekt zu Existenzgrundlage und Inhalt weiblicher Biographie macht und Unterwerfung unter dieses Konstrukt lustvoller Abhängigkeit fordert, wird in beiden Romanen vorgeführt, bei Hahn ironisch überformt, bei Maron archaisch stilisiert. Beide Verfahren kratzen weniger am Mythos der ‘Liebe’, als daß sie, mal aggressiv, mal larmoyant, Klage führen über die unzureichende, weil nicht absolute, Liebesfähigkeit des anderen. Daß dieser andere ein Mann ist, spielt für das Ungenügen eine Rolle, ist aber nicht dessen erschöpfende Erklärung. Der Mythos ‘Sexualität’ kommt kaum zu seinem Recht; dafür aber, und das ist in dieser Art Literatur relativ neu, der konkrete Akt, auch in seiner realen Unzulänglichkeit und inklusive jener Spermaflecken auf dem Laken, die vom bemühten Detailrealismus zeugen. Die Lust der Körper aneinander indes bleibt, mal heftiger, mal befriedeter, insgesamt fraglos. Wenn hier und da eine Bemerkung über die Unzulänglichkeit („Dezenz“) eines männlichen Geschlechtsteils Distanz signalisieren soll, so ist es die spitzbübische Distanz, mit der Frauen einander seit eh und je ihre Unabhängigkeit von der Macht des Eros versichern. Die Mischung aus kühler Berechnung und überlegenem Lächeln, mit der die Geliebte den biederen Vorlieben des Ehemanns Rechnung trägt, der bei ihr – Garant der Frivolität – statt der heimischen Biber- Satinbettwäsche vorzufinden wünscht, ist ein weiterer Topos im vertraulichen Freundinnengespräch. Es gehört in den Vorstellungshorizont dieses im Verborgenen wirkenden Matriarchats, mit der Überwindung der „Missionarsstellung“ die sexuelle Gleichberechtigung als Hegemonie weiblicher Lust verwirklicht zu glauben.

Frauen, die in den neunziger Jahren über Sexualität schreiben, schreiben nicht notwendig über Liebe. Der harsche Ton, der, etwa bei Berg, Ekel zum Programm und das Häßliche zum Maßstab macht, setzt sich von der frühfeministischen Schamlippenverkitschung ebenso ab wie von der feuilletonistischen Verklärung des Sexuellen zum Erotischen. „Erotik ist der Moment vor dem Geschlechtsverkehr. Wo wir beim Ficken wären“, wird der Leser beschieden, in der Sache präziser als in der Grammatik. Schnoddrigkeit und eine demonstrative Langeweile angesichts von beidem, dem Sexualakt und seiner Beschreibung, kennzeichnen den forciert abgeklärten Blick auf die Torturen, die der Körper im Übergang vom Vegetieren zum Tod aufsucht und die Berg „Sex“ nennt. Der auch sprachlich unbarmherzige Zugriff auf die Schrecken der Wirklichkeit und die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leser, dem jede tröstende Zuflucht (zur Psychologie, zur Sentimentalität, zur Ästhetik) verwehrt wird, haben ihr Vorbild in Elfriede Jelineks Roman „Lust“ (1989), einer lustvoll zelebrierten Lektürequal und einer medial organisierten Publikumstäuschung von beeindruckendem Erfolg.

Mit „Lust“ beginnen die Mißverständnisse über „weibliche Erotik“ und „erotische Literatur von Frauen“. Bereits seit dem Erfolg der „Klavierspielerin“ (1983) genießt Jelinek die Aufmerksamkeit der Medien, weniger als Autorin denn als Frau unter dem Verdacht „exhibitionistischer Selbstbefreiung“ im Werk. Das verhilft der Buchbesprechung zur Popularität der lebenssatten home-story. Als Jelinek im Januar 1987 gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ äußert, sie arbeite „an einer Art erotischem Roman – ich sage nicht Porno –, einem weiblichen Gegenentwurf zur ‘Geschichte des Auges’ von Georges Bataille“, befördert das, verstärkt durch die zeitliche Nähe zu Alice Schwarzers PorNo-Kampagne in „Emma“, die Neugier auf einen „Weiblichen Anti-Porno“ aus der Feder der „Literatur-Domina“ (Quick) und „schreibenden Erotomanin“ (Vogue). Die Rechnung geht auf: Die Beachtung, die „Lust“ im Feuilleton erfährt, übertrifft die Summe aller Besprechungen früherer Texte der Autorin. Zu den literarkritischen Ingredienzien des medial beförderten Skandals gehört die bei den Kritikern einhellige Grundannahme, es handle sich bei „Lust“ um eine „realistische Erzählung“ über die Ehe des österreichischen Unternehmerpaars Herrmann und Gerti. Er, Direktor einer Papierfabrik in einem von Ski-Touristen heimgesuchten Alpental, hat aus Angst vor Aids seine Bordellbesuche eingestellt und läßt seine Frau Gerti ihm mehrmals täglich die Dienste der Prostituierten ersetzen. Sie, alternd, isoliert, trinkt und erschöpft sich in ihrer „Mutterliebe“ zu dem gemeinsamen Sohn. Dieser, eine Miniaturausgabe des machtlüsternen Vaters, weiß sich seiner Mutter gezielt zu bedienen und zu entziehen. Gerti beginnt eine Affaire mit dem Studenten Michael, der sie, unterstützt von seinen Sportsfreundinnen und -freunden, sexuell mißbraucht und vergewaltigt. Zwischen Michael, der sie verrät, und Hermann, der sie wieder in Besitz nimmt, irrt Gerti hin und her, bis sie zuletzt den Sohn, den der Vater mit einem Schlafmittel betäubt hat, damit er das elterliche Beisammensein nicht stört, erstickt und in einem Bach „abtreibt“.

Wer Jelineks Roman so liest und die Glaubwürdigkeit des Erzählten an den Regeln der Wahrscheinlichkeit bemißt, bezweifelt wie Karasek die exorbitante Potenz des Fabrikdirektors Herrmann oder beklagt wie Reich-Ranicki, daß „diese Frau ein Buch geschrieben hat, wo die Sexualität unentwegt mit äußerster Kraft denunziert wird als das Widerlichste auf Erden“. Der Text leistet einiges, um nicht naiv als realistische Story gelesen zu werden, indem schon das Buchäußere sich als Mogelpackung in eroticis zu erkennen gibt. Der von Klaus Detjen gestaltete Schutzumschlag macht deutliche Anleihen bei den Umschlägen, die Imre Reiner in den sechziger Jahren für Arno Schmidt entworfen hat. Auch der Titel ist nicht aus erster Hand. Genau hundert Jahre zuvor, 1889, erschien Gabriele D' Annunzios „Il piacere“, ein Text, den Jelinek als Muster von faschistoidem Sexismus 1975 bereits den „Liebhaberinnen“ unterlegt.

Auch die Grundfabel ist ‘uneigentlich’; anders als „Ein Mann im Haus“ und „Animal triste“, die das Schema des Ehebruchromans nur variieren, exponiert „Lust“ den Typus selbst als Klischee. Im Zitat begegnen Stereotypen der Seifenoper der achtziger Jahre, wo die „besseren Kreise“ und der Glanz des Wintersports den Hintergrund für ein Privatdrama um Ehe und Ehebruch abgeben, jugendliche Liebhaber mit gesettelten Ehemännern konkurrieren, die Lebenssüchte und Sehnsüchte von gelangweilten Hausfrauen sich in Mutterliebe und Alkoholismus niederschlagen, Sportbegeisterung und bildungsbürgerliche Kunstliebe die Zeit ausfüllen sollen und sich an der „Lust“ die Geschlechter scheiden, weil die Frau ‘Liebe’, der Mann Macht, Geld und Sex darunter versteht.

Was als sieben Tage aus dem Leben eines Paares erzählt wird, meint eigentlich ein ganzes Leben und die Ordnung der Welt, wie sie sich im westlichen Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts darbietet. Gesprochen wird im Duktus der Allgemeingültigkeit, und der Anstrich des Zeitlosen macht den Zirkel der Gesamterzählung zur Endlosschleife, jenem Ordnungsprinzip, das der Text mit dem Pornofilm teilt. Das Gefühl von Leerlauf und Monotonie des Immergleichen dominiert über die Macht der Handlung. Der letzte Satz des Romans „Aber nun rastet eine Weile!“ kennzeichnet den Plot, die Ermordung des Kindes durch seine Mutter, als letzten Akt einer pervertierten Schöpfung, indem er auf den letzten Tag der Schöpfung, den Sonntag verweist – den Tag, an dem der Roman einsetzt. So schließt sich der Kreis, der nicht nur als Kompositions-, sondern auch als Funktionsprinzip des Textes dient. Wie ein Hamster im Laufrad bewegt der Leser den Text und dieser bewegt ihn. Die so entstehende Orientierungslosigkeit macht es unmöglich, den Roman zu verlassen, ohne beim Übertritt auf dem Boden außersprachlicher Wirklichkeit aufzuschlagen. Was „Lust“ funktionieren läßt, macht den vergleichenden Blick zwischen dem Text als Welt und der Welt als Text zum schwindelerregenden Sehtest. Denn „Lust“ ist ein hoch artifizieller, inhaltlich und methodisch programmatischer Roman. Wenn er auf Eigennamen verzichtet und sie durch generalisierende Synekdochen ersetzt, die Person im Sexus (der Mann, die Frau) aufgehen läßt oder auf ihre sozioökonomische Stellung (die Armen, der Direktor, die Arbeiter) reduziert, dann tut er dem Subjekt auf eine Weise Gewalt an, die sich gegen die zentrale europäische Tradition des Erzählens vom Menschen als einem Individuum richtet. „Lust“ demonstriert Gewalt als sprachliche Gewalt. Sie illustriert, wie sich gesellschaftliche Erfahrung als körperliche Erfahrung niederschlägt und umgekehrt. Deshalb handeln auch nicht länger Charaktere, kaum mehr Typen, sondern Körper. In der Erhöhung des Körperlichen zum literarischen Subjekt geht Jelinek den Autorinnen Berg, Franck und Streeruwitz voran.

Der Körper der Frau gehört dem Mann, ist „vollgeschüttet und vollgeschissen von ihm“, während der Mann, mit seinem Körper identisch, von seinem Geschlecht regiert wird. Der Penis, das „halbe Kilo Fleisch, das sein Meister ist“, macht den Mann zum Herrn, zu Herrmann, über Gerti. „Es ist vorgesehen, daß sie bis zum Abend auf ihn warten soll, bis er käme, das Haupt in sie zu betten“. Jelineks Poesie der Obszönität, die Penis und Kopf in eins setzt und den Machtaspekt dieser poetisch sanktionierten Verschiebung herausstellt, unterläuft die Illusion von sprachlicher Unmittelbarkeit. Nie verweist ein sprachliches Zeichen direkt auf einen außersprachlichen Tatbestand. Immer existiert zumindest ein sekundäres Zeichensystem, auf das die Lautkette verweist und das seinerseits weiterverweist. Diese Komplexität schlägt sich besonders in der Metaphorik nieder, die sowohl sexuelle als auch soziale Konnotationen abruft. Auf der Ebene des Bezeichneten verschränken sich soziale und sexuelle Herrschaft in den Metaphern des Körpers, der unter der Ägide von Marx, Nietzsche und Freud, von Arbeit, Herrschaft und Begehren steht. Der Körper ist Instrument der Arbeit sowie die Männer als „Handwerker ihrer Lust“ die „Arbeit der Geschlechter“ zu leisten haben; der Körper verhilft der Macht zu physischer Präsenz, denn „der Direktor ist so groß, daß unmöglich an einem Tag um ihn herumgegangen werden kann“. Als Agent des Begehrens schließlich beherrscht der Körper das Vokabular und die Idiomatik. Was in anderen belletristischen Werken gesucht werden muß, jene „Stellen“, die den Geschlechtsakt beschreiben, ist in „Lust“ omnipräsent. Diese Parallele zum Porno gibt den Hauptanlaß, den Roman als pornographischen lesen zu wollen. Das allerdings muß scheitern. Denn die Sprache des Körpers entsinnlicht die Körpersprache und verunmöglicht die bildhafte Imagination im Kopf des Lesenden durch eine Überfülle divergierender Verweise und sich selbst generierender Bildbrüche. Laufend zerstört der Text die laufenden Bilder. Er destruiert allerdings nicht unmittelbar, sondern dekonstruiert nach Maßgabe seiner eigenen Möglichkeiten, durch Vereindeutigung des Zweideutigen und Zweideutigkeit des Eindeutigen, wenn etwa idiomatisierte Metaphern auf die Wortbedeutung zurückgeführt werden.

Sex heißt in „Lust“ das Eindringen des Mannes in die Frau – ein Akt, den der Text wiederholt, indem er ihn in unterschiedliche „Diskurse“ übersetzt. Die biblisch verankerte Sprache brachialer Aggression steht neben Bildern väterlicher Fürsorge: „Er spaltet ihr den Schädel über seinem Schwanz“ und „zieht ihr den Scheitel“; er vollendet an ihr sein Werk als tapferer Naturbeherrscher, der rodend Land gewinnt, denn „er hat ihr je schon eine Spur vorgelegt mit seinen Geschossen, die brüllend Schneisen in den Wald gebrochen haben“; so steht er in der Nachfolge des großen Herrn und Schöpfers: „Lächelnd treibt der Schöpfer aus den Männern ihr Produkt, damit es unter uns herumzurasen sich angewöhnen kann. Der Mann zerteilt die Schöpfung mit seinen kräftigen Tempi, und auch die Zeit vergeht in ihrem eigenen Tempo.“ Und natürlich erweist sich der mit auctoritas ausgestattete auch im Sexualakt als Autor und „zieht das Geschlecht seiner Frau auseinander, ob er sich auch leserlich dort eingeschrieben hat“. – „Lust“ betrachtet den Koitus aus radikalfeministischer Perspektive. Heterosexualität erscheint als Symptom und Symbol männlicher Gewalt; die Fixierung auf genitale Sexualität und den Penis als deren Exekutor fordert das Eindringen in die Frau, um in diesem grenzverletzenden Akt die Unterwerfung des weiblichen Menschen unter den männlichen zu besiegeln und über die Intimität des Schlafzimmers hinaus als historische und gesellschaftliche festzuschreiben. Der weibliche Körper steht dazu grundsätzlich zur Disposition, seine Öffnungen laden den Mann ein, sich auszubreiten. Die männlichen Grenzüberschreitungen funktionieren – in Theweleitscher Manier – als Körperausdehnung und Machterweiterung mit den Mitteln der Technik, des Autos, durch Werkzeug und Sportgerät und – naturgemäß – qua Erektion. Körperliche Entgrenzung ermöglichen ersatzweise auch Nahrungsaufnahme und Entleerung. Essen und Ausscheiden sind in „Lust“ strukturell und funktional identisch mit Penetration und Ejakulation, die Körpersäfte des Geschlechtsakts gelten folglich als Fäkalien. In einer Mischung aus groteskem Spiel und mechanischem Zwang gebraucht Hermann alle Körperöffnungen seiner Frau, und diese mit Gewalt und Anstrengung verbundene „Arbeit“ macht als Gewaltakt vor dem Leser nicht halt. Der Roman nutzt die ihm dargebotenen Körperöffnungen des Lesers, während er seinerseits vom Leser benutzt wird: „In saftiger Ruhe schiebt der Mann das Bild seiner Frau in den Schlitz des Betrachters.“ Durch ästhetische Anschauung in der Lektüre zum Betrachter gemacht, wird der Leser zum Videorecorder, zum programmierbaren Abspielgerät fremder Phantasien. So bekommt der Voyeur, was er will, muß jedoch seine Illusion, selbstbestimmt außerhalb zu stehen, aufgeben.

Durch den Machtakt, Bildhaftigkeit im Kopf des Lesers zu erzwingen, wo dieser in der Abstraktion verharren möchte, und die Konkretion der Anschauung zu verweigern, wo ein pornographisches Interesse sie fordert, unterläuft der Roman „Lust“ das Programm seines Titels. Die Lektüre frustriert das Begehren, das sexuell stimulierte und das akademisch abstrahierende. Insofern agiert der Roman ebenso wirkungsästhetisch wie er argumentiert und führt vor, daß nicht Sexualität als Phänomen oder „Ding an sich“ sein Gegenstand ist, sondern „Lust“ als Mythos des Sexuellen, tradiert und präsent „in den Erscheinungen“. Den überkommenen Wahrnehmungs- und Darstellungsstereotypen gelten die Mühen der Dekonstruktion. Sie will, was als „Begehren“ und „Verlangen“ die Weihen einer existentiellen Suche empfangen hat und als „Lust“ und „Geilheit“ rauschhafte Vitalität in unmittelbarer Körperlichkeit verspricht, als Phantasma überführen.

Jelineks Sprache führt vor, daß alles, jede Geste, jede Objektkonstellation sexualisierbar und daß das Sexuelle seinerseits Ausdruck der Macht, Ohnmacht, Lust und Unlust ist. Dabei rücken vor allem jene Spielarten des Sexuellen in den Blick, in denen das Vermittelte und die Simulation die vorgebliche Ursprünglichkeit des Triebaktes ersetzen: Pornographie statt Sexualität, Animation statt Lust, Lektüre statt Koitus. In der permanenten Anwesenheit des Sexus nimmt das Schlüpfrige, Obszöne und Vulgäre den Platz des erotisch Verklärten und sakral Überhöhten ein. Wenn Verse aus Hölderlins Hymnen so in den Roman eingefügt und mit Bildkonventionen und Satzrhythmen der pornographischen Stimulation gleichgeschaltet werden, daß sie sich als sexuell motiviert und Sexuelles motivierend darbieten, wird das Hymnisch-Ätherische derart mit Körperrealität und Unterleibsaktivität aufgeladen, daß das dichterische Werk weit über die zitierten Einzelstellen hinaus kontaminiert bleibt, was zur nachhaltigen Verstimmung des gebildeten Lesers beiträgt. Denn entmystifiziert wird neben der Idee der „Lust“ eben auch das Konzept ihrer Sublimierung, jene Leistung, ohne die Textproduktion und Lektüre nicht möglich wären und die der Roman auf eine Stufe stellt mit der vorgeblich durch sie überwundenen niederen Triebhaftigkeit des Sexus. Kurz: (Hölderlin) lesen ist nicht besser als Pornos sehen.

„Lust“ ist ein einziger Angriff auf die Person, deren Status aufgehoben ist, wo Körper einander und sich selbst nur noch als Objekte, in objektivierender Veräußerung erfahrbar sind, ohne jemals zu sich selbst zu kommen, denn „die Menschen fliehen vor ihrer Leere ausgerechnet ineinander, wo immer schon einer ist“. Das Eindringen in den anderen Körper als Flucht vor den Abgründen der Langeweile, Sex als ebenso routinierter wie verzweifelter Versuch, etwas zu empfinden, was das Individuum, und sei es im Selbstverlust, seiner Existenz versichert, diese alter- und klassenübergreifende Fixierung auf körperliches Schmerz-Lust-Erleben ist das Motiv, das die fiktionalen Kurzbiographien in Bergs Romanen umkreisen. Und während „Lust“ der erzählerische Anspruch innewohnt, die Geschichte des Geschlechterverhältnisses polemisch und letztgültig zu dokumentieren, indem der Stereotyp einer Story als ihr Archetyp behauptet wird, suchen die Romane von Berg im Patch-work der pseudodokumentarischen Einzelportraits das Panorama menschlicher Lüste und Sehnsüchte. Doch gerade im Rund- und Überblick reduzieren sich die Motive und Ziele menschlichen Handelns auf die Kernthemen: Schmerz - Kälte - Fühllosigkeit - Langeweile und Warten auf Erlösung im Tod. Der Titel „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997) ist wörtlich zu verstehen. „Ein paar Leute“, das sind Vera, ihre magersüchtige Tochter Nora und ihre Freundin Bettina, die alte Ruth und Karl, Veras Mann Helge, Barpianist und Gigolo, Veras Liebhaber, der erfolglose Rockmusiker Pit, der mit Bettina einen one-night-stand hatte, von dem sie sich den Beginn einer Beziehung erhoffte, der Fotograf Tom, vormals eine Bettbekanntschaft Bettinas, die nach ihrem Mißerfolg bei Pit an das frühere Verhältnis anzuknüpfen sucht, doch da hat sich Tom schon mit der von zuhause weggelaufenen Nora zusammengetan, die zuvor eine sado-masochistische Kurzbeziehung mit dem Grufti Thomas unterhielt, bis sie ihn aus Widerwillen und Neugier zu Tode quälte. Aus Eifersucht auf Bettina zündet Nora das Haus an, Bettina und Tom kommen auf dem Weg zu ihr bei einem Verkehrsunfall um, Helge, der spät seine homoerotische Neigung entdeckt, wird von seinem Liebhaber erschlagen, Pit, dessen Liebesflucht mit Vera nach Amerika scheitert und der dort allein zurückbleibt, wird von einer drogensüchtigen Massenmörderin skalpiert, und auch das Glück von Ruth und dem armamputierten Karl, die im Altersheim zueinander finden, bleibt kurz; Ruths Körper atme das Alter, meint Karl und erinnere ihn das seine; als ihn ein obdachloser Teenager anspricht, wähnt er sich von dem jungen Mädchen begehrt; die Kränkung, auf eine Prostituierte hereingefallen zu sein, läßt ihn seinerseits Ruth kränken, die sich rächt, indem sie ihn erschlägt und sich, wieder und endgültig allein, selbst vergiftet.

Das Glück, das sie alle suchen, trägt den Namen „Liebe“ und verspricht Erlösung vom Alleinsein und das Herausfallen aus der Erstarrung und Anästhesie des Nicht-Wahrgenommen-Seins. Sexualität fungiert als Medium der Kontaktaufnahme zum anderen wie auch zum eigenen Körper. Sie führt mittel- oder unmittelbar zum Tod, eine traditionsreiche Verquickung, die „Sex II“ als Unio mystica von Eros und Thanatos in „der Krankheit“, Aids, beschwört. „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ variiert das episodisch zirkuläre Muster von Schnitzlers „Reigen“. Kurzfristig werden die Personen zu Paaren, bei denen Zuneigung und Abhängigkeit ungleich verteilt sind; sie bleiben aus Gewohnheit, mangels Alternative oder aus Angst vor dem Alleinsein zusammen, sind aber eigentlich in sich gefangene Einzelwesen, die sich für nichts zu interessieren vermögen und, so Bettina, „wie alle, die nicht zur intellektuellen Ekstase taugen. Renne ich der Ekstase der Liebe hinterher“. Die Geschichten um seelisch verwahrloste Wohlstandsgeschöpfe, magersüchtige Halbwüchsige, desillusionierte Barpianisten, einen glatzköpfigen Photographen, der „versucht, auszusehen, als wäre er ein echter Typ“, eitle Rockmusiker und Journalistinnen mit dem bösen Blick illustrieren das Motiv der Sehnsucht nach dem „eigenen Menschen“, den man „ganz für mich allein“ hätte. Deren Erfüllung scheitert an der Unmöglichkeit, einander zu begegnen, wie an der Flüchtigkeit des Glücks, das es, wenn überhaupt, nur außerhalb der Zeit und jenseits der Sprache gibt – mit den Körpern. Diese aber erleben es weniger als sexuelle Ekstase oder erotische Verzückung denn als Geborgenheit in quasi geschwisterlicher Vertrautheit, heiter und erlöst. Dem Traum von der bedingungslosen und harmonischen Liebe hängen die Frauen mehr an als ihre Liebhaber. Waidwunde Frauenseele zeigt die erfolgreiche Karrierefrau Bettina ebenso wie die verstörte Nora, für die erfahrene wie für erstmals Liebende ist Sexualität, ganz traditionell, Mittel, den Mann emotional an sich zu binden, um Nähe, Wärme und Geborgenheit zu finden.

Die Männer bleiben, selbst in der introspektiven Rollenprosa, letztlich Fremde, egozentrisch dem Beruf und ihrer sozialen Stellung verpflichtet und versponnen in die je eigenen Phantasmen vom ganz anderen Leben, vom Aussteigen, von Amerika, Italien oder der Wüste. Daß sie sich an eine andere Person attachiert haben, spüren sie spät und in der Regel mit Unbehagen; es verwandelt sich erst in das Bewußtsein von Stärke und Verantwortung, wenn Lieben und Begehren auseinander treten dürfen, wenn Tom mit Bettina schläft, weil er weiß, daß er Nora „irgendwie liebt und ihr treu“ ist, dann kann er sicher sein, „daß es gar nichts bedeutet, mit Bettina zu schlafen. Das ist nur so wie massiert werden.“

Bergs erster Roman ist ein maliziöser Generationenroman, der Gemeinschaftsidentität stiftet und eben jene Lifestyle-Gesellschaft als Leserkreis anvisiert, die er mit gnadenlosem Blick seziert: „Fernsehleute, Zeitungsleute, PR-Leute und viele aus der Musikbranche, alle Gehälter zusammen könnten Schwarzafrika retten. Die Langeweile zusammen könnte, in Wasser umgewandelt, die Erde überfluten.“ „Sex II“ (1998) bewegt sich aus diesem vertrauten Ambiente weg, in die Tiefen der Kanalisation, die schäbigen Hinterzimmmer der Kinderschänder, die Kühlhallen der Leichenschauhäuser, in Gefängniszellen, wo ein Sodomit, erfreut über die Abwechslung, sein Kaninchen gegen einen türkischen Reiseführer austauscht, den die Eintönigkeit seines Berufs und die aggressive Ignoranz seiner Kunden zum Mörder an deutschen Touristen hatte werden lassen. Die Rollenprosa in „Ein paar Leute ...“ klingt bereits recht eintönig, doch das relativ homogene Milieu, in dem alle Figuren sich bewegen, macht die geringe Bandbreite des Sounds halbwegs plausibel. In „Sex II“ nutzt die Autorin nun das Konstrukt einer allwissenden Erzählerin, selbst Opfer ihrer narrativen Omnipotenz, seit sie eines nachts auf unerklärliche Weise gezwungen ist, durch Wände, in die Dunkelkammern der Köpfe und die Abgründe der Seelen zu sehen. Ihr Blick kann vor nichts als der Liebe, als sie ihr denn selbst begegnet, halt machen. Vor und nach dem Liebesfall muß die Erzählerin in Worte fassen, was den gewalttätigen Figuren wegen ihrer Sprachohnmacht nicht möglich ist. Der Roman dokumentiert die Stationen ihrer Geisterbahnfahrt durch die Stadt als Feldforschung in Sachen Perversion.

Im Stil einer abgeklärten Sozialreportage werden monadische Einzelwesen vorgeführt, die jeder Versuch, die Außenwelt durch das ihnen einzig mögliche Ventil einer triebbesetzten Handlung zu erreichen, auf sich selbst zurückwirft. Vergewaltigung und Onanie sind emotionaler Ausdruck dieser Mischung aus Einsamkeit, Autonomie und Triebzwang. Die Vergewaltiger sind ausnahmslos Männer, Triebtäter, Pornodarsteller, die ihre Partnerinnen mit Handstaubsaugern und Bohrmaschinen penetrieren, Talkmaster, die Feuerlöscher in die Vagina von Hausfrauen rammen, bis diese auseinanderreißen und verrecken. Freude an der Brutalität, Voyeurismus, Sensations- und Geldgier stimulieren und ersetzen den eigentlichen Sexualakt. Die Frauen fallen ihrer Naivität, ihrem Konsumdenken, ihrer Publikumsgeilheit zum Opfer – den modernen Varianten einer Gefallsucht, die von der psychischen zur sozioökonomischen Größe geworden ist. Um ihretwillen werden Frauen zu Täterinnen an ihren Kindern, die sie wegen mangelnder Attraktivität im Keller einkerkern oder wegen geforderter Körperzuwendung mit dem Kopfkissen ersticken. Nicht Geschlechtsverkehr verbindet Männer und Frauen in „Sex II“, gemeinsam ist ihnen nur Onanie. Ähnlich wie in Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ ist sexuelle Selbststimulation bei Berg einsinnige Metapher aussichtsloser Selbstbezüglichkeit, ohne Aussicht auf Befriedigung. Als Rubrum sorgt Onanie in den Kurzportraits für die Klassifizierung der Charaktere: „Onaniert nie/ selten /oft“, „onaniert zu Kriegsberichtfotos, zu Tierpornos, zu Richard Gere-Fotos“ ersetzt die Beschreibung von Lebenswirklichkeit und buchstabiert zusammen mit den Angaben zu Lebensalter, Beruf und der jeweiligen psychischen Deformation jenen kulturellen Code, dessen Lektüre an die Stelle des Romans als episch breiten Erzähltext getreten ist. Die Ästhetik des Häßlichen und die Poetik des Ekels suchen dabei von Episode zu Episode nach Überbietung. Sex ist allen, Jungen, Alten, Attraktiven, Todkranken, Arrivierten und Losern die letzte Möglichkeit, der Isolierung zu entkommen; doch selbst der von Gewalt, Ekel, Demütigung und Tortur stimulierte Orgasmus bestätigt nur den Zustand, aus dem er heraus helfen sollte. Die Perversion der Schamverletzung scheitert, wenn die verwöhnte Studentin („Hobby: Schöne Kleider, einkaufen“) den ultimativen Kick sucht, indem sie sich zur Domina eines nackten Lecksklaven erhebt, der die Exkremente seiner Herrin essen soll, und der Akt der Entleerung unter den Augen des gelangweilten Jungen mißlingt. Der Überdruß an sich selbst, der Normalität und der Normverletzung atmet eine Trostlosigkeit, die sich selbst zu entkommen sucht, indem das noch extremere Bild, die noch weniger vorstellbare Geschmacklosigkeit aufgesucht werden. Während Jelineks Roman die trostlose Monotonie dessen, was er erzählt, in seiner Machart reproduziert und die Ähnlichkeit von Sexkonsum und Textkonsum vorführt, sucht „Sex II“ durch phantastische, halbwegs positive Gegenwelten, die „Geschichten gegen den Wahnsinn“, jenes Korrektiv zu schaffen, dessen Einsatz nötig ist, um die Grausamkeit der realen Welt immer von neuem zu empfinden. In diesen Geschichten und in den surrealen Miniaturen, die im Zerrspiegel die Absurdität kleinbürgerlicher Einrichtungsaccessoires wie der Fototapete zu Bewußtsein bringen, liegt die Stärke der Autorin. Erst die Haßtiraden auf die Normalität, mit denen Berg sich schon im „Zeit-Magazin“ einen Namen gemacht hat, beleben das dumpf-traurige Horrorkabinett menschlicher Monstrosität, das uns schockieren soll – allein, man spürt die Absicht ...

Julia Francks Roman „Liebediener“ (1999) integriert Sexualitätserfahrung als paradigmatische Körpererfahrung einer jungen Frau in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang eines Liebes- und Kriminalromans. Beyla, in einer Berliner Kellerwohnung lebende Clownin Mitte zwanzig, erzählt aus der Retrospektive ihre Liebesgeschichte mit dem attraktiven Pianisten Albert. Sie beginnt, als Beyla Zeugin eines Unfalls wird, bei dem Charlotte, eine im selben Haus lebende Bekannte, ums Leben kommt und an dem der Fahrer eines roten Autos nicht unschuldig ist. Gedrängt durch Charlottes alte Tante, übernimmt Beyla die Wohnung und bald auch das Leben der Toten, einschließlich deren Beziehung zum ein Stockwerk höher wohnenden Albert. Als sie glaubt, in Albert den Fahrer des roten Autos zu erkennen, geht sie diesem Verdacht nicht nach, aus Angst, das Glück des Verliebtseins zu gefährden. Die Erkenntnis, daß Albert als Callboy von Charlotte ausgehalten wurde, läßt Beyla das Verhältnis beenden und Alberts Bemühungen, zuvor ersehnt und vermißt, zurückweisen. In einem Zustand zwischen Realität und Traum imaginiert sie Alberts Tod, wird allerdings aus dieser phantastischen Selbstbefreiung herausgerissen, als Charlottes Tante andeutet, Albert für Beyla engagiert zu haben.

Die Story lebt vom kriminalistischen Spannungsbogen des analytisch Erzählten, ihr Reiz besteht darin, daß die Ich-Erzählerin sich selbst spätestens im nachhinein beim Fühlen beobachtet und beim Beobachten der eigenen Empfindungen beschreibt. Die mehrfache Brechung wird – zuweilen etwas plakativ – vorgeführt und signalisiert vor allem eines: Nicht die Erzählerin ist der sich verzehrende „Liebediener“, vielmehr dient die Liebe ihr, Zeit und Phantasie auszufüllen. Und Albert, der professionelle ‘Liebediener’, dem Beyla sich verfallen glaubt, ist nicht mehr als ein Gefühlsvorwand, der Auslöser einer hormonell-sentimentalen Projektion. Die Umwertung des Mannes vom Subjekt zum Objekt des Begehrens, vom selbstbestimmten Liebhaber zum Callboy, schlägt sich auch in den „erotischen Geschichten“ nieder, mit denen Albert die Lust Beylas weckt. Die sexuellen Phantasien erweisen sich im nachhinein als bezahlte von ihm erbrachte Liebesdienste. Sie variieren das Motiv des Wunschmannes, des sexuellen Märchenprinzen, und sind Ausdruck der weiblichen Sehnsucht nach dem zärtlichen, rücksichtsvollen oder dem hemmungslos leidenschaftlichen Liebhaber, der die Begierde weckt, wo sie im Leben eines verkrüppelten Mädchens, einer Todkranken oder einer überlasteten alleinerziehenden Mutter keinen Ort findet. Auch wenn der Mann hier als Projektionsfläche und Erfüllungsgehilfe weiblicher Körpersehnsucht intrumentalisiert und auf ein Lustobjekt reduziert scheint, ist das implizierte Geschlechtermodell nicht emanzipatorisch. Vielmehr bleibt das Begehren des Mannes, dessen Käuflichkeit behauptet wird, der Maßstab weiblicher Selbstwahrnehmung und die Bedingung der Aussöhnung mit dem eigenen Körper. Die Lust der Frau, auch an sich, hat die (simulierte) Lust des Mannes an ihr und auf sie zur notwendigen Voraussetzung.

Die Darstellung von Sexualität aus der Perspektive der Heldin ist traditionell. Die modische Ruppigkeit des Jargons – „ficken“ – bleibt verbale Mutprobe, Sex heißt im Liebesfall „sich lieben“ und wird vorgestellt als weibliches Verlangen nach dem Bedeckt-Werden, als Warten darauf, daß der Mann sich nähert, um die Kleider beiseite zu ziehen, und „alles unter sich zu legen“. Wenn die Heldin sich selbst imaginiert, die „Haut bloß, die Brüste nackt“, und die Vorstellung vom eigenen Körper (freilich aus der Perspektive des Mannes) zur sexuellen Stimulation einsetzt, ist sie zwar Herrin ihrer Phantasien, nicht aber Subjekt ihrer Lust. Erst die doppelte Spiegelung, das imaginäre Hineinversetzen in die Perspektive des Mannes und der eigene Objektstatus, der sich daraus ableitet, lassen sie über die Projektion des Begehrtseins zum Begehren gelangen. Das ist nicht neu und ästhetisch allenfalls zu rechtfertigen, wenn man unterstellt, daß in eroticis dieselben Stereotypen des tradierten Geschlechterdiskurses aus Beyla sprechen, die sie – auf die Frage, was sie eigentlich wolle – antworten lassen: „Ein Kind“ – eine ihr unerklärliche Antwort, die „schneller war als ich und deshalb ohne meine Erlaubnis in die Welt gelangt war“. Dies mag man als ironischen Reflex auf die Stimme der Natur und deren Renaissance im Weiblichkeitsdiskurs ‘moderner’ Frauenzeitschriften deuten. Gesteht man dem Roman aber als Ehrenrettung Ironie zu, so spricht man ihm zugleich seine von der Kritik hervorgehobene Qualität, die Sinnlichkeit des neuen Erzählens, ab. Sinnlichkeit, nicht nur die des Sexus, kennt viele Schattierungen, eine ironische freilich gehört nicht dazu. Wer den gemeinsamen Verzehr von Hühnerherzen als erotisches Mahl und als Akt magischer Inkorporation zelebriert, zeigt ein redliches Bemühen um anschauliches Erzählen, mehr aber auch nicht.

Die Anstrengungen nur behaupteter Sinnlichkeit werden deutlich im Vergleich mit der beiläufigen Welthaltigkeit und Dingpräsenz in den Romanen von Marlene Streeruwitz. „Verführungen. 3. Folge Frauenjahre.“ (1996), „Lisa’s Liebe.“ (1997) und „Nachwelt.“ (1999) haben die Lebenswelt einer Büroangestellten, einer Lehrerin und einer Dramaturgin zum Gegenstand. Der Versuch, den Alltag von berufstätigen alleinerziehenden Frauen mittleren Alters zu poetisieren, funktioniert nicht – wie etwa bei Brigitte Kronauer – mit Rückgriff auf die Poetik der Romantik, die das Märchenhaft und Fantastische im Vertrauten auszumachen sucht, sondern indem eine ebenso genaue wie lakonische Beschreibung von Handgriffen, habituellen Verrichtungen und Gefühlsregungen deren Recht als literarisches Sujet behauptet. Die Prosa des Unspektakulären setzt gegen die romaneske Überhöhung das Verfahren der Enthierarchisierung. Kein Wirklichkeitspartikel wird einem anderen gegenüber sprachlich, strukturell, kompositionell privilegiert, das Geschirrspülen steht neben dem Einschlafen, Denken, Küssen, Schminken oder Lesen. Die Abstraktion der Beschäftigungen zu Handlungskategorien wie „Arbeiten“ oder „Lieben“ fehlt, an ihre Stelle tritt die Beschreibung der Details, die Evokation der Gegenstände, Körperfunktionen, Gedankensplitter. Biographie ist nicht mehr ein Konstrukt aus abstrakt lebensgeschichtlichen Faktoren wie Bildung, Karriere, Beziehung, sondern die Addition von Konkreta, die nicht auf Sinnzuschreibung verzichtet, sondern den Sinn in eben diesem alltäglich Konkreten behauptet, im „Tun, das nur Sinn hatte, während es getan wird, und danach nicht mehr verständlich war“.

Das Zursprachebringen von Sexualität als integralem, wenn auch häufig eher frustrierendem als befriedigendem, Bestandteil eines Frauenlebens ist Teil von Streeruwitz’ Programm. In „Verführungen.“ versucht die in Scheidung lebende Helene, die sich und ihre beiden Töchter durch einen Bürojob über Wasser hält, in gelegentlichen Treffen mit einem schwedischen Musiker kleine Enklaven eines erotischen Glücks zu bewahren und scheitert daran, daß der ‘andere Zustand’ und das Recht des Alltäglichen nicht vermittelbar sind. In „Nachwelt.“ rekapituliert die Wiener Dramaturgin Margarethe, die in Los Angeles für eine Biographie der Bildhauerin Anna Mahler, Tochter des Komponisten und seiner Frau Alma, recherchiert, parallel zur Rekonstruktion des fremden Frauenlebens das eigene. Die späte Absage des Geliebten, der Margarethe allein nach Amerika reisen läßt, weil er sich um seine kranke Stieftochter kümmert, wird zur schmerzlichen Bestätigung des Nicht-Geliebt-Seins. Die Kränkung der Zurücksetzung, Vertrauensbruch und die letztliche Unzuverlässigkeit des Partners überschatten die Liebesverhältnisse und bestimmen die Selbstwahrnehmung der Frauen. Die Obsession des Wartens auf den fernen oder distanzierten Geliebten stellt Streeruwitz als körperliche Realität und als Muster ambivalenten Verhaltens dar, in dem Anspannung, Kontrollverlust und Selbstmitleid mit Eifersucht, Aggression und dem Haß der Enttäuschung abwechseln. Das Herausgehobenwerden aus dem Zustand schmerzhaften Nicht-Lebens verspricht Frauen jene Erlösung, nach der im Erziehungsroman die traditionell männlichen Helden auf der Suche sind. Der Erlösungsfrage als Leitfrage der westlichen Kultur und dem ihr inhärenten Mythos von der Frau als Erlöserin antwortet die weibliche Sehnsucht nach Erlösung durch den Mann. Die Biographien der Alma und der Anna Mahler rezitieren die lebensgeschichtlichen Wege zur Erlösung, die das 20. Jahrhundert für Frauen bereitstellt. Das selbstzerstörerische Modell der Alma Mahler-Werfel, der Irrglaube, sich über berühmten Männer erlösen zu können, wird in seinem Scheitern ebenso deutlich wie die romantische Illusion ihrer Tochter Anna, als Künstlerin in der Lage zu sein, sich selbst zu erlösen.

Die zeitgenössischen Heldinnen der Streeruwitz erwarten von Männern immer seltener sozialen und ökonomischen Schutz; das Versorgungsmodell Ehe ist ihnen, den gewaltsam zu finanzieller Eigenständigkeit Gezwungenen, keine mögliche Lebensform. Aus Erfahrung lernen sie, daß der Mann Freund nur sein kann, wo weder Bindung noch Begehren das Gleichgewicht der Kräfte stört. In „Verführungen.“ sucht Helene Erlösung noch im, genauer: unter dem Körper des Geliebten, der die Welt mit ihren Anforderungen für Minuten verschwinden läßt. In der Separierung der sich paarenden Körper von der Welt und ihrer momenthaften Vereinigung zum symbiotischen Einen lebt ein Rest alter Ganz- und Einheitssehnsucht fort. Die ältere Margarethe hat selbst von dieser Illusion Abschied genommen, Erlösung ist nicht länger an Mann, Leistung oder Werk gebunden, nicht metaphysisch und nicht sexuell. Lust als Akt der Erlösung ist nicht Erlösung im Akt. Was in Liebesbeziehungen gesucht und von Sexualität nicht eingelöst wird, Lust als Erlebnis vitalen Selbstgenusses in der Selbstvergessenheit, gewährt nicht Eros, sondern die Hingabe an den Moment des Bewegtwerdens, die Mischung aus Auslieferung und Ichmächtigkeit wie in der nächtlichen Autofahrt, allein und bei Musik. Autofahren verschafft Streeruwitz’ Heldinnen den Genuß des eigenen Körpers als Körperlosigkeit in einem Akt, der nicht Unterwerfung, sondern befreienden Rausch und höchste Bewußtheit zugleich bedeutet. Die Anverwandlung des Road-Romans, der, mit dem Amerika-Mythos verquickt, eine Bastion männlicher Selbsterfahrung darstellt, als Modell weiblichen Glückserlebens und als Befreiung aus jenen Traditionen, die der Road-Mythos der Virilität auch verkörpert, ist eine genuine Leistung von „Nachwelt“. Das Auto wird als Befreiungsvehikel inszeniert; es erlöst aus der Unfreiheit und dem Ich-Verlust des Wartens, dessen Zwänge das Telefon verkörpert. Telefon und Anrufbeantworter gelten als Agenten der Verstrickung, Bindung und räumlichen Fixierung und verweisen auf ein Identitäts- und Beziehungsmodell, das weibliche Selbstwahrnehmung mit Defiziterfahrung gleichsetzt.

Die alte Last Europas, sich nur spüren zu können im Schmerz, die die Selbstdarstellung von Frauen seit den siebziger Jahren bestimmt, hinterläßt ihre Spur in der Körperbefindlichkeitssprache der Streeruwitz. Im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen ist die Heldin in „Nachwelt.“ jedoch in der Lage, diese Disposition zu reflektieren; und die Erzählerin versteht es, hypochondrische Körperbeobachtung in den Beschreibungsrealismus einer sinnlichen Welterfahrung zu integrieren. In der Wachheit der Sinne, der Lust der Wahrnehmung und dem absichtslosen Aufgehen im Augenblick kündigt sich ein Lebensmodus an, der es Frauen erlaubt, auf die Erfahrung ihres Körpers nicht zu verzichten und dennoch einen Platz jenseits schmerz- oder lustfixierter Körperlichkeit zu finden. Sprachlicher Ausdruck dieser neuen Sicht ist der verweigerte „vollständige Satz“, der als Versuch überzeugt, die domestizierende Ordnung der Grammatik, die in Subjekte und Objekte der Handlung hierarchisiert, zu unterlaufen oder wenigstens als eine Verstellung von Erfahrung deutlich werden zu lassen.

Die Eingangsfrage, für wen die Lust größer sei, lassen die Autorinnen unbeantwortet. Die Darstellung des weiblichen Orgasmus bleibt Leerstelle und auch Physiologie und Psychologie weiblichen Begehrens kommen wenig zur Sprache. Erotik hat ihren Platz in Phantasien, körperliche Lust verdankt sich der Selbstbefriedigung, Sexualität von Paaren ist wenig spektakulär. Wo sie einen zentralen Platz einnimmt, ist sie Symptom einer tiefen Ich-Störung oder Akt der Aggression. Wo Leben für Wirklichkeit offen ist, ist Eros ein seltener Gast oder, wie es, wenig belletristisch, bei Streeruwitz heißt: „Sie griff sich zwischen die Beine. [...] Sie quetschte ihre Brustwarzen. Bis es schmerzte. Dann ließ sie es bleiben.“

Der Aufsatz erschien zuerst in: Wieland und Winfried Freund (Hrsg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München 2001 (UTB-Fink). S. 53-76.

 

Ins Netz gestellt am 8. Oktober 2004

 



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